Alltag im Schatten des Krieges – Mit Wostok SOS an der „Kontaktlinie“ im Donbas
Im Frühjahr ist der Dresdner Student Jonas Schmidt in die Ostukraine aufgebrochen, um die Wohltätigkeitsorganisation Wostok SOS bei einer Beobachtungsmission zu begleiten. Für „Ukraine verstehen“ hat er seine Erfahrungen aufgeschrieben.
Ich stehe am Bahnhof von Slowjansk und warte. Fast 15 Stunden Fahrt mit dem Zug stecken mir in den Knochen, und hier soll ich die Kollegen von Wostok SOS treffen. Gemeinsam sollen wir entlang der 450 km langen Kontaktlinie entlangfahren.
Wostok SOS ist eine Wohltätigkeitsorganisation, die 2014 mit Beginn des Krieges von Binnenvertriebenen aus den besetzten Gebieten gegründet wurde. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehörten zu den ersten Freiwilligen, die an die Leidtragenden der kriegerischen Aggression auf der Krim und im Donbas humanitäre Hilfe verteilten. Sie helfen auch weiterhin bei der Suche nach Wohnraum für Vertriebene, bei der Logistik für die sichere Abreise aus der Konfliktzone, bei der Suche, Freilassung und Rehabilitation von Entführungsopfern, sowie bei der Lieferung humanitärer Güter an Menschen an vorderster Front. Ebenfalls leisten sie psychologische Hilfe, um Traumata zu verarbeiten.
Ein weiterer Aufgabenbereich sind Monitoring-Missionen, die fast jeden Monat stattfinden. Im Fokus unserer Mission steht der wieder zunehmende Beschuss und – aufgrund der Pandemie – die Bereitstellung von Schnelltests durch ukrainische Behörden. Denn alle Menschen aus den besetzten Gebieten müssen sich entweder einem Test oder der Isolation unterziehen, wenn sie in den von Kyjiw kontrollierten Teil der Ukraine einreisen wollen.
Am nächsten Tag fahren wir nach Stanyzja Luhanska zum „Kontrollpunkt für die Ein-und Ausfahrt in die vorübergehend besetzten Territorien“, so die offizielle Bezeichnung. Auf der 130 km langen Fahrt passieren wir vier Checkpoints. Die Prozedur ist immer dieselbe: Dokumente bereithalten, erklären, wer wir sind und was wir machen. Mal fällt die Kontrolle strenger aus, mal weniger streng, alles ist abhängig von den Launen der Polizisten und Soldaten. Und immer wieder sehen wir die kleinen roten Schilder, auf denen „Увага міни – Achtung Minen“ steht. Je näher man der Front kommt, desto mehr werden es.
Corona macht alles noch schwieriger
Nach unserer Ankunft in der Stanytsya nehmen wir unsere Badges (Ausweise der Organisation) und unsere Pässe und marschieren los. Jeden Tag überqueren ca. 1.100 Menschen die Kontaktlinie in der Stanytsya, von dem medizinischen Personal haben wir aber erfahren, dass am Vortag nur 65 Tests gemacht werden konnten. So hatten also nicht alle die Chance, das Angebot eines kostenlosen Schnelltest wahrzunehmen und waren gezwungen, einen PCR-Test für 1100 UAH (33 Euro) aus eigener Tasche zu bezahlen, um sich der Notwendigkeit der Selbstisolation zu entziehen. Von den Menschen, die vor der Station warten, erfahren wir, dass sie schon seit Sonnenaufgang auf einen kostenlosen Test warten.
Wir machen Notizen und gehen weiter zum eigentlichen Kontrollpunkt. Wir stellen uns dem Verantwortlichen des Kontrollpunktes vor, und erklären unsere Absichten. Er prüft unsere Genehmigungen und weist uns an, unsere Badges immer sichtbar zu tragen. Wir beginnen, den Prozess des Übertritts der Menschen zu beobachten, die das ukrainisch kontrollierte Territorium verlassen. Uns fällt kein Verstoß auf, und so beschließen wir, weiter in Richtung der Brücke, dem eigentlichen Übergang, zu gehen. Wir durchschreiten die verschiedenen Stufen der Kontrollen. Dabei fällt mir das Schild auf „Der Prozess der Kontrolle ist kostenlos“. Wir erreichen den letzten ukrainischen Grenzschützer. Weiter würden auch sie nicht gehen. Den ca. 800 Meter langen Weg zur Brücke säumen ukrainische Fahnen, hier ist der ukrainische Staat zu Ende, jedenfalls de-facto.
