Ähnlichkeiten und Unterschiede der estnischen und ukrainischen Sprachengesetze
Die Ukraine und Estland, einst Mitgliedsstaaten der Sowjetunion, haben mit einem Zeitunterschied von fast 30 Jahren Sprachengesetze verabschiedet. Beide Länder verfolgen jedoch ein ähnliches Ziel: die Sprachen der einheimischen Bevölkerung zu erhalten und deren Rolle zu stärken, in einem Land, in dem ein großer Teil der Gesellschaft Russisch spricht. Wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Gesetze? Eine Analyse von Yuliana Romanyshyn
Die Ukraine und Estland, einst Mitgliedsstaaten der Sowjetunion, haben mit einem Zeitunterschied von fast 30 Jahren Sprachengesetze verabschiedet. Beide Länder verfolgen jedoch ein ähnliches Ziel: die Sprachen der einheimischen Bevölkerung zu erhalten und deren Rolle zu stärken, in einem Land, in dem ein großer Teil der Gesellschaft Russisch spricht.
Beide Gesetze erklären eine Sprache zur einzigen Amtssprache des Landes. Die Sprachgesetzgebung gilt für das öffentliche Leben, staatliche Institutionen, das Gesundheitswesen und die Wirtschaft, wobei in den Bereichen Medien, Bildung und
Kultur unterschiedliche Ansätze verfolgt werden.
Infolge der Verabschiedung des Sprachengesetzes vor fast drei Jahrzehnten hat die Verwendung der estnischen Sprache zugenommen. Estland, ein Land, in dem hauptsächlich
Russisch gesprochen wurde, wurde zu einem Land, in dem im öffentlichen Leben, auf staatlicher und lokaler Regierungsebene, in Bildungseinrichtungen und in den Medien vorwiegend Estnisch verwendet wurde. In dem 1,3 Millionen Einwohner zählenden Land betrachten rund 922.000 Bürger Estnisch als ihre Muttersprache.
Für die estnische Regierung ist die Sprachfrage nach wie vor aktuell, da an der Grenze zu Russland eine große ethnische Minderheit von Russen lebt, die als ehemalige Sowjetbürger estnische oder graue Pässe besitzen. Wie in der Ukraine bleibt auch hier Russisch eine weit verbreitete Zweitsprache.
Sprache und Staatsbürgerschaft
Unter sowjetischer Herrschaft war Estnisch langsam aus dem öffentlichen Leben, dem Bildungswesen und den Medien verschwunden und durch Russisch ersetzt worden, sodass die Regierung beschloss, zu reagieren und die Sprachfrage zur Regierungsangelegenheit zu machen. Das erste estnische Sprachengesetz wurde vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1989 verabschiedet. Seit 1992 steht in der Verfassung, dass die estnische Sprache die einzige Landessprache sei und man anstrebe, sie gemeinsam mit dem estnischen Volk und der Kultur zu erhalten. Damals betrachtete weniger als die Hälfte der Einheimischen Estnisch als ihre Muttersprache, während die Mehrheit Russisch bevorzugte, das in allen Sowjetrepubliken gesprochen wurde.
Nach der Verabschiedung des Gesetzes war das Bestehen einer estnischen Sprachprüfung auf dem Niveau B1 obligatorisch, um die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Diejenigen, die vor der russischen Annexion 1940 in Estland lebten, sowie ihre Nachkommen erhielten automatisch die Staatsbürgerschaft. Für die übrigen Einwohner, vor allem aus anderen postsowjetischen Staaten, sah das Gesetz vor, dass sie die Sprachprüfung bestehen mussten, um nicht staatenlose Einwohner mit grauem Pass zu werden. Mit einem grauen Ausweis hat ein Einwohner kein Stimmrecht bei Parlamentswahlen und kein Recht auf Arbeit in der Europäischen Union, kann aber ohne Visum nach Russland reisen. Zum 1. Januar lebten in Estland über 76.000 staatenlose Einwohner, und diese Zahl nimmt von Jahr zu Jahr ab. Alle, die nach 1995 in Estland geboren wurden, erwerben die Staatsbürgerschaft mit der Geburt.
