Der Tag an dem Ost- und Westukrainer zusammengingen
Der russische Truppenaufmarsch und Äußerungen führender russischer Politiker, die der Ukraine das Recht auf Souveränität absprechen, geben dem diesjährigen Tag der Einheit am 22. Januar eine besondere Bedeutung. Von Ostap Sereda
Dieser Text ist vor dem 24. Februar 2022 erschienen.
Die Ereignisse auf dem Sophienplatz in Kyjiw am 22. Januar 1919, die als Akt der Wiedervereinigung in die Geschichte eingegangen sind, waren sehr feierlich und triumphal. Sie wurden als symbolisches historisches Ereignis von nationaler Bedeutung geplant und abgehalten – gegenüber der im 11. Jahrhundert erbauten Sophienkathedrale, neben dem Denkmal für den Kosaken-Hetman Bohdan Chmelnyzkyj, dem wichtigsten, wenn auch kontroversesten Helden der Frühen Neuzeit.
Der Platz war mit blau-gelben Fahnen sowie mit Bildern eines Dreizacks und eines goldenen Löwen geschmückt – die Symbole der neugegründeten Ukrainischen Volksrepublik (UNR) sowie der Westukrainischen Volksrepublik (SUNR), auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Nach der militärischen Ehrengarde erschienen zahlreiche Gruppen auf dem Platz, die verschiedene gesellschaftliche Schichten sowie Institutionen repräsentierten. Mitten drin waren Minister und Mitglieder des Direktoriums der UNR – des höchsten Organs der Republik. Delegierte aus Galizien und der Bukowina, die die SUNR repräsentierten, machten vor ihnen Halt. Die Delegationen der UNR und der SUNR setzten sich aus Politikern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansichten und politischen Erfahrungen zusammen.
Die UNR wurde im November 1917 in Kyjiw durch den Ukrainischen Zentralrat ausgerufen, einem repräsentativen Komitee aus Schriftstellern, Wissenschaftlern, Journalisten und Funktionären, das unmittelbar nach dem Fall des Russischen Reiches einberufen wurde und im weiteren Verlauf als ukrainisches Revolutionsparlament diente. Die politischen Führer der UNR hatten geplant, der erneuerten Russischen Föderation als autonome Gebietskörperschaft beizutreten, aber der bolschewistische Umsturz in Petrograd sowie der Einmarsch russischer bolschewistischer Truppen in der Ukraine veranlassten sie dazu, am 22. Januar 1918 die Unabhängigkeit auszurufen.
Die deutschen Truppen, die im Frühjahr 1918 infolge des Friedensvertrags von Brest-Litowsk in die Ukraine einmarschiert waren, konnten sich mit der Existenz der UNR nicht abfinden und installierten eine von ihnen kontrollierte Hetman-Regierung unter Pawlo Skoropadskyj. Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs gründeten Politiker der UNR das Direktorium, probten den bewaffneten Aufstand gegen den Hetman und etablierten erneut die Macht der UNR in Kyjiw. Der andauernde Kampf der UNR mit dem bolschewistischen Russland führte zu einer falschen Vorstellung von der UNR als konterrevolutionärer Kraft im Bürgerkrieg. Faktisch wurde die UNR von Politikern mit sozialistischen Ansichten dominiert, sie unterstützten die Revolution im ehemaligen Russischen Imperium als Ausdruck einer sozialen und nationalen Emanzipation der Massen und versuchten, demokratische und landwirtschaftliche Reformen einzuführen. Der Ukrainische Arbeiterkongress wurde zu einer Art Parlament der UNR, dem Vertreter der Bauernschaft, der Arbeiter und der „Arbeiterintelligenz“ sowie nationaler Minderheiten angehörten, und das Direktorium der UNR wurde im Zeitraum seines Bestehens von den Sozialdemokraten Wolodymyr Wynnytschenko und Symon Petljura geleitet. Die UNR umfasste fast das ganze Territorium der heutigen Zentral‑, Süd- und Ostukraine.
