Kandidatenstatus für die Ukraine
Acht Gründe, warum Deutschland die Entscheidung unterstützen muss, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen. Eine Analyse von Dmytro Shulga
Wir leben in einer für Europa historisch bedeutsamen Zeit, die historische Entscheidungen erfordert. Die großangelegte russische Invasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 markiert das definitive Ende der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg. Wie haben es mit einer historischen Zeitenwende für Deutschland und ganz Europa zu tun.
Am 28. Februar 2022, dem fünften Tag der russischen Invasion, reichte Präsident Wolodymyr Selenskyj den Antrag auf eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine ein und erfüllte damit einen lang gehegten Wunsch der Ukrainer:innen.
Gemäß Artikel 49 des EU-Vertrags kann ein europäischer Staat, der die europäischen Werte[1] achtet, eine Mitgliedschaft in der EU beantragen. Die Mitgliedstaaten der EU müssen hierzu einstimmig Beschlüsse[2] fällen, und zwar nach Anhörung der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.
In der Praxis müssen die Mitgliedstaaten der EU zunächst den Antrag prüfen und dem Land durch einstimmigen Beschluss den Status eines Beitrittskandidaten verleihen. Dann können sie mit dem Land auch Beitrittsverhandlungen eröffnen, die sich auf 35 Kapitel konzentrieren, nämlich auf bestimmte Politikbereiche mit der Übernahme und einer Umsetzung des Rechtsbestands (des „Acquis“) der EU. Sind die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen, muss einstimmig ein Beitrittsvertrag abgeschlossen werden.
Nach der Antragsstellung durch die Ukraine gab das Europäische Parlament bereits am 1. März eine Stellungnahme ab, in der es sich für einen Status der Ukraine als Mitgliedskandidat aussprach. Diese Resolution wurde mit einer überwältigenden Mehrheit von 637 Ja-Stimmen (bei insgesamt 705 Abgeordneten) verabschiedet. Am 7. März forderten die Mitgliedstaaten der EU (der Rat der EU) dann die Europäische Kommission zu einer Stellungnahme auf.
In der Erklärung von Versailles beim informellen EU-Gipfel vom 10. und 11. März 2022 hielten die Staats- und Regierungschef:innen der EU-Staaten fest: „Bis zu der Stellungnahme [der Kommission] werden wir unverzüglich unsere Beziehungen weiter stärken und unsere Partnerschaft vertiefen, um die Ukraine auf ihrem europäischen Weg zu unterstützen. Die Ukraine ist Teil unserer europäischen Familie [Hervorhebung durch d. Verfasser].“
Anschließend folgte die Europäische Kommission der Standardmethodologie zur Ausarbeitung ihrer Stellungnahme und bat die ukrainische Regierung um die notwendigen Informationen, die in einem ausgefüllten Fragebogen vorzulegen sind. Das erfolgte am 9. Mai.
Derzeit bereitet die Europäische Union ihre Stellungnahme zum Antrag der Ukraine vor und legt die Ergebnisse einer Analyse vor, inwieweit das Land die politischen, wirtschaftlichen und sektoralen Mitgliedschaftskriterien erfüllt (Grad der Annäherung an das EU-Acquis).[3] Es wird erwartet, dass die Stellungnahme der Kommission im Juni vorliegen wird und dass sie positiv ausfallen, also für die Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten empfehlen wird.
Anschließend werden die EU-Staaten bei der Tagung des Europäischen Rats am 23. und 24. Juni eine politische Entscheidung treffen müssen. Entweder werden sie der Ukraine den Kandidatenstatus zusprechen (und die Bedingungen für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen formulieren), oder sie werden ihn nicht verleihen und stattdessen etwas Geringeres anbieten (den Status eines „potenziellen Kandidaten“ mit einigen Vorbedingungen zur Erlangung eines tatsächlichen Kandidatenstatus’ oder nur die Formulierung einer „Aussicht auf Mitgliedschaft“). Oder die Entscheidung wird vertagt, wenn kein Konsens erreicht wird.
