Ein Reisebericht aus Mariupol von Manuel Sarrazin
Manuel Sarrazin, Osteuropa-Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, besuchte vor kurzem Mariupol. Seine Einschätzungen zur aktuellen Lage hat er in diesem Reisebericht zusammengetragen.
Wer Mariupol erreichen will, erkennt sofort, wie sehr der Krieg das Leben im Oblast Donezk verändert hat. Die Kontaktlinie hat den Hafen, der sich noch heute stolz als „Tor zum Donbas“ bezeichnet, von seinem Hinterland abgeschnitten und den zentralen Umschlagplatz für das ostukrainische Industrierevier in eine periphere Randlage gebracht. Zu erreichen ist die Stadt heute nur über schlecht asphlatierte Nebenstrecken, der Flughafen liegt aufgrund der Nähe zur Kontaktlinie brach. Die Großstadt, nur rund 10 Kilometer von der Kontaktlinie entfernt, fühlt sich abgeschnitten von dem Rest der und der Welt.
In diese Ausgangslage hinein hat die russische Politik zunächst mit dem Bau der Brücke über die Straße von Kertsch und seit dem Frühjahr 2018 mit der Einführung schikanöser Wartezeiten bei der Durchfahrt ins Asowsche Meer das eindeutige Zeichen gesetzt, dass nun auch der Zugang Mariupols zu den Weltmeeren eingeschränkt wird bzw. jederzeit abgeschnitten werden kann. Hier soll nicht nur die Annexion der Krim in den sprichwörtlichen Beton der Brückenpfeiler gegossen werden. Hier handelt es sich um einen aggressiven Akt hybrider Kriegsführung. Diese verfolgt das Ziel, die ukrainischen Häfen zu schwächen, das Vertrauen in die ökonomische Zukunft der Region zu unterminieren und Druck auf die wirtschaftlichen und politischen Akteure vor Ort auszuüben.
Brücke von Kertsch als Flaschenhals für den Schiffsverkehr
Die aktuelle Lage stellt sich bei einem Besuch des Hafens Mariupol eindeutig dar: Die russischen Beschränkungen führen dazu, dass jedes einzelne die ukrainischen Häfen anlaufende Schiff mit signifikanten Verzögerungen zu rechnen hat. Darüber hinaus ist der Hafen durch den Bau der Brücke bei Kertsch mit einer geringen Durchfahrtshöhe von nur 33 Metern und einer einzigen schmalen Durchfahrt zudem durch die Ausweitung der Lotsenpflicht in der Straße von Kertsch strategisch benachteiligt. Während die russischen Häfen im Asowschen Meer aufgrund ihrer geringen Wassertiefe keine Nachteile erleiden, können bisher aus der Stadt Mariupol laufende Seetransporte von Stahl- und Eisenprodukten nicht mehr in Schiffen der Panama-Klasse den Hafen verlassen. Die Logistikkosten für diese Produkte steigen deutlich und die Marktposition der Stahlwerke wird geschwächt. Reeder, die nicht schon durch den Bau der Brücke die ukrainischen Häfen am Asowschen Meer aus ihren Routen gestrichen haben, werden die teuren Verzögerungen zum Anlass nehmen, das jetzt zu tun. So sind viele der rund 3500 Arbeitsplätze im Hafen in Gefahr. Russland versucht die Häfen von Mariupol und Berdjansk seewirtschaftlich auszutrocknen.
Mariupol ist Frontstadt im Kampf um die Zukunft der Ukraine
Um dieses Vorgehen des Kremls zu verstehen muss man einen Blick auf die Bedeutung von Mariupol richten. So knapp die Verteidigung der Stadt im Jahr 2014 beim Vormarsch russischer Truppen in der Ostukraine war, so klar ist, dass heute kaum jemand die Zukunft der Stadt auf der anderen Seite der Kontaktlinie sieht. Im Gegenteil: Die Stadt sieht sich als eine Art Frontstadt im Kampf um die Zukunft der Ukraine, deren Erfolg in Sachen Lebensqualität und Wohlstand ein Leuchtturm für den Erfolg der Ukraine sein kann. Jedem in der Stadt ist klar, dass bei einer Übernahme der Stadt durch die so genannte Volksrepublik weder die Stahlwerke weiterhin profitabel wirtschaften könnten, noch würde sich die Erreichbarkeit der Stadt verbessern. Im Gegenteil, die Stadt würde noch mehr abgeschnitten werden und die Menschen sehen, wie die reale Herrschaft in Donezk heute aussieht. Sie sehen dort keine „guten Oligarchen“, die, wie Rinat Achmetow, mit ihren Unternehmen eingebunden in einen internationalen Produktionsprozess sind, sondern viele halten die Machthaber dort für korrupte Banditen. Dabei bezahlen Hafen und Stahlwerke heute Löhne, die für ukrainische Standards ausgesprochen gut sind.
Mariupol hat als Stadt am Meer mit gut bezahlten Industriearbeitsplätzen trotz allem eine hohe Attraktivität, die offensichtlich von den Machthabern im Kreml als Gefahr für die Moral in den angrenzenden Dörfern und Städtchen gesehen wird. Der Versuch einer schleichenden Machtübernahme des Kremls in Mariupol ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Ukraine und ihre Partner in die Erreichbarkeit, die Lebensqualität und den Erfolg der Region Mariupol investieren. Jeder Euro, der heute in die Region fließt, zeigt, dass man an die Zukunft dort glaubt und stärkt gleichzeitig den Zusammenhalt der Menschen.
Neben den Investitionen in den Ausbau der Verkehrswege in Richtung Odesa und Saporischschja sind dabei Investitionen in den ökologischen Zustand der Industrieproduktion dringend notwendig. Wer den Industriestandort Mariupol dauerhaft sichern will, muss nicht nur die Frage einer verlässlicheren Stromversorgung beantworten, sondern vor allem dafür Sorge tragen, dass die Luftqualität in der Stadt besser wird. So lange mindern die ungefilterten Industrieabgase für jeden merklich die Lebensqualität in der Stadt.
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