Rezension Bellingcat-Podcast
Was ist beim Abschuss des Passagierflugs MH17 wirklich passiert? Das investigative Netzwerk „Bellingcat“ geht dieser Frage seit fünf Jahren nach und arbeitet seine Recherchen in einem eigenen Podcast auf. Von Daniela Prugger
„Im Grunde war es eine schreckliche Szene, wie von Hieronymus Bosch. Und die Aufräumarbeiten waren eigentlich nicht vorhanden . Sie wurden von einer Gruppe von ungefähr zehn Männern mit Waffen bewacht, von denen einige betrunken waren. Der Anführer nannte sich Commander Grumpy.“ – Max Seddon, Moskau-Korrespondent Financial Times
Der Krieg in der Ostukraine ist erst wenige Monate alt, als über dem Land ein geopolitischer Sturm aufzieht. Am 17. Juli 2014 wird das Flugzeug MH17 auf seinem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über dem Gebiet von Donezk abgeschossen, 298 Menschen werden dabei getötet. Die Weltgemeinschaft verlangt Antworten auf die Frage, wer dafür verantwortlich ist. Russland, die Ukraine oder die Separatisten in der Ostukraine? Doch was dann geschah, kommt einem Informationskrieg gleich.
Im Rahmen einer Pressekonferenz am 21. Juli 2014 präsentiert das russische Verteidigungsministerium angebliche Beweise: Fotos, die bearbeitet wurden. Zweifelhafte Radardaten. Fiktive Informationen über ukrainische Kampfflugzeuge. Statt Aufklärung zu leisten beginnt die russische Propagandamaschine auf Hochtouren zu arbeiten.
In den Wochen nach dem Unglück fluten Internettrolle Twitter und andere soziale Netzwerke auf eine beinahe beispiellose Art und Weise mit Gerüchten, Verschwörungstheorien, gefälschten Tondokumenten und manipulierten Satellitenbildern.
Als die ukrainische Regierung Vermutungen darüber äußert, dass eine Rakete des sowjetischen Flugabwehrsystems „Buk“ zum Absturz von MH17 geführt habe, wird das investigative Netzwerk Bellingcat aktiv.
„Vor fünf Jahren habe ich mein Kollektiv für investigativen Journalismus gegründet. MH17 wurde nur wenige Tage danach abgeschossen. In diesem Sinne hat sich diese Geschichte immer sehr persönlich angefühlt. Und in gewisser Weise ist die Geschichte von MH17 die Geschichte von Bellingcat.“ – Eliot Higgins, Gründer von Bellingcat
Von Anfang an verschrieb sich das Team rund um den britischen Netzaktivisten Eliot Higgins der Suche nach der Wahrheit darüber, wer hinter dem Abschuss des Flugzeugs steckt. Systematisch wird nach Postings, Bildern und Fotos mit Hinweisen auf den Raketenwerfer gesucht. Und tatsächlich wird Bellingcat fündig.
Dank der Daten, die ostukrainische Facebook- und Twitter-Nutzer im Zeitraum vor dem Unglück veröffentlicht haben, erstellt Bellingcat eine Zeitleiste. Eine Fährte, die zeigt, wie sich ein Konvoi mit einem Raketenwerfer Stunden vor dem Absturz durch die Ukraine bewegt. Und was Bellingcat außerdem nachweist, ist, dass die Spuren in die russische Stadt Kursk führen.
Bellingcat ist kein klassisches investigatives Netzwerk vonJournalisten, sondern hat sich auf Faktencheck und Open Source-Investigationen spezialisiert, also auf die Arbeit mit Informationen, die im Grunde jeder Internetuser auf Google, Twitter, Facebook oder öffentlichen Webcams finden kann. Es sind Recherchen, die auch das Team selbst zum Angriffsziel machen.
Im Laufe der Recherchen sah sich Bellingcat mehreren Cyberattacken ausgesetzt. Im September 2016 etwa bemerkte Higgins Versuche, seinen E‑Mail-Account zu hacken. Ein Cybersecurity-Experte konnte eine Verbindung zwischen den E‑Mails und einem russischen Hackerkollektiv feststellen, das unter dem Namen „Fancy Bear“ agiert.