Acht Gründe, warum Deutschland die Entscheidung unterstützen muss, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen
1. Weil es von einer absoluten Mehrheit der EU-Bürger:innen unterstützt wird, auch in Deutschland.
Nach Beginn der großangelegten russischen Invasion hat sich in der EU die öffentliche Meinung zur Ukraine dramatisch gewandelt. Eine Meinungsumfrage der Jean-Jaures-Stiftung vom März 2022 ergab eine Unterstützung für einen EU-Beitritt der Ukraine von 69 % in Deutschland, 62 % in Frankreich, 71 % in Italien und 91 % in Polen. Der Untersuchung zufolge liegt die Unterstützung für eine ukrainische EU-Mitgliedschaft in Deutschland bei CDU-Anhängern bei 71 % und bei SPD-Anhängern sogar noch höher, nämlich bei 79 %. Sogar in Ostdeutschland, wo der Widerstand gegen eine EU-Erweiterung traditionell groß ist, waren 56 % für einen Beitritt. Nur bei den AfD-Anhängern war eine Mehrheit dagegen (59 %).[4]
Das offizielle Meinungsforschungsinstrument der EU, das Eurobarometer, zeigte in einer Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission vom April 2022 ähnliche Ergebnisse auf. Diesen offiziellen EU-Daten zufolge unterstützen 66 % der EU-Bürger eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine, in Deutschland waren es 61 %.[5]
2. Weil es nur um einen Kandidatenstatus geht und nicht um eine Mitgliedschaft, die erst in einigen Jahren erfolgen könnte.
Die Ukraine als Beitrittskandidat anzuerkennen ist nicht gleichbedeutend mit einem EU-Beitritt, es eröffnet lediglich die Möglichkeit von (langwierigen) Beitrittsverhandlungen, deren Ausgang nicht feststeht.
Es gibt kein „Schnellverfahren“ oder eine „Abkürzung“ zu einer EU-Mitgliedschaft; es gibt ein Standardverfahren. Die Erwartungen der Ukraine gehen jetzt lediglich dahin, dass es einen „schnellen Gang durch das Standardverfahren“ geben wird. In erster Linie demonstriert die ukrainische Regierung ihre Bereitschaft und Fähigkeit, sämtliche, notwendige technische Schritte so schnell wie möglich zu unternehmen, und sie erwartet das Gleiche von der EU. So benötigte die ukrainische Regierung in Zeiten des Krieges nur einen Monat, um den Fragebogen der Europäischen Kommission auszufüllen. Dazu hatten frühere Anwärter viele Monate (mitunter über ein Jahr) gebraucht.
Dennoch ist klar, dass ein EU-Beitritt Jahre brauchen wird, selbst im besten Fall. In der jüngsten Geschichte einer erfolgreichen EU-Erweiterung der vergangenen 20 Jahre hatte die Verhandlungsphase von der Eröffnung bis zum Abschluss drei bis sechs Jahre gedauert.[6] Hinzu kommen ein bis zwei Jahre für die offiziellen Unterschriften, die Ratifizierungen und das Inkrafttreten. Somit könnte die Ukraine selbst beim günstigsten Szenario, bei dem sie im Juni 2022 den Kandidatenstatus erhält und die Verhandlungen bald eröffnet und erfolgreich abgeschlossen werden, frühestens in fünf bis sieben Jahren der EU beitreten.
3.Weil die Ukraine diesen Status durch die Erfüllung der Kriterien objektiv verdient.
Es gibt einen umfassenden Konsens in der ukrainischen Regierung wie auch in der Zivilgesellschaft, dass die Ukraine den Status als EU-Beitrittskandidat nicht wegen einer Vorzugsbehandlung verdient, sondern aus objektiven Gründen, da sie erhebliche Fortschritte bei der Annäherung an die EU macht und so die erforderlichen Kriterien erfüllt.
