Die Östliche Partnerschaft und die Ukraine: eine Vernunftehe
An diesem Mittwoch findet erstmals seit vier Jahren ein Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft statt. Aus diesem Anlass beleuchtet Iryna Solonenko, Senior Fellow im Zentrum Liberale Moderne, die Bedeutung des Projekts speziell aus Sicht der Ukraine.
Was die Östliche Partnerschaft ist und was sie nicht ist
Als die Östliche Partnerschaft 2009 ins Leben gerufen wurde, reagierte die Ukraine mit wenig Enthusiasmus. Die Initiative schien keinen zusätzlichen Nutzen für die im Vergleich zu anderen ÖP-Mitgliedern bereits fortgeschrittene bilaterale Agenda mit der EU. Kyjiw handelte bereits das EU-Assoziierungsabkommen (AA) aus, einschließlich der Vertieften und Umfassenden Freihandelszone (DCFTA), und die Aussicht auf visafreies Reisen in den Schengen-Raum lag ebenfalls auf dem Tisch, als das mit der neu ins Leben gerufenen Östliche Partnerschaft auf sechs östliche Nachbarländer ausgeweitet wurde.
Darüber hinaus sah die Östliche Partnerschaft keine Antwort auf die strategische Frage einer EU-Mitgliedschaft vor, welche die Ukraine offiziell seit 1998 (als die nationale Strategie zur EU-Integration verabschiedet wurde) anstrebt. War die Östliche Partnerschaft ein Ersatz für eine mögliche EU-Mitgliedschaft oder ein Zwischenschritt auf dem Weg dorthin? Dies war und bleibt offen für Interpretationen. Dieser Mangel an strategischer Vision hinter der Östlichen Partnerschaft schwächt wohl die „transformative Kraft“ der EU gegenüber den osteuropäischen Nachbarn, die sie bei der „Big-Bang“-Erweiterung von 2004 unter Beweis stellte, bei der zehn mittel- und osteuropäische Länder beitraten, gefolgt 2007 von Bulgarien und Rumänien.
Daraus ergibt sich eine sichtbare Diskrepanz bzw. starke Asymmetrie zwischen dem (schwachen) Integrationsangebot und dem Umfang der „Hausaufgaben“ der ÖP-Länder, die das gemeinsame EU-Recht in ihre nationale Gesetzgebung übernehmen müssen, was den Anforderungen eines Beitrittslandes nahekommt. Diese Situation ist für die Ukraine wenig motivierend, wenn nicht gar demotivierend.
Positiv ist, dass im Rahmen der umfassenderen Europäischen Nachbarschaftspolitik, die 16 östliche und südliche EU-Nachbarn umfasst, eine eigene Initiative für die östlichen Nachbarn gestartet wurde. Schließlich haben die postsowjetischen Länder Osteuropas nicht viel mit den Ländern des südlichen Mittelmeerraums gemeinsam. Da die Initiative als Reaktion auf den russisch-georgischen Krieg im Jahr 2008 ins Leben gerufen wurde, könnte man dieses Projekt zudem als geopolitisch bedeutsam ansehen, da die EU bereit war, mehr Verantwortung für ihre östlichen Nachbarn zu übernehmen.
Wenn man auf die vergangenen zwölf Jahre zurückblickt, haben die Dimension der Östlichen Partnerschaft zwischen den Menschen, die die breitere Gesellschaft über die Behördenebene hinaus einbezieht, und die finanzielle Unterstützung einen klaren Mehrwert. Das Forum der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft, die größte zivilgesellschaftliche Dachorganisation der EU und der Region, der über 1000 SCO angehören, hat seine Arbeit weit über die regelmäßigen Sitzungen der Generalversammlung hinaus ausgeweitet und ist zu einem wichtigen Instrument geworden, um die Stimme der Zivilgesellschaft gegenüber den EU-Institutionen zu stärken. Darüber hinaus haben zahlreiche Einzelpersonen und Organisationen aus der Region von den verschiedenen Instrumenten des zivilgesellschaftlichen, wissenschaftlichen, akademischen, jugendlichen und beruflichen Austauschs, der Mobilität und der Zusammenarbeit profitiert. Nach der Untersuchung der Programme und ihrer Begünstigten lassen sich viele Erfolgsgeschichten auf ganz konkreter Ebene erzählen.
Die finanzielle Unterstützung, die zunächst im Rahmen des Europäischen Nachbarschaftsinstruments (ENI) und jetzt im Rahmen des globalen Nachbarschafts‑, Entwicklungs- und internationalen Kooperationsinstruments (NDICI) geleistet wurde, hat ebenfalls einen wichtigen Mehrwert erbracht. Auch im Hinblick auf die COVID-Pandemie, die Anfang 2020 ausbrach, hat die EU schnell Hilfe angeboten. Das COVID-19 EaP-Impfpaket wurde im August dieses Jahres von ursprünglich 30 Millionen Euro auf 75 Millionen Euro erhöht. Auch die Zusage der EU, einen Wirtschafts- und Investitionsplan in Höhe von 2,3 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen bereitzustellen, könnte einen wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum der östlichen Partnerländer leisten. Die Ziele für 2025 sind sehr ehrgeizig und reichen von der Unterstützung von KMU über individuelle Mobilitätsmöglichkeiten bis hin zu gesundheitlicher Resilienz und digitaler Transformation.
