Der Tag des Sieges als ein Symptom für den Virus der “russischen Welt” in der Ukraine
Das Gedenken um das Ende des Zweiten Weltkrieges spaltet nach wie vor die ukrainische Gesellschaft. Der 8. Mail ist jetzt ein Tag des Gedenkens und der Versöhnung, aber der 9. Mai wird noch als Sieg über den Nationalsozialismus gefeiert. Welchen Stellenwert haben die Gedenktage im historischen Gedächtnis der Ukrainerinnen und Ukrainer? Ein Gastbeitrag von Serhii Schapowalow, politischer Analyst bei Democratic Initiatives.
Die Ukraine erwartet vor dem 9. Mai massive Informationsangriffe von Seiten Russlands. Diese Angriffe haben das Ziel, den Ukrainern die russische Interpretation der Geschichte und den Kult des Sieges aufzuzwingen. Die prorussischen Politiker in der Ukraine und ihre Medien haben bereits im Februar die bekannte “Siegestag”-Rhetorik aktiviert.
So meint zum Beispiel der Abgeordnete Wadym Rabinowytsch, dass die Vertreter der Ukraine an der Siegesparade in Moskau teilnehmen sollten. Der damalige Außenminister Wadym Prystajko verkündete, die ukrainische Regierung habe keine Absicht, an der Parade teilzunehmen, die Ukraine werde den 9. Mai in einem europäischen Format feiern. Daraufhin sprach der faktische Vorsitzende der “Oppositionsplattform – für das Leben” Wiktor Medwedtschuk von “Katzbuckelei vor dem Westen, russophober Hysterie und hurra-patriotischem Scheuklappendenken”.
Dieselbe These wird in zahlreichen Talkshows beim ukrainischen Sender NewsOne breitgetreten, und der Kyjiwer Sender namens „Nasch“ (russ. für “unser”) hat schon vor zwei Monaten angefangen, die Tage bis zum „Tag des großen Sieges“ zu zählen. „Inter“, ein Sender, der von 34% der ukrainischen Zuschauer regelmäßig gesehen wird, ist noch weiter gegangen: Das ganze Jahr 2020 wurde zum Jahr des 75. Siegesjubiläums erklärt. Seit Januar werden dort im Frühstücksfernsehen Beiträge “über die Ereignisse des Großen Vaterländischen Krieges, über die legendären Heeresführer und Persönlichkeiten” präsentiert.
Doch warum wird ausgerechnet der Kult um den Tag des Sieges vom Kreml so intensiv als ein Instrument genutzt, um die Ukraine innerhalb der „russischen Welt“ zu behalten? Kann die Ukraine ihre Position in diesem ideologischen Kampf mit der Russischen Föderation behaupten?
Was ist die “russische Welt” und welchen Platz nimmt der Tag des Sieges in diesem Konzept ein?
Das Konzept der “russischen Welt” (“русский мир”) wird seit 2006 von der Russischen Föderation aktiv für die Ausweitung des geopolitischen Einflusses genutzt, indem man versucht, die „Diaspora“ einzubinden. Ein Zitat von Putin: “Dieser Tag der Einheit vereint nicht nur das Volk Russlands, sondern auch Millionen unserer Landsleute im Ausland – die ganze sogenannte russische Welt”. Doch welche Merkmale machen jemanden zu einem “Russen” und, folglich, zu einem Angehörigen dieser russischen Welt?