Die Ukraine hat ihre Annäherung an das EU-Acquis vor über zwei Jahrzehnten begonnen. Vor der Einreichung des Beitrittsantrags hat die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU nach dessen Unterzeichnung 2014 acht Jahre lang erfüllt. Das ist ein sehr weitgehendes Abkommen, da es bereits den größten Teil des EU-Acquis abdeckt. Bis 2017 hat die Ukraine erfolgreich die Visaliberalisierungskriterien umgesetzt, was dabei half, den gesamten institutionellen Rahmen zur Korruptionsbekämpfung aufzubauen und in Gang zu setzen. Die Bestimmungen des Assoziierungsabkommens zu einer vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA), die seit 2016 gelten, sehen eine tiefgreifende sektorale Integration in den Binnenmarkt der EU vor.[7] Praktisch ist es so, dass die Ukraine bereits sämtliche Kapitel für eine Eröffnung von Beitragsverhandlungen aufgeschlagen hat.[8]
Die Fortschritte bei der Umsetzung des Assoziierungsabkommens unterliegen einer jährlichen Prüfung durch die Europäische Kommission. In einer Reihe von Sektoren werden durch Experten zusätzlich Evaluierungen vorgenommen. 2021 unternahmen die ukrainische Regierung und die Europäische Kommission eine umfassende Prüfung, inwieweit sämtliche Ziele des Assoziierungsabkommens erreicht wurden. Laut Einschätzung der ukrainischen Regierung sind bis Ende 2019 bereits 63 % der notwendigen Hausaufgaben im Rahmen des Assoziierungsabkommens erledigt worden.[9]
Die Europäische Kommission hat zwar keine eigenen Prozentzahlen zum Vergleich vorgelegt, doch bestand der wichtigste Indikator darin, dass die Europäische Kommission im Laufe der Jahre 2020 und 2021 damit begann, eine Reihe von Entscheidungen zur weiteren sektoralen Integration der Ukraine in den EU-Markt vorzubereiten – und zwar in Anerkennung der erledigten Hausaufgaben aus den entsprechenden Kapiteln des Assoziierungsabkommens (zum Zollwesen, zu technischen Vorschriften, zu elektronischen Kommunikationswegen, zur öffentlichen Auftragsvergabe usw.).[10]
Im Bereich der Rechtstaatlichkeit ist ein solider institutioneller Rahmen zur Korruptionsbekämpfung aufgebaut worden, der funktioniert hat und in Zeiten des Krieges weiter funktioniert. Am problematischsten erschien das Gerichtssystem, also wurden 2021 eine neue Strategie und neue gesetzliche Bestimmungen verabschiedet, mit denen eine Verwaltungsreform des Justizsystems ermöglicht werden sollte. Die Umsetzung wurde mit Unterstützung der EU begonnen und wird während des Krieges fortgeführt. Daher ruft die ukrainische Zivilgesellschaft die EU auf, die Reformfortschritte anzuerkennen (Die Fortschritte wurden in der Tat gemeinsam erreicht – mit der Unterstützung und dem Engagement der EU) und der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen. Das wäre der effektivste Rahmen, um die Reformen weiter voranzutreiben.[11]
Da das Monitoring zur Umsetzung des Assoziierungsabkommens und dessen Evaluierung erfolgt sind, verfügte die Europäische Kommission tatsächlich über ausreichend Kenntnisse über die Ukraine, bevor sie sich an die Prüfung des Beitrittsantrags machte. Gleichwohl bat sie die ukrainische Regierung um Antwort mit Hilfe eines Fragebogens, der einen ähnlichen Umfang hatte wie im Falle früherer Anwärter.[12] In Zeiten des Krieges schaffte es die ukrainische Regierung, den gesamten Fragenkatalog in nur einem Monat zu beantworten (während es bei anderen Anwärtern bis zu einem Jahr oder mehr dauerte, bis ein solcher Fragebogen ausgefüllt wurde), und das mit hoher Qualität (da die Europäische Kommission keine Nachfragen übermittelte).
Insgesamt haben die ukrainischen Institutionen während des Krieges eine überraschend hohe Stabilität und Funktionalität gezeigt. Die frühere Annäherung an das EU-Acquis und die Politik der EU haben zu dieser Widerstandsfähigkeit beigetragen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die erfolgreiche Testung des Elektrizitätssystems der Ukraine und dessen letztliche vollständige Synchronisierung mit dem europäischen ENTSO-E-Netzwerk inmitten eines echten Krieges.