Die Anliegen und Prioritäten der Ukraine
Ohne die Bedeutung der verschiedenen Unterstützungsmechanismen und der Hilfe, die die EU im Rahmen der Östlichen Partnerschaft leistet, zu unterschätzen, scheinen die wichtigsten Anliegen und Ziele der Ukraine besser durch bilaterale Beziehungen mit der EU, durch die Entwicklung multilateraler Formate wie das Assoziierte Trio und durch bilaterale Diplomatie gegenüber einzelnen EU-Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Förderung der politischen Unterstützung innerhalb der EU für eine eventuelle Mitgliedschaft der Ukraine angegangen werden zu können.
Erstens strebt die Ukraine eine tiefere Integration mit der EU an. Der Weg zwischen dem derzeitigen Integrationsstand und einer eventuellen EU-Mitgliedschaft ist lang, und man kann sich Zwischenschritte auf dem Weg dahin vorstellen. Auch wenn eine Mitgliedschaft nicht zur Debatte steht, entspricht die Philosophie des derzeitigen Rahmens der politischen Assoziierung und der wirtschaftlichen Integration der Idee eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten, in dem den Partnern der Östlichen Partnerschaft einige Elemente dessen angeboten werden, was die vollwertigen EU-Mitgliedstaaten genießen.
Eine Linie der Bemühungen besteht darin, das Potenzial des Assoziierungsabkommens voll auszuschöpfen und das Abkommen zu modernisieren. Was den ersten Aspekt betrifft, so hat ein Konsortium ukrainischer Denkfabriken 15 Bereiche ermittelt, in denen die Ukraine bestimmte Verpflichtungen erfüllen muss, um den Weg für die EU-Beschlüsse über eine tiefere Integration zu ebnen. Eine Analyse ergab, dass nur in zwei Bereichen, nämlich bei der Zertifizierung von Agrarerzeugnissen und auf dem Erdgasmarkt, greifbare Fortschritte erzielt worden sind. Es gibt also noch viel Potenzial. Was die Modernisierung des Assoziierungsabkommens anbelangt, so haben die Ukraine und die EU 2018 mit der Aktualisierung der Anhänge des Abkommens begonnen. 2021 wurde die umfassende Übersicht gemäß Art. 481 auf den Weg gebracht. Damit soll den sich weiterentwickelnden EU-Rechtsvorschriften und dem Wunsch der Ukraine nach einer tieferen Integration Rechnung getragen werden.
Bei der zweiten Linie geht es darum, neue Formen der Integration zu fordern, die über den derzeitigen politischen und rechtlichen Rahmen hinausgehen. So muss die Ukraine zwar den EU-Besitzstand umsetzen, ist aber nicht in den Institutionen vertreten, in denen die entsprechenden Diskussionen und Entscheidungen getroffen werden. Die Option, zumindest an den Konsultationen in bestimmten Politikbereichen teilzunehmen, könnte attraktiv sein. Auch der Beitritt zu begrenzten sektoralen „Unionen“ könnte eine Option sein. Wenn also der politische Wille vorhanden ist, können interessante und attraktive Lösungen gefunden werden.
Zweitens ist die Ukraine an einer stärkeren Unterstützung ihrer Souveränität und territorialen Integrität durch die EU interessiert, d. h. an der Berücksichtigung der Sicherheitsbelange der Ukraine. Als die Östliche Partnerschaft 2009 ins Leben gerufen wurde, konnte sich niemand vorstellen, dass Russland so weit gehen würde, die nach dem Ende des Kalten Krieges geschaffene europäische Sicherheitsordnung in Frage zu stellen und sogar die Grenzen der Staaten in Europa mit Gewalt neu zu ziehen. Heute ist dies eine Realität, die die EU nicht ignorieren kann. Die Östliche Partnerschaft bietet keine Lösungen für dieses Problem, auch wenn sie Anstrengungen vorsieht, die Partnerstaaten widerstandsfähiger gegen hybride Sicherheitsbedrohungen wie Desinformation und Cyberangriffe zu machen.
Die EU verfügt über Instrumente, die über die Östliche Partnerschaft hinausgehen, die es anbietet oder anbieten kann. Zu erwähnen ist hier eine Beratungsmission der Europäischen Union in der Ukraine, die sich mit dem zivilen Sicherheitssektoren befasst. Außerdem findet derzeit in der EU eine von Litauen initiierte Diskussion statt, ob es eine neue militärische GSVP-Mission in der Ukraine geben soll. Auch hat die Ukraine ihr Interesse an einer Zusammenarbeit im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) bekundet, bei der sicherheitsbezogene Projekte mit einzelnen EU-Mitgliedstaaten durchgeführt werden können. Darüber hinaus hat die Ukraine auch mit einzelnen Mitgliedstaaten Vereinbarungen über direkte militärische Unterstützung getroffen, wobei Litauen und Polen in dieser Hinsicht am aktivsten sind.
