Zwischen Krieg und Wirtschaftskrise
Seit fünf Jahren herrscht in der Ostukraine Krieg. Die Region Luhansk hat beinahe die Hälfte ihres Territoriums an von Russland unterstütze Separatisten verloren. Viele Unternehmen schließen, die Arbeitslosigkeit steigt, die Straßen verfallen. Ein Lokalaugenschein.
Der blaue Van ruckelt über die Straße, die laut Yevhenii Vasyliev zu den schlechtesten in der ganzen Ukraine zählt. Hier hat der Asphalt keine Risse, es sind eher Krater, die der Fahrer geschickt umschifft und die entgegenkommenden Fahrzeuge gleich mit. Eigentlich gibt zwei Fahrspuren, aber hier fährt jedes Auto Slalom. Langsam müht sich der Van über die Landstraße, neben der vereinzelt einstöckige Häuser stehen, vor denen die Hühner gackern.
„Wo bleiben die Straßen“?, steht auf den Plakaten, die eingerollt auf der Rückbank liegen und die Vasyliev wenig später hochhalten wird. Der 37-Jährige ist Aktivist und Hilfsarbeiter der Organisation Vostok SOS, die an diesem Tag kurz vor den Parlamentswahlen zum Protest aufgerufen hat. Vasyliev will, dass sich das Leben in der östlichsten Region der Ukraine, dem Oblast Luhansk, verbessert. Er sagt: „Wenn wir neue Unternehmer und Institutionen anlocken wollen, brauchen wir hier gute Straßen.“
Der schlechte Zustand der Straßen gilt sichtbarstes Zeichen der herrschenden Korruption
Als der Wagen in einem verschlafenen Dorf anhält, haben sich bereits etliche Menschen versammelt. Nur die Kirschbäume spenden Schatten an diesem drückend heißen Morgen. Den drei lokalen Politikern und Beamten in spitzen Lederschuhen und kurzärmeligen Hemden treibt die Sonne Schweißtropfen auf die Stirn. Vielleicht sind es aber auch die drei älteren Frauen in geblümten Kleidern, die sie ins Schwitzen bringen. Denn die „Babushkas“, wie die Damen genannt werden, reden laut und fuchtelnd auf die Männer ein. Sie wollen Antworten: Wer ist verantwortlich dafür, dass die Straßen in der Gegend in diesem miserablen Zustand sind, nach all den jahrelangen Wahlversprechen?
„Der Straßendienst repariert die Straßen besonders oft, wenn es regnet oder schneit, weil sich der Zustand der Straße dann schnell wieder verschlechtert. Dann können sie die Straßen wieder und wieder reparieren. Damit lässt sich viel Geld machen“, erklärt die Ökonomin Inna Semenenko, für die die Straßen in der Region eines der sichtbarsten Zeichen für das hohe Maß an Korruption sind.
Semenenko hat rote Haare, die ihr in weichen Locken über die pastellrosa Bluse fallen. Ihr Smartphone hat sie stets griffbereit, es klingelt alle paar Minuten. Im Jahr 2014, als der Krieg unweit von hier ausbrach, musste sie fliehen. Mit kaum mehr als einem kleinen Koffer voller Sommerkleider kam sie in die neue Hauptstadt der Region, Sewerodonezk. Heute ist sie die Leiterin der Abteilung für Wirtschaftswissenschaften und Entrepreneurship an der hiesigen Universität.
Die wirtschaftliche Situation der Region verschlechterte sich seit Kriegsbeginn dramatisch
Seit Jahren beobachtet die 36-Jährige, wie sich die Wirtschaft in Luhansk entwickelt. Ihr Fazit: „Die Situation hier hat sich seit Kriegsbeginn dramatisch verändert. Die Region hat viel von ihrem industriellen Potential verloren.“ Lag das Bruttoregionalprodukt im Jahr 2014 noch bei 58 Mrd. Hrywna (UAH), waren es 2017 nur noch 30 Mrd. UAH. Nur wenige Unternehmen seien in der Region in den vergangenen Jahren gegründet worden. Das Gegenteil ist der Fall: Viele kleine und mittelständische Unternehmen schließen, die Arbeitslosigkeit nimmt zu und die jungen Menschen ziehen fürs Studium nach Kyjiw, wandern nach Russland oder in die EU aus.