Zum Vergleich lassen sich die Stellungnahmen der Europäischen Kommission und die Entscheidungen des Rates zum Kandidatenstatus früherer Anwärter zu Rate ziehen. 1999 hatte die Türkei den Kandidatenstatus erhalten, während dort noch die Todesstrafe galt. Im Westbalkan wurde Nordmazedonien 2005 Beitrittskandidat, Montenegro 2010, Serbien 2012 und Albanien 2014. Nur Bosnien-Herzegowina und Kosovo bleiben „potenzielle Beitrittskandidaten“ – also de facto Länder, die nicht einmal grundlegende Kriterien erfüllen. Der Kosovo wird nicht von allen EU-Staaten anerkannt. Die verfassungsrechtliche Ordnung von Bosnien-Herzegowina entspricht laut der Stellungnahme der Europäischen Kommission von 2019 nicht den europäischen Standards. Die Regierung dort benötigte für die Beantwortung des Fragebogens 14 Monate und war zudem nicht in der Lage, dies im vollen Umfang zu tun.
Also ist in der Ukraine die Ansicht Konsens, dass das Land bereits weiter fortgeschritten ist als „potenzielle Beitrittskandidaten“ und somit objektiv den Status eines EU-Beitrittskandidaten verdient.[13] Es wird erwartet, dass die Stellungnahme der Europäischen Kommission dies bestätigen wird.
4. Weil die ukrainische Gesellschaft diese Anerkennung ihres Kampfes für europäische Werte erwartet.
Die öffentliche Meinung in der Ukraine hat stets eine Mitgliedschaft in der EU unterstützt. 2019 wurde das Ziel eines EU-Beitritts sogar in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben. Seit der großangelegten russischen Invasion ist die gesellschaftliche Unterstützung für einen EU-Beitritt der Ukraine sprunghaft auf 91 % gestiegen.[14]
Es gibt diesbezüglich einen allgemeinen Konsens unter den politischen Eliten in der Regierung und der Opposition sowie in der Zivilgesellschaft, einschließlich der Watch Dog-Gruppen, die die rechtstaatlichen Reformen überwachen und vorantreiben, und einschließlich der Sozialpartner.[15] Ein Beitritt zur EU ist zu einem Teil der ukrainischen nationalen Idee geworden, wie auch die Abwehr der russischen Invasion.
Es herrscht auch breite Übereinstimmung, dass die Ukraine die gemeinsamen grundlegenden europäischen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit und der Demokratie buchstäblich verteidigt.
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Im Grunde werden die Mitgliedstaaten der EU nun entscheiden, ob sie die Ukraine als europäischen Staat anerkennen, der die europäischen Werte teilt und die grundlegenden demokratischen und marktwirtschaftlichen Kriterien erfüllt. Die ukrainische Gesellschaft erwartet von der EU ein klares „Ja“.
Jedes Szenario, das als Antwort auf den Antrag der Ukraine keinen (vollen) Kandidatenstatus beinhaltet, würde von der ukrainischen Gesellschaft sehr negativ aufgenommen.
5. Weil es das stärkste politische Signal an Wladimir Putin senden würde, dass sein Krieg zwecklos ist.
Putin hat die Ukraine angegriffen, weil sie in einer „Grauzone“ außerhalb von EU und NATO verblieb. Er wollte die Ukraine daran hindern, sich weiter nach Westen zu bewegen, und Kyjiw zurück in Moskaus „Einflusssphäre“ bzw. in die „russische Welt“ zwingen. Schritte Richtung NATO sind zu Kriegszeiten tatsächlich nicht machbar und es ist nicht klar, ob sich das nach dem Krieg verwirklichen lässt.
Gleichzeitig würde ein Kandidatenstatus eine Anerkennung der Ukraine als potenzielles EU-Mitglied darstellen. Das bedeutet für die EU die Chance, zu einem geopolitischen Akteur zu werden und ihre Verantwortung für Frieden und Stabilität auf dem Kontinent wahrzunehmen. Putin müsste die neue Realität einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine anerkennen, wie er auch Schwedens und Finnlands Antrag auf eine NATO-Mitgliedschaft akzeptieren musste. Das würde den Kreml dazu bringen, den verheerenden Krieg zu beenden, da dessen politische Ziele ohnehin nicht erreicht werden können
6. Weil eine angestrebte EU-Mitgliedschaft und der Beitrittsprozess den besten Rahmen für den Wiederaufbau nach dem Krieg bieten.