Nun, fünf Jahre später, fasst Bellingcat seine Recherchen und die Ereignisse in einem sechs-teiligen Podcast zusammen. Higgins, der sein Netzwerk nur drei Tage vor dem Absturz von MH17 gegründet hat, führt durch die Episoden.
„Wie wird jemand ein nackter Leichnam? Beim Sturz muss die Kleidung abgestreift worden sein. Viele dieser Leute sahen aus wie Schaufensterpuppen. Andere wurden völlig auseinandergerissen.“ - Christopher Miller, Kyjiw-Korrespondent für Radio Free Europe/Radio Liberty
Die erste Episode bringt die Hörer direkt an den Unfallort, ein Sonnenblumenfeld, in welchem die menschlichen Überreste der Passagiere und ihre Gepäckstücke verstreut lagen. Was sie dort gesehen haben, erzählen internationale Korrespondenten, die wenige Stunden nach dem Unglück vor Ort waren.
Der zweite Teil widmet sich dem russischen Narrativ zum Vorfall. Experten ordnen die historischen Ereignisse in den damaligen politischen Kontext ein. Und Higgins erklärt die Recherchemethoden, danke welcher Bellingcat die Lügen enttarnt hat, die über den Tathergang verbreitet wurden.
In Teil drei nimmt Higgins die Hörer mit auf die Suche nach dem Abschussort der Rakete. Die Episoden vier und fünf widmen sich den Tätern. Bellingcat analysiert die Stimmen der Telefongespräche, die der ukrainische Sicherheitsdienst (SBU) nach dem Absturz veröffentlicht hat und versucht, die Verdächtigen zu entlarven.
Einer von ihnen ist Wladimir Zemach, ein ukrainischer Staatsbürger, der im Juli 2014 eine Luftabwehreinheit im Donbass kommandiert haben soll. Ende Juni 2019 wurde er vom ukrainischen Geheimdienst entführt und im September im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen Russland und der Ukraine wieder freigelassen.
Die sechste und letzte Episode widmet sich unter anderem den Familien der Verstorbenen. 193 Opfer stammten aus den Niederlanden, wo die Freilassung von Zemach für Empörung gesorgt hat.
„Im November 2014 mussten wir eine Beerdigung arrangieren. Aber es war eine Beerdigung für meine Schwägerin und meinen Neffen, aber nicht für meinen Bruder. Wir hatten zwei Särge und drei Fotos. Zum Zeitpunkt der Beerdigung landete ein weiteres Flugzeug mit neuen menschlichen Überresten. Und wir hofften, dass die menschlichen Überreste meines Bruders darunter sind. Aber das waren sie nicht.“ – Piet Ploeg hat beim Abschuss seinen Bruder, seine Schwägerin und seinen Neffen verloren
Manche der Hinterbliebenen, die plötzlich Teil eines geopolitischen Konflikts waren, erhielten im Jahr 2014 nach dem Unglück nichts außer der Nachricht über den Tod des Familienmitglieds: keinen Leichnam, keine persönlichen Gegenstände, keine Erklärung. Heute, Jahre später, kämpfen sie noch immer für Gerechtigkeit.
Mittlerweile hat die niederländische Justiz in vier Fällen Anklage erhoben – gegen drei russische und einen ukrainischen Staatsbürger. Der Prozess gegen die vier Männer soll am 9. März 2020 im Gerichtsgebäude Schiphol im niederländischen Badhoevedorp stattfinden.
Das niederländische Parlament in Den Haag fordert nun auch, dass die Rolle der Ukraine bei der Katastrophe untersucht werden soll.Die offizielle Position der russischen Regierung hat sich nicht verändert: Sie bezeichnet den Vorwurf, dass das Flugabwehrsystems „Buk“ aus Russland kam, als haltlos.
Der Fall MH17 ist noch immer nicht abgeschlossen. Die Ereignisse haben sich in den vergangenen fünf Jahren überschlagen. Viele Informationen über den Abschuss von MH17 haben sich als unwahr herausgestellt. Und die Angehörigen haben noch immer keine zufriedenstellenden Antworten über den Tathergang und die Motive der Täter erhalten.
All das fasst Bellingcat in den jeweils halbstündigen Podcast-Episoden zusammen. Das Ergebnis ist eine hochspannende Dokumentation zum Anhören, die u.a. auf der Webseite von Bellingcat, Spotify und iTunes abrufbar ist.
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