Bevor der Krieg im Jahr 2014 ausbrach, war Luhansk eine Industrieregion und der wichtigste Handelspartner für die Unternehmer war Russland. Die Industriezweige reichten vom Kohleberg- und Maschinenbau über die chemische Industrie bis hin zur Lebensmittelindustrie. Doch die größten Fabriken, die meisten Kohlengruben und die gleichnamige Hauptstadt der Region, das ehemalige Wirtschaftszentrum „Luhansk“, befinden sich heute im Separatistengebiet. Das Gebiet der selbst proklamierten „Volksrepublik Lugansk“ wird nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert. Der Krieg hat dazu geführt, dass der von der Ukraine kontrollierte Teil in der Region fast die Hälfte seines Territoriums verloren hat. Heute leben in der Region Luhansk rund 2,2 Millionen Menschen.
Zwar gibt es viele internationale Organisationen, die versuchen hier etwas zu bewirken. Aber das alles ist ein langwieriger Prozess. Mehr Transparenz und ein vollständiger Wechsel der Leiter in den Strafverfolgungsbehörden könnten laut Semenenko im Kampf gegen die Korruption helfen.
Besonders für die Binnenvertriebenen, von denen es laut den Vereinten Nationen in der gesamten Ukraine mehr als 1,5 Millionen gibt, sei es schwierig, eine Arbeit zu finden. Etwa 58.000 sollen allein in Sewerodonezk gemeldet sein. „Viele, die aus [der Stadt] Luhansk kommen, sind besser ausgebildet und schaffen Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Sie haben oft eine Arbeit erlernt, für die es hier in Sewerodonezk gar keine Stellen gibt.“
Der Umstand, dass noch immer kein Ende des Konflikts in Sicht ist, hält viele dieser Binnenvertriebenen davon ab, nach vorne zu blicken, sagt Olga Lishyk, Projektspezialistin bei UN Women. „Und selbst wenn es ein Ende gäbe – viele, die nach Sewerodonezk geflohen sind, haben in den Separatistengebieten ihre Wohnungen, Häuser und Angehörigen verloren. Diese Erinnerungen bleiben.“
Die 40-jährige arbeitete selbst zwölf Jahre lang in der Stadtverwaltung von Sewerodonezk. „Für Sewerodonezk war der Krieg natürlich auch eine Chance“, sagt sie. Neue Shops haben eröffnet und Restaurants, deren Speiseangebot von Sushi bis Pizza reicht. Leerstehende Gebäude werden wieder genutzt. Hilfsorganisationen bieten Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung an. „Doch die Stimmung in diesem Gebiet ist nach wie vor deprimierend. Schon vor dem Krieg gab es hier kein Budget, die Menschen hatten keine Jobs und kein Geld“, sagt Lishyk.
Zwar sind die Gehälter in den vergangenen Jahren angestiegen – auch, weil das gesetzliche Mindestgehalt erhöht wurde. Doch muss bedacht werden, dass ein Gehalt von rund 3.000 UAH im Jahr 2014 etwa 370 US-Dollar entsprach und ein Gehalt im Jahr 2016 von 4.500 UAH nur noch 160 US-Dollar entspricht. „Am wichtigsten ist es, die Menschen aus ihrer Passivität herauszubringen“, sagt sie.
Die Frauen übernahmen Funktionen, die normalerweise von Männern ausgeführt wurden
Als der Krieg ausbrach, verließen viele Männer, die in der Verwaltung, im Sicherheitsdienst und in der Politik arbeiteten, die Region. Manche, weil sie die prorussischen Separatisten unterstützen. Manche, weil sie selbst korrupt waren. Manche, weil sie nicht wussten, welche Zukunft sie in der post-Maidanschen Ukraine haben werden. „Sie sind geflohen oder haben sich versteckt. Und dann haben wir Frauen einen Großteil der Funktionen übernommen.“ Vor allem als freiwillige Helferinnen waren die Frauen aktiv – sie haben Schlafplätze organisiert, Medikamente und Lebensmittel besorgt.
Doch leider ist es besonders für Frauen schwierig, in der Politik etwas zu bewirken, sagt Lishyk. „Wer hier in die Politik geht muss stark sein. Nicht nur, weil es sich um ein Kriegsgebiet handelt. Man muss hier zeigen, dass man ein Anführer sein kann.“
Lishyk sagt, dass es zwei treibende Kräfte in der Region gibt: die alte Garde der Politiker, die teilweise für den Konflikt mitverantwortlich gemacht wird. Und die Gruppe jener, die seit dem Krieg im Bereich der Nichtregierungsorganisationen arbeiten. Doch bis sich das politische System und die Strukturen verändern, hier, fast zehn Autostunden vom politischen Zentrum Kiew entfernt, muss noch viel passieren.
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