Sexuelle Gewalt: ein Plädoyer für die umfassende Unterstützung Überlebender
Vergewaltigungen und sexuelle Folter gehören bereits seit 2014 zum Kriegsalltag in der Ukraine. Die strafrechtliche Verfolgung ist kompliziert und oft leidvoll für die Opfer. Eine neu gegründete Abteilung der ukrainischen Staatsanwaltschaft entwickelt deshalb spezielle Ermittlungsstrategien für sexuelle Gewalttaten.
Bis inklusive März 2023 hat die unabhängige Commission of Inquiry on Ukraine des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte in neun Regionen der Ukraine „konfliktbezogene, sexuelle Gewalt“ („conflict-related sexual violence“, kurz CRSV) festgestellt.
Russische Kräfte begingen sexuelle Gewalttaten „mit vorgehaltener Waffe, auf extrem brutale Weise und als Folter“. Vor allem in zwei Kontexten geschahen die Verbrechen: bei Razzien in privaten Wohnungen sowie an in Gewahrsam genommenen Personen. Dabei beschimpften die russischen Kräfte ihre Opfer oder deren Angehörige als „Nazis“ oder als angeblich Unterlegene, sie rechtfertigten die Gewalt als „Bestrafungen“, weil Ukrainisch gesprochen wurde, oder als „Umerziehung“. Eine häufig angewandte Foltermethode wird „Anruf bei Putin“ genannt: Kabel werden in die Genitalien der Opfer eingeführt und dann unter Strom gesetzt.
Schon seit 2014 gab es Übergriffe
Sexualisierte Gewalt steht besonders seit der flächendeckenden russischen Invasion im Fokus, begangen wurde sie allerdings schon seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014. In den sogenannten „Republiken“ der Ostukraine und auf der annektierten Krim wurde von unrechtmäßigen Gefängnissen berichtet, in denen vergewaltigt und gefoltert wurde. An den Checkpoints in den besetzten Gebieten und in den umliegenden „Grauen Zonen“ wurden LGBTQ+-Personen dezidiert aufgrund ihrer Genderidentität und sexuellen Orientierung ins Visier genommen.
Auch Russland hat Abkommen unterzeichnet
Gleich mehrere internationale Abkommen, die sowohl Russland als auch die Ukraine unterzeichnet haben, verurteilen CRSV, darunter die Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen (Artikel 27, 97, 117) und Kriegsgefangenen (Artikel 14, 17, 97) sowie ihr 1. Zusatzprotokoll (Artikel 76). Der Internationale Strafgerichtshof, der derzeit hinsichtlich der Lage in der Ukraine ermittelt, kann sexuelle Gewaltdelikte im Rahmen seiner Zuständigkeit als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord verfolgen.
Die strafrechtliche Ahndung ist kompliziert
Verschiedene Faktoren erschweren die Bemühungen, ukrainischen Opfern von CRSV Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Erstens zählt konfliktbezogene sexuelle Gewalt international zu den Verbrechen, die am seltensten angezeigt und untersucht werden. Die Ukraine bildet hier keine Ausnahme: Unter den 74.952 konfliktbezogenen Verbrechen, die dem Büro des Generalstaatsanwalts bis zum 19. März 2023 gemeldet wurden, sind nur 171 Fälle von CRSV. Fortdauernde Gefechte oder Besetzung, gesellschaftliche Stigmata und Sicherheitsbedenken zählen zu den Hauptgründen dafür, dass Überlebende darauf verzichten, sich zu offenbaren, oder eine Anzeige hinausschieben. Vielfach wissen die Opfer auch schlicht nicht, dass Verhaltensweisen wie das Erzwingen von Nacktheit oder das Androhen einer Vergewaltigung bereits CRSV darstellen.