Es gibt keine strikten Kriterien der Zugehörigkeit; das eigene Gefühl der Identifikation mit der Gemeinschaft der „Russen“ genügt. Die ethnische Komponente ist nicht zwingend. Das Nationale Ukrainische Institut für Strategische Forschung (NUISF) hat die programmatischen Papiere der Stiftung “Russische Welt” analysiert und ist zurecht zum folgenden Schluss gekommen:
“Unter der ‘russischen Welt’ versteht man heute eine Gemeinschaft von Menschen, die auf die eine oder andere Art und Weise mit Russland verbunden sind, und die folgende Gemeinsamkeiten teilen:
Sprache und Kultur;
historisches Gedächtnis;
Konfession, in diesem Fall die Orthodoxie;
Loyalität gegenüber dem russischen Staat.“
Doch sind all diese Elemente für eine Zugehörigkeit des Einzelnen zur “russischen Welt” gleichermaßen wichtig? Die Sprache ist zwar ein wichtiges Element der Identität, ist aber nicht zwingend erforderlich, da es „auf der Erde viele Menschen gibt, die sich selbst als Russen verstehen und sich mit Russland identifizieren, jedoch nicht mehr Russisch sprechen“. Dasselbe gilt für die Konfession: „Ein Teil der ‘russischen Welt’ ist islamischen, buddhistischen oder jüdischen Glaubens. In den USA gibt es mehr russischstämmige Protestanten als Orthodoxe”.
Heute ist der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wohl der wichtigste identitätsstiftende Faktor für die Russen und gleichermaßen ein Mythos, der den russischen Staat legitimiert. Die Geschichte dieses Krieges und der Sieg sind schon seit 1965 Gegenstand eines regelrechten Kultes geworden. Damals hat die sowjetische Führung infolge einer beobachteten Schwächung der ideologischen Legitimation voll auf diesen Sieg gesetzt – der Sieg als ein neues Symbol, um die Macht zu festigen.
Die postsowjetische Regierung Russlands hat diese Tradition der Ausnutzung des symbolischen Kapitals des Sieges fortgeführt, um eine neue Identität aufzubauen. Die Forscher des NUISF sind sich einig, dass dies heute „das einzige Ereignis der Geschichte ist, welches für alle Bürger Russlands aktuell ist und alle vereint”, das sei „Russlands grundlegendes Ritual“. In der UdSSR wurde die Siegesparade nur in den Jubiläumsjahren abgehalten (1965, 1975, 1985, 1990); in der Russischen Föderation dagegen wird die Parade seit 1996 jährlich durchgeführt. Alleine in Moskau kosten die Feierlichkeiten mehr als 7 Millionen US-Dollar.
Laut einer Umfrage des WZIOM (russische Abkürzung für “Allrussisches Zentrum der Erforschung der öffentlichen Meinung”) war der Tag des Sieges 2018 für die Russen der wichtigste Feiertag. 80 Prozent der Bewohner Russlands wollten sich in diesem Jahr den Feierlichkeiten anschließen. 2019 wollten 76 Prozent der Russen die Übertragung der Parade im Fernsehen verfolgen, und eine Umfrage Ende Mai hat gezeigt, dass die Feierlichkeiten 80 Prozent der Zuschauer gefallen haben.
„Der Krieg von 1941–1945 ist für die russische Elite sowie den größten Teil der Gesellschaft zu einem gemeinsamen Anhaltspunkt geworden. Ihre Väter haben in diesem Krieg gekämpft. Und der Sieg 1945 wurde zu einem Heiligtum, so wie es die Oktoberrevolution von 1917 für die vorigen Generationen war. Der Krieg von 1941–1945 gilt als der Gründungsmoment des modernen russischen Staates“. Dieser Sieg ist mehr als nur ein Element des Konzepts der “russischen Welt”, er hat diese Welt ja erst möglich gemacht: 1945 wurden „Russland und die Russische Welt ganz offensichtlich gerettet“.
Wenn also der Siegesmythos für Russland und die Russen so wichtig ist (und folglich auch für die sogenannte russische Welt), dann ist die Akzeptanz der russischen Interpretation der Geschichte und des Siegeskults der minimale notwendige Berührungspunkt, um dieser Welt beizutreten. Aus diesem Grund versuchen die prorussischen Akteure in der Ukraine, das symbolische Kapital des “großen Sieges” maximal auszuschlachten.
Was wurde schon erreicht und was muss die Ukraine noch unternehmen?
