Der juristische Feldzug gegen die NABU und die Reformen
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Am 28. August hat das Ukrainische Verfassungsgericht die Ernennung von Artem Sytnyk zum Direktor des Nationalen Anti-Korruptionsbüros (NABU) im Jahr 2015 als verfassungswidrig erklärt. Die Entscheidung, die von NABU-Mitarbeitern sofort als politisch motiviert zurückgewiesen wurde, katapultiert das Anti-Korruptionsbüro in ein juristisches Niemandsland.
Darüber hinaus stellt sie die weitreichenden Reformvorhaben der Ukraine infrage. Anti-Korruptionsaktivisten befürchten nun, dass das Urteil den Weg für ähnliche Gerichtsbeschlüsse ebnen könnte. Dadurch bestehe die Gefahr, dass die euro-atlantische Integration unterlaufen und die Fortschritte seit der Revolution der Würde 2014 zurückgedreht werden könnten. Ein Gastbeitrag von Tetiana Schewtschuk.
Laut Verfassungsgericht habe der damalige Präsident Petro Poroschenko seine Kompetenzen überschritten, als er Artem Sytnyk vor fünf Jahren zum Leiter des NABU ernannte. Das ist technisch korrekt und der Öffentlichkeit schon lange bekannt. Poroschenko und seinem Nachfolger Wolodymyr Selenskyj waren die möglichen verfassungsrechtlichen Probleme um die Ernennung Sytnyks zwar bewusst. Jedoch haben weder die beiden Präsidenten noch das Parlament notwendige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, um diese rechtlichen Probleme zu lösen. Stattdessen blieben juristische Fragen ungeklärt und warfen ihren Schatten über die Arbeit des NABU.
Bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichts war Sytnyk in den letzten fünf Jahren vorwiegend damit beschäftigt, Angriffe gegen das NABU abzuwehren und die politische Kontrolle über das unabhängige Büro zu behalten. Bei dieser schwierigen Aufgabe wurde Sytnyk von wichtigen internationalen Partnern der Ukraine, wie dem IWF, der Weltbank und der Europäischen Union unterstützt. Sie alle verteidigten die Unabhängigkeit des NABU und verbanden damit ihre Zusammenarbeit mit der Ukraine.
Dieser Rückhalt auf hoher Ebene zeigt, wie wichtig das NABU als zentraler Eckpfeiler im Kampf gegen die Korruption ist, den die Ukraine seit 2014 in Abstimmung mit der internationalen Gemeinschaft führt.
Nachdem im September 2019 in der Ukraine das Hohe Anti-Korruptionsgericht eingerichtet wurde und das NABU eine Reihe hochrangiger Beamter anklagte, wuchs der Druck auf die Anti-Korruptionsbehörde. Eine Schlüsselrolle spielte das NABU auch bei den Ermittlungen des FBI gegen den Oligarchen Ihor Kolomoiskyj, der in den USA wegen Geldwäsche angeklagt werden soll. Dadurch sah sich das NABU in jüngster Zeit einmal mehr zahlreichen Angriffen ausgesetzt.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts im August ist ein bequemer Weg, um die Unabhängigkeit des NABU infrage zu stellen. Gleichzeitig entgehen der Präsident und das Parlament dem Vorwurf der politischen Einflussnahme. Die Gerichtsentscheidung macht auch den Weg frei für eine Änderung der gesetzlichen Regulierung des NABU und könnte damit zur Einsetzung eines politisch genehmen Direktors führen.
Präsident Selenskyj soll zudem dazu gedrängt werden, den Direktor des NABU, Sytnyk, zu entlassen, obwohl er dazu laut Verfassung nicht berechtigt ist. Die Verfassung sieht vor, Sytnyk als vorläufigen Direktor zu belassen, bis das ukrainische Parlament eine neue Prozedur zur Einsetzung eines Direktors beschließt. Von den Abgeordneten wird erwartet, dass sie ein ausgewogenes Gesetz verabschieden, welches einen fairen und transparenten Auswahlprozess unter Beteiligung internationaler Experten vorsieht.