Die Westukrainischen Volksrepublik wurde im November 1918 in Lwiw ebenfalls nach dem Untergang eines Imperiums ausgerufen – in diesem Fall Österreich-Ungarns. Sie sollte dessen Gebiete umfassen, auf denen eine ukrainische Bevölkerungsmehrheit lebte, also Ostgalizien, die Nordbukowina sowie Transkarpatien. Da die Habsburgermonarchie über parlamentarische Institutionen und konstitutionell verbriefte Freiheitsrechte verfügte, waren die politischen Führer der SUNR in der Regel Angehörige des österreichischen Parlaments oder des galizischen Sejms. Ihre politische Ausrichtung war überwiegend zentristisch und konservativ, während linke Parteien durch Einzelfiguren vertreten waren. Die Hauptrolle spielten Vertreter der Nationaldemokratischen Partei. In ihrem politischen Handeln vermied die SUNR radikale soziale Maßnahmen und hielt an den Grundsätzen der Legalität fest, befand sich jedoch von den ersten Tagen ihres Bestehens an in Konflikt mit Nachbarstaaten, die ihr Territorium beanspruchten. Entscheidend war der Kampf mit polnischen Truppen und bewaffneten Einheiten lokaler Polen, die Galizien ihrerseits als Teil eines wiederhergestellten polnischen Staates sehen wollten.
Die Verhandlungen über die Vereinigung der beiden neugegründeten ukrainischen Staaten begannen im November 1918. Als Zwischenergebnis stand der von den Regierungen beider Republiken gebilligte Vorvertrag vom 1. Dezember 1918. Die feierliche Zeremonie auf dem Sophienplatz am 22. Januar 1919 beendete symbolisch den Vereinigungsprozess der ukrainischen Gebiete zu einem Staat, die bis vor kurzem noch zwei Imperien angehört hatten, die sich im Krieg befanden – Russland und Österreich-Ungarn. Die von der UNR-Direktion gebilligte und auf dem Sophienplatz verlesene Deklaration (Universal) verkündete folgendes: „Die seit Jahrhunderten voneinander getrennten Teile der Ukraine – die Westukrainische Volksrepublik (Galizien, Bukowina und die Transkarpatien) und die Dnjepr-Ukraine – verschmelzen zu einer Einheit. Die ewigen Träume, für die die besten Söhne der Ukraine gelebt haben und gestorben sind, sind in Erfüllung gegangen. Es gibt nur eine einzige unabhängige Ukrainische Volksrepublik.“ Nach stürmischem Beifall wurden ein Gottesdienst und eine Militärparade abgehalten. Am nächsten Tag, dem 23. Januar, wurde die Einigungsakte durch den Arbeiterkongress genehmigt.
Damals waren die politischen Eliten der UNR und der SUNR trotz ideologischer Differenzen durch eine moderne nationale Identität geeint. Dies war eine wichtige Errungenschaft kultureller und sozialer Aktivitäten von mehreren Generationen ukrainischer Intellektueller im 19. Jahrhundert. Intellektuelle Kontakte ukrainischer Persönlichkeiten über die russisch-österreichische Grenze hinweg, zunächst in Form von Korrespondenzen, dann durch die Zirkulation von Büchern und Zeitschriften, formten seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine gemeinsame Öffentlichkeit. In der Epoche der Romantik kam der wichtigste intellektuelle Impuls aus den zentralen und östlichen Regionen der Dnjepr-Ukraine. Dieser war stark genug, um in Galizien einen literarischen Kult um Taras Schewtschenko, seine Faszination für die ukrainischen Kosaken und schließlich eine dynamische Nationalbewegung zu begründen. Die Persönlichkeiten dieser Epoche hatten idealisierte Vorstellungen über das ukrainische Volk, welches den Landstrich zwischen den Flüssen San und Kuban, den Karpaten und dem Krimgebirge bevölkerte. Obwohl sie dem Studium und der Entwicklung der ukrainischen Volkssprache und ethnischen Kultur Priorität einräumten, wurden die nationalen Grenzen der Ukraine nicht nur von linguistischen und ethnographischen Kriterien bestimmt, sondern auch durch wirtschaftliche und handelspolitische Verflechtungen mit benachbarten Regionen. So nahmen die Autoren von „Osnowy“, der wichtigsten ukrainischen Zeitschrift der frühen 1860er Jahre, die in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg herausgegeben wurde, die Halbinsel Krim in den ukrainischen politischen Raum auf.