Momentan ist es schwierig zu beurteilen, wie intensiv der Diskurs um den Tag des Sieges in den prorussischen Medien heute wäre, wären sie nicht gezwungen, das allgegenwärtige Thema Coronavirus, dessen immer noch rasche Ausbreitung in Russland letztendlich zur Absage der sakralen Siegesparade geführt hat, zu beleuchten. Das verschlingt natürlich einen großen Teil der Energie und der Ressourcen dieser Medien. Doch das ist natürlich nur eine vorübergehende Abschwächung des Mediendrucks und löst für die Ukraine keinesfalls das Problem, wie man der Propaganda der Russischen Föderation begegnen kann.
Es gibt jedoch eine Reihe wichtiger Beschlüsse in diesem Bereich. Die kommunistische Herrschaft 1917–1991 wurde in der Ukraine als ein verbrecherisches Regime anerkannt, genauso wie die nationalsozialistische Herrschaft. Die Symbolik des Sowjetregimes wurde verboten (die Flagge, Hammer und Sichel, Denkmäler, Ortsnamen). Die Ukraine feiert den 9. Mai offiziell als den Sieg über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg, somit löst sie sich von der offiziellen sowjetischen Interpretation des „Großen Vaterländischen Krieges“.
Neben dem 9. Mai wurde der 8. Mai als Tag des Gedenkens und Versöhnung festgelegt. Die Archive aus der Zeit der sowjetischen Repressionen wurden geöffnet und das öffentliche Tragen des Sankt-Georgs-Bands, das unter Putin zum prorussischen Loyalitätssymbol wurde, ist verboten. Die Fernsehausstrahlung von Filmen und von Beiträgen, die die Verbrechen der UdSSR leugnen, ist ebenfalls verboten. Zudem veröffentlicht das Ukrainische Institut für nationales Gedenken regelmäßig Informationen, in denen die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges neu aufgearbeitet werden.
Die beschlossenen Gesetze bedeuten jedoch nicht, dass diese von der Gesellschaft auch flächendeckend unterstützt werden. Ein Teil der Ukrainer war eben lange dem Einfluss sowjetischer Mythen ausgesetzt. Sie verstehen die neue, veränderte Erinnerungskultur (noch) nicht und lehnen diese auch ab. In einer jüngst von uns erhobenen repräsentativen Umfrage gaben 53 Prozent der Befragten an, den 9. Mai für den „Tag des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg“ zu halten. Doch stimmen 56 Prozent der befragten Ukrainer zu, dass die Sowjetunion zusammen mit Nazi-Deutschland die Verantwortung für den Kriegsbeginn trägt. Auch finden 53 Prozent der Befragten, dass der Tag des Gedenkens und Versöhnung gefeiert werden muss. Dies bezeugt einen allmählichen Abgang von sowjetischen Dogmen.
Die Aktivitäten der prorussischen Massenmedien in der Ukraine verlangsamen die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Das russische Fernsehen wird in der Ukraine zwar blockiert, aber die ukrainischen prorussischen Medien werden selten auf ihre Gesetzeskonformität überprüft, und die Bußgelder sind nicht hoch genug.
Folglich sollte sich die Ukraine verstärkt auf die Popularisierung der modernen Interpretation des Zweiten Weltkrieges und auf die Neutralisierung der Informationsangriffe aus Russland konzentrieren. Dafür muss der Staat die bestehenden Gesetze systematisch durchsetzen und die unterschiedlichen staatlichen und nicht-staatlichen Akteure angemessen zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen, um klar prorussische Narrative zu hinterfragen und Propaganda als solche zu entblößen. Denn sollte die Ukraine diesen Krieg um die Köpfe der Menschen verlieren, wird sie ihre Unabhängigkeit von der Russischen Föderation nicht bewahren können. Sie würde damit Gefahr laufen, in die Umlaufbahn der russischen Welt zurückkehren. Russland müsste in diesem Fall nicht einmal mehr Gewalt anwenden.
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Ludmila Shnyr.
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