Immer wieder wird dem Verfassungsgericht vorgeworfen, politisch motivierte Entscheidungen zu fällen. Letztes Jahr erhielt der gerade ins Amt eingeführte Präsident Selenskyj Rückendeckung von den Richtern, als diese die verfassungsrechtlich zweifelhaften vorgezogenen Parlamentswahlen bestätigten. Neueste Enthüllungen in Zusammenhang mit einem Korruptionsverfahren vor dem Kyjiwer Bezirksverwaltungsgericht werfen weitere Zweifel auf: So soll sich das Verfassungsgericht im März 2019 in ein Gesetzgebungsverfahren gegen unrechtmäßige Bereicherung eingemischt haben. Diese Vorfälle geben der Kritik der ukrainischen Zivilgesellschaft an der Entscheidung zum NABU weiteren Auftrieb.
Hierbei geht es um mehr als die Zukunft des NABU oder um die Privatkriege, die von politischen Feinden des Anti-Korruptionsbüros geführt werden.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts könnte einen Präzedenzfall auslösen, um wichtige Reformen, die die Ukraine in den letzten sechs Jahren verabschiedet hat, rückgängig zu machen. So sind Reformen wie das im Frühjahr 2020 verabschiedete Gesetz über den Verkauf von Agrarland und das so genannte „Anti-Kolomoiskyj“-Gesetz gefährdet. Letzteres soll die Rückgabe der verstaatlichten „PrivatBank“ an den früheren Eigentümer Kolomoiskyj verhindern.
Diese beiden Gesetze waren die Voraussetzung für ein neues IWF-Programm für die Ukraine. Beide Gesetze werden zurzeit vor Gericht angefochten. Dahinter steht eine größere Kampagne, um die Reformvorhaben der Ukraine zu torpedieren. Allein im Juli und August 2020 eröffnete das Verfassungsgericht fünf einzelne Verfahren gegen verschiedene Bestimmungen der Anti-Korruptionsgesetze. Die Mehrzahl dieser Verfahren wurde von Abgeordneten angestoßen, die entweder Pro-Kreml-Parteien angehören oder unter Kontrolle des Oligarchen Kolomoiskiy stehen.
Diese juristische Kampagne birgt die Gefahr, dass die ohnehin schon begrenzten Reformen, die seit der Revolution 2014 auf den Weg gebracht wurden, nun rückgängig gemacht werden.
An der Spitze dieser Kampagnen stehen Oligarchen und pro-russische Kräfte, die sich Unantastbarkeit wie in alten Zeiten zurückwünschen. Ziel der pro-russischen Politiker ist es, die Ukraine vom Westen wegzubewegen und wieder unter russischen Einfluss zu bringen. Beide Akteure wollen die Ukraine in den Augen ihrer internationalen Partner diskreditieren und die Euro-Atlantische-Integration des Landes nach 2014 stoppen. Der Erfolg dieser unheiligen Allianz hängt größtenteils von ukrainischen Gerichten ab, die besonders anfällig sind für Korruption.
Die jetzige Situation erinnert schmerzlich daran, dass das ukrainische Justizsystem das schwächste Glied in der Kette der Reformbemühungen des Landes ist. Bis die Ukraine echte Rechtsstaatlichkeit erreicht haben wird, befinden sich die für den Erfolg der Reformen unerlässlichen Institutionen wie das NABU in Geiselhaft einer fehlerhaften Justiz. Diese hält das Land davon ab, jemals europäische Standards zu erreichen. Die höchste Priorität bei den Reform-Unterstützern hat jetzt die Verteidigung der Unabhängigkeit des NABU. Langfristiges Reformziel muss jedoch die komplette Umgestaltung des ukrainischen Justizsystems bleiben.
Tetiana Schewtschuk ist Rechtsberaterin am Anti-Corruption Action Centre in Kyjiw. Der Artikel erschien am ersten September auf Englisch beim Atlantic Council.
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