Nach dem Krieg wird die Ukraine „verbessert aufbauen“ müssen, also nicht einfach das ersetzen, was zerstört wurde, sondern in jedwedem Sinne ein besseres Land wieder aufbauen. Eine Kandidatur und ein Beitrittsprozess können dazu beitragen, dass die Reformen in der Ukraine tiefer verankert und für die schwierige Zeit nach dem Krieg nachhaltiger gestaltet werden.
Es wird zudem dabei helfen, beim Wiederaufbau der Ukraine die Fördergelder der EU effizient einzusetzen und den Rahmen für einen strategischen Ansatz zu bieten, mit dem die Infrastruktur, die Wirtschaft und die Gesellschaft der Ukraine in die Netzwerke der EU integriert werden können. Eine EU-Kandidatur und der Beitrittsprozess können dazu beitragen, dass europäische Unternehmen die Möglichkeiten wahrnehmen, die sich bei den enormen Anstrengungen zum Wiederaufbau des Landes ergeben. Und ein Kandidatenstatus würde private Investitionen anziehen, sodass weniger öffentliche Gelder aus den Haushalten der EU-Staaten benötigt würden.
7. Weil es um eine faire Behandlung der eigenen Leistungen geht.
Die Integration der Ukraine und des Westbalkan in die EU schließen sich nicht gegenseitig aus oder stehen in Konkurrenz zueinander, sondern sind absolut miteinander vereinbar. Bei der EU-Erweiterung sollte das Prinzip einer fairen Behandlung gelten, bei der kein Land wegen der Probleme oder Fehler anderer blockiert wird.
Entscheidungen zur Ukraine sollten nicht aufgrund von Fehlern anderer aufgeschoben werden, etwa wegen des Unvermögens von Bosnien-Herzegowina, seine verfassungsrechtliche Ordnung zu ändern, wegen der Nichtanerkennung des Kosovo durch einige EU-Staaten, wegen Serbiens prorussischer Regierung oder wegen Bulgariens Blockade der Verhandlungen zwischen der EU und Nordmazedonien.
Das Gleiche gilt für das osteuropäische Trio. Einerseits gibt es das allgemeine Interesse, die EU-Hoffnungen von Moldau, Georgien und der Ukraine zu verwirklichen. Andererseits sollte jeder Anwärter aufgrund der eigenen Leistungen bei der Erfüllung der Kriterien begutachtet werden. Das ist nur gerecht.
8. Weil Deutschland eine Führungsrolle übernehmen sollte, um einen Konsens in der EU zu erreichen.
Deutschland hat zwar nach der Invasion umgehend ein Ende seiner traditionellen Ostpolitik verkündet (die in der Ukraine weitgehend als Beschwichtigung Russlands betrachtet wurde), doch ist es bei wichtigen Fragen wie den Waffenlieferungen und Sanktionen langsam vorgegangen und hängt anderen hinterher. Paradoxerweise ist es bisher Großbritanniens Brexit-Premier Boris Johnson gewesen, der an der Spitze der europäischen Antwort auf die russische Invasion in die Ukraine steht.
In Bezug auf einen Kandidatenstatus der Ukraine ist Deutschland wieder einmal ein großes Hindernis für diese historische Entscheidung Europas. Die meisten EU-Staaten sind für einen Kandidatenstatus der Ukraine, unter anderem elf mittel- und osteuropäische Mitgliedstaaten, die formal zu einer Beschleunigung der europäischen Integration der Ukraine aufgerufen haben.[16] Eine Reihe europäischer Staaten ist aber noch unentschlossen und schaut, wie die Haltung Deutschlands aussehen wird.
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Geschichtsträchtige Zeiten erfordern historische Entscheidungen, und diese historischen Entscheidungen müssen schnell getroffen werden. Unternimmt man zu wenig und tut dies zu spät, landet man auf dem Weg zum Schutthaufen der Geschichte. Die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU werden jetzt stark von Deutschland abhängen. Ein Zögern Deutschlands würde nur erneut das Image deutscher Politiker beschädigen. Andererseits lässt sich der Gang der Geschichte nicht aufhalten: Es ist klar, dass die Ukraine früher oder später ein Beitrittskandidat und dann ein Mitglied der EU werden wird.