Im Laufe der Zeit brachte die Verteidigung des österreichischen Galiziens vor dem politischen Einfluss Russlands ihr einen besonderen Platz im ukrainischen nationalen Projekt ein. Da die ukrainischen Kultur- und Bildungsaktivitäten im Russischen Reich systematisch eingeschränkt wurden und im Gegensatz dazu die Habsburger konstitutionell verbürgte Freiheiten einführten, die mehr Spielraum für Bildung und politischen Tätigkeit unter der Bauernschaft boten, kam Galizien allmählich die Rolle eines „ukrainischen Piemont“ zu – ein Zentrum für die territoriale Vereinigung der Nation. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden in Lwiw Texte des gebürtigen Lwiwers Julian Batschynskiy und des in Charkiw lebenden Mykola Michnowskiy veröffentlicht, die beide die Vision einer unabhängigen Ukraine entwickelten, obwohl sie auf sehr unterschiedlichen ideologischen Standpunkten beruhten.
Die Einigungsakte von 1919 proklamierte die Bildung eines einheitlichen ukrainischen Staates mit der Vereinigung der Dnjepr-Ukraine sowie der westlichen Regionen (Galizien, Bukowina, Transkarpatien) Die SUNR wurde zum Westgebiet der UNR und ihr Präsident Jewhen Petruschewytsch trat dem Direktorium bei. Die Idee, einen einheitlichen ukrainischen Staat ins reale politische Leben zu überführen, konnte jedoch nicht verwirklicht werden. Im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1919 erlitten sowohl die SUNR als auch die UNR eine Reihe von militärischen Niederlagen (durch Teile der russischen Weißen Armee, die Bolschewiki sowie durch polnische Truppen, die ukrainische Gebiete beanspruchten, die früher zum Russischen Reich oder zu Polen-Litauen gehört hatten) und verloren die Kontrolle über ihr Territorium. Spätere Bemühungen beider Republiken, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und eine diplomatische Anerkennung zu bewirken, scheiterten. Im Gegensatz zu ihren Nachbarvölkern konnten sich die Ukrainer auf der neuen politischen Landkarte Mittel- und Osteuropas nicht etablieren.
Die Niederlage des ukrainischen Befreiungskampfes von 1917–21 beeinflusste die Geschichte von ganz Mittel- und Osteuropa und war ein großes Trauma für eine neue Generation ukrainischer Persönlichkeiten. Sie verursachte eine intellektuelle Krise der ukrainischen Bewegung und bewirkte ein Umdenken in den demokratischen, emanzipatorischen und volkstümlichen Ideen des 19. Jahrhunderts. Das Postulat der nationalen Einheit von Ost- und Westukrainern sowie das Recht der Ukrainer auf ihre eigene nationale Staatlichkeit blieben jedoch grundlegend für die ukrainische Bewegung.
Der Tag der Einheit am 22. Januar ist somit zu einem wichtigen patriotischen Feiertag im historischen Kalender der Ukraine geworden. Er wurde dort feierlich begangen, wo er dem Sowjetregime entzogen war, insbesondere in der ukrainischen Emigrantengemeinschaft im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg. Gegen Ende der Perestroika in der UdSSR, als in den Sowjetrepubliken die Rufe nach Wiederherstellung der Souveränität lauter wurden, wurde die von der oppositionellen Volksbewegung der Ukraine am 21. Januar 1990 organisierte „Ukrainische Welle“ zu einer großen politischen Demonstration, die Tausende von Menschen von Iwano-Frankiwsk und Lwiw bis Kyjiw in einer symbolischen Menschenkette miteinander verband. In der unabhängigen Ukraine wird der 22. Januar seit 1999 als Tag der Einheit gefeiert – zu Ehren der Unabhängigkeitserklärung der UNR im Jahr 1918 sowie des Einigungsaktes von 1919.
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