Auf dem Weg treffen wir einen Mann, der dem die Einreise in die “Luhansker Volksrepublik” aufgrund eines fehlenden Passes verweigert worden war – zurück in den ukrainisch kontrollierten Teil kann er deswegen aber auch nicht. Wir nehmen seine Geschichte auf und verweisen ihn an die Organisation „Pravo na zakhyst“. Auf dem Weg zur Brücke treffen wir noch viele weitere Zivilisten aus Richtung Luhansk und fragen sie nach der Situation mit dem Coronavirus dort, ob sie sich impfen lassen wollen und wie ihre allgemeinen Lebensumstände seien. Die meisten wissen nichts von der Impfmöglichkeit oder dass sie – sobald sie ukrainisch kontrolliertes Gebiet betreten – in Quarantäne oder einen Test machen müssen.
An der Brücke machen wir Fotos mit den Uniformierten der „Volksrepublik“ im Hintergrund, die uns sehr misstrauisch aus Ferngläsern beobachten. Die Kontaktlinie bildet an dieser Stelle der Fluss Siwerskyj Donez . Die Brücke darüber bildet den Übergang, und die eigentliche Grenze ist die Flussmitte. Dennoch nimmt sich die Gegenseite immer die Freiheit, bis fast ans andere Ufer zu kommen, so dass uns nur lediglich 25–30 Meter trennten.
Schon auf dem Rückweg zum Auto fällt uns ein Tumult vor der Teststation auf. Aufgrund mangelnder Organisation hatte jemand der Wartenden einfach selbst eine Liste erstellt. Ihm wird nun vorgeworfen, gegen Geldzahlung einige Namen der Wartenden nach “oben” zu schieben. Da es zu Handgreiflichkeiten kommt, hat das die Polizei auf den Plan gerufen, die nun die Menschen anweist, vor dem Häuschen eine Schlange zu bilden, damit die Position für jeden klar sei.
Auch am Kontrollpunkt in Schtschastja , was auf deutsch „Glück“ heißt, halten wir. Glück hatten und haben die Bewohner Schtschastjas leider nicht. Überall sieht man Zerstörungen der letzten Kriegsjahre. In der Schule freut man sich über die Ausländer.
Schon am nächsten Morgen fahren wir durch Lissytschansk in Richtung Süden. Am Checkpoint am Stadtausgang rufen unsere europäischen Pässe Verwirrung bei dem kontrollierenden Polizisten hervor. Der „Verantwortliche“ muss gerufen werden und sagt zu mir: „Ah, Sie kommen aus Polen.“ „Nein“, antworte ich, „aus Deutschland“. „Wo wohnen Sie denn?“ fragt er weiter. „In Dresden“, sage ich, auf den Eintrag in meinem Pass deutend. Bei der britischen Kollegin hat er keine Idee, woher sie stammen könnte, und so klären wir ihn auf. Er lässt uns ziehen, aber für den weiteren Tagesverlauf bin ich „der Pole“ im Team.
Unsere erste Station heute ist die Schule in der Frontstadt Nowotoshkiwske , nur drei Kilometer von Kontaktlinie. Wir sind überrascht, dass die Schule trotz Krieg sehr gepflegt aussieht. Die Direktorin bittet in ihr mit ukrainischen Fähnchen und Symbolen übersähtes Büro. Über ihrem Tisch hat sie ein riesiges Gemälde des Schwalbennest-Schlosses auf der Krim, verziert mit einem riesigen gelben Trysub, dem Nationalwappen der Ukraine.
Bei Tee und Gebäck beginnt sie, vom zunehmenden Beschuss in den letzten Monaten zu erzählen. Ganz trocken berichtet sie uns, dass sie zusammen mit den Kindern gelernt haben, am Klang zu differenzieren, was da durch die Luft fliegt.
Dieses Gespräch ist die erste Situation, die mich emotional doch ein bisschen herausfordert. Die Direktorin ist über die ausländische Präsenz besonders erfreut und zeigt enthusiastisch ihre Schule. Sie stellt alle Lehrer vor, die trotz Krieg in Novotoshkiwske geblieben sind. Sie Kinder sollten genauso gut ausgebildet werden wie in anderen Teilen der Ukraine, heißt es.
Im nahegelegenen Zolote‑4 treffen wir ebenfalls die Direktorin der Schule, und auch sie bestätigt die Zunahme des Beschusses seit Ende Dezember 2020. Sie berichtet uns über einen Splitter, der ihr Haus am 12. März getroffen hatte. Ein Teil der Granate hatte das Fenster durchschlagen und war im Fernseher stecken geblieben. Während des Beschusses war ihr Mann zu Hause gewesen. Wenige Minuten zuvor war er aus dem Zimmer gegangen, um einem Besucher die Haustür zu öffnen. Das rettete ihm das Leben, denn zuvor hatte er genau in Flugrichtung des Splitters gesessen.