Drittens ist die Förderung der Rechtsstaatlichkeit und anderer wichtiger Reformen ein zentrales Thema. Trotz fehlenden politischen Willens für wichtige Reformen und starker Akteure, die Reformen blockieren, ist das Streben nach solchen Reformen in der Ukraine tief verwurzelt. Es geht nicht nur um die Zivilgesellschaft, die Reformen fordert, sondern man kann von reformorientierten Enklaven unter den öffentlichen Behörden, einschließlich der Bürokratie, der lokalen Selbstverwaltung, der Wissenschaft usw. sprechen. Es ist weithin anerkannt, dass die Förderung der Rechtsstaatlichkeit die wichtigste Reform für die allgemeine Transformation des Landes und die Anziehung ausländischer Investitionen ist. Dennoch fehlt es der EU an klaren Leitlinien und einem Überwachungssystem zur Förderung rechtsstaatlicher Reformen. Einige wichtige Reformen zur Bekämpfung der Korruption und zur Reform des Justizwesens wurden aufgrund von Auflagen in Verbindung mit der Visaliberalisierung oder finanziellen Auflagen eingeleitet. Die Hebelwirkung bleibt jedoch gering, wenn die Leitlinien zu schwach sind und keine spezifischen und glaubwürdigen Anreize mit den Reformforderungen verknüpft werden. Die von der ukrainischen Zivilgesellschaft vorgeschlagene Vorgehensweise bestünde darin, die Fortschritte bei der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung anhand der EU-Justizanzeiger-Methode und des EU-Berichts zur Rechtsstaatlichkeit zu messen. Die Frage spezifischer Anreize (wie die der Visafreiheit) ist jedoch noch offen.
Neue außenpolitische Prioritäten
Neben den bilateralen Beziehungen zur EU hat die Ukraine vor kurzem damit begonnen, multilaterale Formate und direkte Diplomatie gegenüber einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu erproben. Die bisher bekannteste Initiative ist die des Assoziationstrios. Letzteres wurde im Mai 2021 offiziell ins Leben gerufen, als die Außenminister Georgiens, der Republik Moldau und der Ukraine in Kiew zusammentrafen und die Absichtserklärung unterzeichneten. Zu den Hauptzielen der Initiative gehören die Suche nach Optionen für eine Integration in die EU über das Assoziierungsabkommen/DCFTA hinaus und die Verbesserung der Sicherheitszusammenarbeit mit der EU. Die Initiative wurde weiterentwickelt, als die Staatsoberhäupter der drei Länder im Juli 2021 in Batumi zusammenkamen und eine gemeinsame Erklärung unterzeichneten, in der sie das Streben der drei Länder nach einer EU-Mitgliedschaft betonten. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, war anwesend und begrüßte die Absicht des Trios, die Koordinierung zwischen den drei Ländern und der EU zu fördern. In der gemeinsamen Erklärung nach dem EU-Ukraine-Gipfel im Oktober 2021 wurde „die Initiative der drei assoziierten Partner, die auf eine verstärkte Koordinierung zwischen ihnen und eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den drei assoziierten Partnern und der EU abzielt, zur Kenntnis genommen“. Auch wenn die EU noch zögert, die Initiative zu ergreifen und, was noch wichtiger ist, institutionalisierte Formate der Zusammenarbeit zu schaffen, ist die Idee der multilateralen Zusammenarbeit mit dem Ziel der europäischen Integration nicht neu. Das Visegrad-4-Format und die verschiedenen Formate der Zusammenarbeit zwischen den drei baltischen Staaten, die in den 1990er Jahren ins Leben gerufen wurden, verfolgten genau die Idee, die Anstrengungen zur Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft zu koordinieren. Daher wäre es für die drei Länder wichtig, die Zusammenarbeit zu vertiefen und für die EU, diese zusätzliche Schiene zu etablieren, ohne die Östliche Partnerschaft als Dach zu gefährden.
Kyjiw hat auch seine Diplomatie gegenüber einzelnen EU-Mitgliedstaaten aktiviert, mit dem Ziel, die Unterstützung innerhalb der EU für die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft zu konsolidieren. Inzwischen haben bereits sechs EU-Länder in bilateralen Erklärungen ihre Unterstützung für eine Mitgliedschaft der Ukraine bekräftigt: die drei baltischen Staaten, Polen, die Slowakei und seit kurzem Kroatien.
Hinzu kommt das Lubliner Dreieck, eine Initiative Polens und Litauens zur Förderung der europäischen und euroatlantischen Integration der Ukraine. Eine entsprechende Erklärung der Außenminister der drei Länder wurde im Juli 2020 unterzeichnet. Diese Initiative steht in engem Zusammenhang mit dem kürzlich wiederbelebten außenpolitischen Ziel der Ukraine, sich als mitteleuropäischer Staat zu etablieren. Unter diesem Gesichtspunkt sind in naher Zukunft eine stärkere Stimme und Aktivitäten der Ukraine im Bereich der multilateralen Zusammenarbeit in Mitteleuropa zu erwarten.
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