Obwohl das estnische Sprachengesetz seit seiner Verabschiedung abgeschwächt worden ist, blieb das Ablegen einer Sprachprüfung verpflichtend, um die Staatsbürgerschaft zu erlangen, wie auch Kenntnisse der Verfassung und des Staatsbürgerschaftsgesetzes.
In der postsowjetischen Zeit stellte die Ukraine die Staatsbürgerschaft automatisch und ohne Sprachprüfung allen Einwohnern zur Verfügung, die auf ihrem Staatsgebiet lebten. Das neu verabschiedete Gesetz verlangt jedoch, dass Ausländer oder Staatenlose ab 2021 einen Sprachtest ablegen, um die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Es soll eine Nationale Kommission für ukrainische Sprachstandards gegründet werden, die mit der Entwicklung einer Prüfungsordnung und der Durchführung der Prüfungen beauftragt werden soll. Eine Ausnahme gilt für diejenigen, die hervorragende Dienste für die Ukraine geleistet haben.
Sprachregelungen
Das ukrainische Sprachengesetz tritt im Juli in Kraft und sieht für bestimmte Kategorien einen mehrjährigen Übergang vor. Das Dokument war jedoch Gegenstand von Kontroversen bei pro-russischen Politikern, einigen Medien und Bildungseinrichtungen. Präsident Wolodymyr Selenskyj versprach, eine „gründliche Analyse“ des Gesetzes vorzulegen sowie eine Analyse durch die Venedig-Kommission des Europarates.
Ähnlich wie in Estland sieht das ukrainische Sprachengesetz vor, dass die ukrainische Sprache die Sprache der Gesetzgebung, der staatlichen Behörden und Beamten, der Armee, der Gerichte, der medizinischen Einrichtungen und der Strafverfolgung sein muss. Die krimtatarische Sprache soll eine Ausnahme auf der derzeit von Russland besetzten Krim sein.
In der Praxis bedeutet dies, dass jeder das Recht hat, Informationen in schriftlicher oder mündlicher Form auf Ukrainisch bzw. Estnisch zu erhalten. Wenn eine Person behauptet, die Sprache nicht zu sprechen, können die Parteien eine andere Sprache wählen, die für beide geeignet ist. Nach ukrainischem Recht ist auch der Einsatz eines Dolmetschers erlaubt.
Wie das ukrainische Recht verlangt auch das estnische, dass alle gewerblich genutzten Websites, die Speisekarten in Restaurants und Informationen für die Öffentlichkeit zuerst in Estnisch verfasst werden müssen. Zusätzlich kann eine weitere Sprachversion erstellt und verwendet werden, aber Estnisch sollte die erste Sprachversion bleiben.
Sprachaufsichtsbehörde
Nach estnischem Recht hat jeder Anspruch darauf, eine Dienstleistung zuerst auf Estnisch zu erhalten, aber nicht jede Institution hält sich an diese Regelung. Eine staatliche Behörde,
die Sprachaufsichtsbehörde, ist seit 1990 damit beauftragt zu prüfen, wie öffentliche Unternehmen die Anforderungen erfüllen, und bei Verstößen Geldbußen zu verhängen. Wenn ein Aufsichtsbeamter eine Beschwerde über eine schlechte Dienstleistung in Estnisch erhält, erteilt er eine Verwarnung, gefolgt von einer Geldstrafe.
Ilmar Tomusk, Leiter der Behörde seit 1995, sagt, dass die Behörde ihren Ansatz mit der Zeit abgeschwächt hat und sich nun auf Beratung und Lehre konzentriert, anstatt ausschließlich Geldstrafen zu verhängen. Die Geldstrafen, die eine Person bisher daran hindern konnten, einen Bankkredit zu erhalten, werden nun durch eine Strafzahlung ersetzt – eine Strafe in geringer Höhe, die nicht registriert wird. Die durchschnittliche Höhe einer Strafzahlung beläuft sich auf 60 bis 70 Euro, der Maximalbeträgt beläuft sich auf 640 Euro.
Aufgrund des Arbeitskräftemangels reduziert die Behörde oft die Sprachanforderungen, da die Arbeitgeber Schwierigkeiten haben, estnischsprachige Mitarbeiter zu finden, so Tomusk.
„Alles läuft sehr langsam, aber friedlich“ so Tomusk, der hinzufügt, dass langsame Veränderungen weniger Widerstand hervorrufen.