Die Opfer fürchten Stigmatisierung
Zudem fehlt es an weiblichem Personal bei den Strafverfolgungsbehörden, das sensibel für die von Opfern wie Zeugen erlittenen Traumata ist und die Verbrechen mit dem notwendigen Respekt dokumentiert und untersucht. Durch zu direkte Fragen oder zu viele Termine mit Ermittlern, Menschenrechtsanwälten, Journalisten und Wissenschaftlern werden Opfer häufig retraumatisiert und entscheiden sich dagegen, das lange und komplexe Verfahren auf sich zu nehmen. Auch haben Überlebende häufig akut dringendere Bedürfnisse, etwa den Zugang zu medizinischer Versorgung und psychologischer Betreuung. Eventuell ist eine Abtreibung notwendig, ein neuer Wohnort und ein gesichertes Einkommen. Daher verschieben viele Betroffene ihren Wunsch, die Täter zur Verantwortung gezogen zu sehen, auf bessere Zeiten in der Zukunft.
Neue Abteilung zur Verfolgung konfliktbezogener sexueller Gewalt
Die Ukraine geht die genannten Herausforderungen an. So hat die Generalstaatsanwaltschaft eine auf CRSV spezialisierte Abteilung ins Leben gerufen. Dieser steht eine weibliche Staatsanwältin mit Erfahrung im Bereich häuslicher und sexueller Gewalt vor, die die Feinheiten solcher Ermittlungen und die Gefahren der Stigmatisierung kennt. Ihr Team entwickelte in Kooperation mit internationalen Partnern und der ukrainischen Zivilgesellschaft – insbesondere mit JurFem, der Ukrainian Women Lawyers Association – eine spezielle, gegenüber den Opfern von CRSV sensible Ermittlungsstrategie.
Erste Gerichtsverfahren bereits eröffnet
Die ersten Gerichtsverfahren wurden bereits eröffnet, oft in Abwesenheit der Angeklagten. Es häufen sich Hinweise, dass Befehlshaber der russischen Streitkräfte sexualisierte Gräueltaten unterstützt haben. Deshalb konzentrieren sich die ukrainischen Ermittler und ihre internationalen Berater darauf, auch auf dieser Ebene gerichtsfeste Beweise zusammenzutragen.
Medizinische, finanzielle und psychologische Unterstützung nötig
Strafprozesse wegen Kriegsverbrechen erfordern oft Jahre der sorgfältigen Beweisaufnahme und eine sehr genaue Begründung vor Gericht. Die strafrechtlichen Untersuchungen sollten mit allem den Opfern gebührenden Respekt geführt werden. Allerdings sind Strafverfahren nicht die einzige Voraussetzung, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ukrainische Überlebende von CRSV, auch diejenigen, die bereits vor der flächendeckenden Invasion betroffen waren, benötigen dringend medizinische, psychologische und finanzielle Unterstützung sowie Wohnraum. Zugeschnitten auf das individuelle Trauma sollte ihnen medizinischer Beistand und psychologische Behandlung bzw. Begleitung während der Dauer des Strafprozesses und auch darüber hinaus gewährt werden.
Zur Gerechtigkeit gehört die Wahrheit
Dieser ganzheitliche Ansatz wird im Internationalen Menschenrechtsschutz vorgeschrieben und entspricht den Empfehlungen der Commission of Inquiry on Ukraine der Vereinten Nationen. Die Kommission unterstreicht, dass zur Gerechtigkeit die Wahrheit, eine Entschädigung und eine Garantie gehören, dass sich Gewalttaten dieser Art nicht wiederholen.
Bestimmte Maßnahmen, wie etwa ein Opferregister und Angebote psychologischer Unterstützung können unmittelbar in die Wege geleitet werden – auch vor einem Ende der Kampfhandlungen.
Trotz der zahlreichen und vielschichtigen Herausforderungen kann und sollte die Ukraine, als Staat wie als Gesellschaft, im Verbund mit ihren internationalen Partnern diese breit angelegte Vision von Gerechtigkeit verfolgen – um denen unverzüglich beizustehen, die besonders gelitten haben.
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