Die Frau sagt außerdem, dass sie vor dem Waffenstillstand im Juli 2020 im Flur auf dem Boden geschlafen habe, weil „alles mögliche“ ständig um das Haus “herumgeflogen” sei. Ihr Haus habe 30 Löcher an der Außenwand. Ein halbes Jahr war es ruhig. Jetzt wird in Zolote‑4 wieder geschossen.
Der Krieg trennt Verwandte
Das nächste Ziel der Mission ist die Stadt Awdiivka in der Oblast Donezk. Das bedeutet immerhin 200 Kilometer auf Straßen, die diese Bezeichnung eigentlich nicht verdienen. Die Fahrt geht durch Popasna, Novoswaniwka, Troizke und Switlodarsk . Überall hören wir dasselbe, seit Neujahr hätte der Beschuss zugenommen. In Novoluhanske begegnen wir einer Frau, die Merkwürdiges zu berichten hat: die ukrainische Armee hätte sich mehrmals selbst beschossen, weil sie Granaten nicht richtig in den Granatenwerfer eingelegt hätten, dabei seien sogar mehrere Soldaten gestorben. Von Beschuss durch die andere Seite erzählt sie nicht.
Aufgrund schlechten Straßen schaffen wir es nicht nach Awdiivka und übernachteten in Kostyantiniwka. Am nächsten Tag geht es in die Frontstadt Piwdenne . In der Bergwerkssiedlung finden wir eine Rentnerin in ihrem Garten, die uns viel über ihr Leben erzählt. Ihr Mann sei vor zwei Monaten gestorben und von ihren zwei Söhnen lebt einer in Horliwka, also in der von Russland kontrollierten „Volksrepublik Donezk“, der andere auf ukrainisch kontrolliertem Territorium, ein paar Häuser weiter. Die Söhne seien von ihrem Mann im Geiste des Patriotismus erzogen worden – wessen genau, lässt sie offen. So hätte sich der eine 2014 bereit erklärt, als Torezk unter russischer Kontrolle war, nachts mit einer Kalaschnikow und einem beschlagnahmten Auto in der Stadt für „Ordnung zu sorgen“. Nach der Befreiung der Stadt durch Regierungstruppen brachte ihn der Geheimdienst SBU nach Charkiw zum Verhör. Ein Gericht verurteilte ihn zu lediglich drei Jahren auf Bewährung – dabei wären 15 Jahre Gefängnis die Höchststrafe. Er aber setzte sich ins besetzte Horliwka ab. Seine Mutter ist plötzlich sehr erregt. Sie kann einfach nicht verstehen, welcher Verbrechen ihr Sohn begangen haben soll – schließlich habe er ja niemanden getötet, sondern lediglich für „Ordnung gesorgt“.
Gefahr lauert überall
Nach dieser Begegnung fahren wir weiter nach Awdiivka, von wo wir ins Dorf Opytne fahren sollen, das nur zwei Kilometer vom Flughafen Donezk entfernt liegt, dem Ort, den die ukrainische Armee nach schweren Kämpfen im Winter 2015 aufgeben musste.
Das Telefon von Missionsleiter Jewheniy klingelt, am Apparat ist ein Offizier, der uns mitteilt, dass wir nun nach Opytne fahren könnten. Nach zehn Autominuten erreichen wir den letzten Checkpoint. Aufgeregt kommt ein Soldat, sein Gewehr in der Hand, mit dem Finger bedrohlich nah am Abzug, zu uns. Er scheint hier nicht oft auf Zivilisten zu stoßen. Eigentlich dürfen Zivilisten ja auch nicht nach Opytne, normalerweise jedenfalls. Nach Rücksprache mit seinen Vorgesetzten lässt er uns durch. Wir fahren in Richtung Flughafen, biegen dann an der Brücke über den Autobahnring rechts ab nach Opytne.
Die Straße ist in sehr gutem Zustand, nur an einigen Stellen hat die Natur begonnen, sich Teile zurückzuholen. Nach der Abfahrt nach Opytne wird die Straße enger. Plötzlich sagt Evheniy, dass auf dem Stück vor uns bis Januar noch Asphalt gewesen sei, nun ist da keiner mehr, vermutlich wegen Beschuss.