Was die Ukraine betrifft, so wird der Sprachbeauftragte die Durchsetzung des Gesetzes überwachen. Nach Ablauf der dreijährigen Übergangszeit werden Verstöße mit Geldstrafen in der Größenordnung von 110 bis 390 Euro geahndet.
Die wichtigsten Unterschiede
Das ukrainische Sprachdokument ist in Bezug auf das kulturelle Leben, die Medien und die Bildung strenger als das estnische.
Die estnische Sprache muss die Hauptsprache der staatlichen öffentlichen Medien sein. Wenn die Zielgruppe eines Mediums eine Sprachminderheit ist, darf in der Sprache einer Minderheit gedruckt oder gesendet werden. Print- und Online-Publikationen müssen dagegen entweder ausschließlich auf Ukrainisch oder mit einer ukrainischen Sprachversion erfolgen. Dies gilt nicht für Krimtatarisch, Englisch und die Amtssprachen der Europäischen Union. Das Dokument fordert auch 80 bis 90 % ukrainischsprachige Inhalte für nationale und regionale Fernseh- und Radiosender.
In Estland werden heute Filme in Estnisch, Englisch oder Russisch mit estnischen Untertiteln gezeigt. Nach ukrainischem Recht muss von Kinofilmen eine ukrainische Synchronfassung erstellt werden. Bis zu 10 % der fremdsprachigen Filme im Programm eines Kinos dürfen untertitelt werden.
Mindestens die Hälfte der Bücher muss auf Ukrainisch veröffentlicht werden, und die Hälfte der Bücher in den Buchhandlungen muss in Ukrainisch verfasst sein. In estnischen Buchhandlungen sind heutzutage Bücher größtenteils in estnischer Sprache zu finden, aber auch eine große Vielfalt an russisch- und englischsprachigen Büchern ohne spezifische Quoten.
Bildung
Das Gesetz verpflichtet alle Schulen und Universitäten, in Ukrainisch zu unterrichten, mit einigen Ausnahmen für den Unterricht in der Sprache der ethnischen Minderheit, in Englisch und den Amtssprachen der EU.
Das estnische Recht verlangte zunächst, dass die Schulausbildung vollständig in estnischer Sprache erfolgt; später wurden die Anforderungen jedoch reduziert. Seit 2014 sollte mindestens 60 % des Unterrichts an staatlichen Schulen auf Estnisch durchgeführt werden. Aber in der Praxis funktioniert dies oft nicht in hauptsächlich russischsprachigen Städten.
In Narva, einer Stadt mit 57.000 Einwohnern jenseits des Flusses von Russland im Osten Estlands, sind 97 Prozent der Bürger russischsprachig. Von neun Schulen unterrichtet nur eine vollständig auf Estnisch, während die anderen oft Russisch als Unterrichtssprache verwenden.
„Einige Monate nach dem Abschluss sehen wir sie (die Schüler russischer Schulen) in Maxima-Läden (einer Supermarktkette) arbeiten und überhaupt kein Estnisch sprechen“, sagt der Leiter der Sprachaufsichtsbehörde, Tomusk.
Die Ausbildung an den Hochschulen erfolgt fast vollständig in estnischer Sprache, mit Ausnahme von mehreren russisch- und einigen englischsprachigen Studiengängen.
Um zur Einschreibung berechtigt zu sein, sollte eine Person entweder einen Schulabschluss von einer Schule mit Estnisch als Unterrichtssprache vorweisen können oder eine Sprachprüfung absolvieren.
Sprachunterricht
Da Estnisch zu den finno-ugrischen Sprachen gehört, hat es nichts mit dem Russischen oder anderen slawischen Sprachen gemein, was das Lernen erschwert. Um diesen Prozess zu vereinfachen, führte die Regierung eine Reihe von kostenlosen Sprachkursen sowie bezahlte Kurse mit einem System der vollständigen Rückerstattung ein. Oftmals sind die Plätze innerhalb von Tagen belegt.
Es ist nicht festgelegt worden, wie der ukrainische Sprachunterricht erfolgen muss, aber das Sprachengesetz sieht vor, dass ein Netzwerk von Sprachkursen aufgebaut werden muss und Mittel für den Druck von Lehrbüchern für diejenigen bereitzustellen sind, die bereit sind zu lernen.
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