Also stehen deutsche Politiker jetzt vor der Wahl, ob sie von anderen getrieben werden oder eine Führungsrolle übernehmen, um dem Willen und den Erwartungen der eigenen Bürger:innen zu entsprechen, die Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten zu verbessern und in der EU einen Konsens herzustellen. Die drängende strategische Entscheidung für einen Kandidatenstatus der Ukraine könnte die Folgen der Fehler der deutschen Außenpolitik aus den letzten Jahrzehnten beheben. Darüber hinaus könnte dies ohne Übertreibung zu einem zentralen Element einer friedlichen, sicheren, stabilen und prosperierenden Zukunft Europas werden.
Fazit und Ausblick
Der Ukraine im Juni 2022 den Kandidatenstatus zu verleihen, wäre eine logische Entscheidung, die alle zufriedenstellen wird: die Ukrainer, die osteuropäischen Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, die Bürger:innen Deutschlands und auch die der EU. Sogar der Westbalkan wäre zufrieden, da dadurch ein Momentum geschaffen würde, um die sonst festgefahrene Erweiterungspolitik der EU wieder in Gang zu bringen. Nur Putin wäre wütend, müsste es aber akzeptieren und dürfte sich zweimal überlegen, ob es für ihn noch Sinn macht, den Krieg fortzusetzen.
Ein Kandidatenstatus wird nicht in unmittelbarer oder kürzerer Zukunft in eine Mitgliedschaft münden, da klar ist, dass es kein Schnellverfahren oder eine Abkürzung geben wird, sondern ein Standardverfahren zum Beitritt, das selbst bei zügigem Ablauf Jahre dauern wird. Ein Kandidatenstatus würde aber einen nützlichen Rahmen für das Engagement der EU beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg bieten.
Die Ukraine verdient jetzt den vollen und bedingungslosen Kandidatenstatus, weil sie objektiv die Standardkriterien erfüllt und die europäischen Werte gegen die brutalste Aggression verteidigt, die es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Die ukrainische Gesellschaft erwartet im Juni diese Entscheidung des Europäischen Rates und wird alles, was keinen vollen Kandidatenstatus bedeutet, als nicht objektiv oder unvernünftig betrachten.
Ein Teil der Entscheidung sollte in der Formulierung von Zeitrahmen und Bedingungen für den nächsten Schritt bestehen, nämlich für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. Hier könnten als Teil der Konditionalität ausstehende Reformfragen identifiziert werden, allerdings nach, und nicht vor der Verleihung des Kandidatenstatus.
Die Eröffnung und Durchführung von Beitrittsverhandlungen wird Zeit erfordern. Also sollte die EU konkrete, greifbare kurzfristige Schritte anbieten, um die Ukraine näher an die EU zu bringen und durch eine zunehmende Integration in den EU-Binnenmarkt gemäß den Bestimmungen des Assoziierungsabkommens der Bevölkerung einen unmittelbaren Nutzen zu vermitteln.
Andererseits könnte die EU dieses Momentum nutzen, um ihre Erweiterungsmethodologie zu überdenken: das „Regatta“-Prinzip zur fairen Behandlung; die Umkehrbarkeit im Fall von Rückschritten bei der Erfüllung der Kriterien; Ergänzung von Kriterien für die Abstimmung der Außenpolitik; Übereinkommen, dass neue EU-Mitglieder im Rat nicht ihr Vetorecht einzusetzen und eine Reform der Entscheidungsmechanismen der EU auf Grundlage einer qualifizierten Mehrheit.
Bei diesen Bemühungen auf dem Weg in die EU braucht die Ukraine die Unterstützung Deutschlands. Ebenso braucht Deutschland die Unterstützung der Ukraine, um die Fehler der ferneren und jüngeren Vergangenheit zu beheben, und um in der Lage zu sein, sich um Europas Zukunft zu kümmern.
Anmerkungen:
[1] Gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags sind dies: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
[2] In den Formaten des Europäischen Rates und des Rates der EU.