Wir sind ein bisschen ratlos, denn statt Straße ist vor uns ist nun ein riesiges Matschfeld. Ich höre mich gerade noch sagen „Vielleicht fahren wir da lieber nicht durch, sieht nicht so aus, als ob unser Renault da durchkommt“, doch anscheinend hört man mich nicht. Denn plötzlich stecken wir fest, im Schlamm nicht weit von der russischen Artillerie und zwischen Minenfeldern. Wir steigen aus und beginnen das Auto anzuschieben, was uns schlussendlich, nach einigem Hin und Her, auch gelingt. Vorsichtig wenden wir das Auto auf dem schmalen Matschweg. Nach 3,5 Stunden Fahrt, vorbei an Donezk und gefährlich nah an der Kontaktlinie, erreichen wir unser Übernachtungsziel Wolnowacha .
Am letzten Tag beginnen wir das Monitoring mit dem Kontrollpunkt in Nowotroitskoje, aktuell der einzige Ort, wo man die nicht regierungskontrollierten Gebiete mit dem Auto erreichen kann. Auch hier ist unser erster Anlaufpunkt die Corona-Teststation. Wie in Schtschastja ist hier ein völlig neuer Kontrollpunkt gebaut worden. Der größte Unterschied ist aber die Testkapazität. Obwohl hier auch nur zwei medizinische Angestellte sind, schaffen sie im gleichen Zeitraum 115 Tests pro Tag. Wir wundern uns über diese Differenz und beschließen, beim Joint Forces Operation Center nach dem Grund zu fragen.
Von Italien kommend „gestrandet“
Eine Mitarbeiterin der NGO Pravo na Zahyst erzählt uns von einem Mann, den wir wenig später selbst kennenlernen. Der Mann, Jewheniy, hat die Nacht in seinem Auto am Kontrollpunkt verbringen müssen, da ihn Vertreter der „Donezker Volksrepublik“ nicht in ihre „Listen“ aufnehmen wollen. Jewheniy ist aus Italien gekommen, wo er mehr als sechs Monate gearbeitet hatte, er wollte zu seiner Familie nach Luhansk reisen.
Er erzählt, dass er bereits zweimal hier war und zurückgewiesen wurde. Beide Male habe er die Nacht im Auto in der „grauen Zone“ zwischen beiden Seiten, verbracht. Weggefahren sei er erst, als er morgens beschossen worden sei. „In der Nähe des Autos knallte etwas heftig,“ erzählt er. Seit einer Woche steht er jetzt am ukrainischen Checkpoint. „Ich fange an, die Süßigkeiten zu essen, die ich eigentlich meinen Kindern schenken wollte, weil mein Geld zur Neige geht“.
Unser Missionsleiter Jewheniy sagt später, dass solche Geschichten häufig sind. Die selbsternannten „Republiken“ schafften ständig neue Hindernisse, um ukrainische Staatsbürger am Überqueren der Kontaktlinie zu hindern.
Der Übergang in Nowotroitskoye ist eigentlich nur Montags und Freitags geöffnet. Darüber hinaus darf nicht jeder rein oder raus. Es gibt in den „Republiken“ Listen, in denen die Namen derjenigen stehen, die die Kontaktlinie nicht überqueren dürfen. Die Menschen sind deshalb angehalten, sich zu informieren, ob sie in diesen Listen stehen. Denn im Falle einer Ablehnung und Rückkehr in ukrainisch kontrolliertes Gebiet muss ein COVID-19-Test oder Selbstisolierung durchgeführt werden.
Hinter mir liegen fünf lehrreiche Tage – nicht nur für meine Russisch- und Ukrainisch-Kenntnisse. Ich bin auf Schicksale gestoßen, die ich, hätte mir jemand davon erzählt, kaum geglaubt hätte. Reisen an die Front sind wie Reisen in eine andere Welt, eine Welt der Zerstörung, des Leids und der Schicksalsschläge, die uns Zentraleuropäern, aber auch der Mehrheit der Ukrainer verborgen bleibt. Es ist erstaunlich, wie „normal“ sich alles anfühlt, solange man vor Ort ist. Wie man mit Menschen in Cafes sitzen kann, die sich am Nebentisch über die neueste Mode austauschen, während 20 Kilometer weiter ihre Landsleute in Fluren schlafen müssen, um nicht von Granaten getroffen zu werden.
Erst Tage später auf der Rückfahrt nach Odesa merke ich, dass die Anspannung nachlässt.
Die Bäume ziehen am Zugfenster vorbei, und meine Freunde werden mich fragen “Kämpfen die da immer noch?”. Da merke ich, wie Wut in mir aufsteigt. „Ja, verdammt, das tun sie.“ Mittlerweile geht der Krieg schon ins achte Jahr – ein Krieg, vor dem leider noch immer viele in Europa die Augen verschließen.
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