[3] Die sogenannten Kopenhagener Kriterien: https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/enlargement-policy/glossary/accession-criteria_en
[4] Die Umfrage wurde von der Jean Jaures-Stiftung und der Yalta European Strategy (YES) in Auftrag gegeben und von IFOP, einem der führenden französischen Meinungsforschungsinstitute durchgeführt: https://www.jean-jaures.org/publication/les-peuples-europeens-derriere-lukraine-la-crise-ukrainienne-vue-de-france-dallemagne-de-pologne-et-ditalie/?fbclid=IwAR2aM2mfWvzY2FqCktu5JEwriMQaQUlGqfPgBi-5bikFSd7zO3z0TtF7_0Y
[5] Siehe eingehender hier: https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2772
[6] Die Verhandlungen mit Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn, Slowenien, Estland, Zypern liefen von 1998 bis 2003; die mit der Slowakei, Lettland, Litauen und Malta von 2000 bis 2003; die mit Rumänien und Bulgarien von 2000 bis 2005; die mit Kroatien von 2005 bis 2011.
[7] Für eine eingehendere Erläuterung zum Inhalt des Assoziierungsabkommens/ der DCFTA und zum Umsetzungsprozess bei der sektoralen Integration in den EU-Markt siehe: http://www.ier.com.ua/files/Projects/Integration_UA_EU/Report_Integration_prefinal_en.pdf?fbclid=IwAR3U5PLwdk2k_zHC2ytQaAejdlwMQAVsXRzIstWuZEtnhERoQvgg-89ULn8
[8] As explained by the Brussels-based Centre for European Policy Studies (CEPS) in its Opinion on Ukraine’s EU application: https://www.ceps.eu/ceps-publications/opinion-on-ukraines-application-for-membership-of-the-european-union
[9] Siehe hierzu den Bericht der ukrainischen Regierung zum Stand der Umsetzung des Assoziierungsabkommens bis Ende 2021: https://eu-ua.kmu.gov.ua/sites/default/files/inline/files/euua_report_2021_eng.pdf
[10] Siehe eingehender: http://www.ier.com.ua/files/Projects/Integration_UA_EU/Report_Integration_prefinal_en.pdf?fbclid=IwAR3U5PLwdk2k_zHC2ytQaAejdlwMQAVsXRzIstWuZEtnhERoQvgg-89ULn8
[11] Ukrainische zivilgesellschaftliche Organisationen fordern die EU-Mitgliedsstaaten auf, der Ukraine umgehend den EU-Kandidatenstatus als Anerkennung der gemeinsamen Reformerfolge zu verleihen (24. Mai 2022): https://antac.org.ua/en/news/ukrainische-zivilgesellschaftliche-organisationen-fordern-die-eu-mitgliedsstaaten-auf-der-ukraine-umgehend-den-eu-kandidatenstatus-als-anerkennung-der-gemeinsamen-reformerfolge-zu-verleihen/
[12] Questionnaire: Information requested by the European Commission to the Government of Ukraine for the preparation of the Opinion on the application of Ukraine for membership of the European Union, Part I: https://eu-ua.kmu.gov.ua/sites/default/files/inline/files/ukraine_questionnaire_part_i.pdf ; Part II: https://eu-ua.kmu.gov.ua/sites/default/files/inline/files/ukraine_questionnaire_part_ii_0.pdf
[13] Diese Ansicht wird auch von dem in Brüssel ansässigen Centre for European Policy Studies (CEPS) geteilt, das die Ukraine mit den Beitrittskandidaten im Westbalkan vergleicht: https://www.ceps.eu/ceps-publications/opinion-on-ukraines-application-for-membership-of-the-european-union
[14] https://www.ukrinform.net/rubric-society/3449439-support-for-eu-accession-hits-record-high-at-91-in-ukraine-while-that-for-joining-nato-slides-poll.html
[15] Latest joint declaration of the EU-Ukraine Civil Society Platform under the Association Agreement, which unites NGOs, employers and trade unionists on both sides: https://www.eesc.europa.eu/en/agenda/our-events/events/11th-meeting-eu-ukraine-civil-society-platform/documents
[16] https://www.lrp.lt/en/media-center/news/open-letter-by-presidents-in-support-of-ukraines-swift-candidacy-to-the-european-union/37859
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