Wie Russland auf der besetzten Krim die Krimtataren verfolgt
Seit der Annexion der Krim im März 2014 lässt der Kreml auf der Halbinsel Krimtataren verfolgen und verhaften. Während sich die Situation der Menschenrechte auf der Krim stetig verschlechtert, ist dort kein Krimtatare mehr sicher, ob jung oder alt. Von Vitalii Rybak
#PrisonersVoice erscheint in Kooperation mit Internews Ukraine und ist Teil der globalen Kampagne für die Befreiung politischer Gefangener vom Kreml.
Am 24. Juli 2020 kam es im Dorf Strohanowka auf der Krim zu einem folgenschweren Zwischenfall. Der drei Jahre alte Musa Suleymanow verschwand von einem Spielplatz in der Nähe seines Hauses. Tausende Menschen halfen bei der Suche, aber fanden den Jungen auch am 25. Juli nicht. Am folgenden Tag wurde die Leiche des Kindes in einer Jauchegrube unweit seines Dorfes gefunden.
Die russische „Polizei“ sprach von einem tragischen Unfall. Viele Krimtataren, darunter der Mejlis der Krimtataren, glauben aber nicht an die offizielle Version. Denn Helfer hatten die Jauchegrube schon am ersten Tag durchsucht, unmittelbar nachdem der Junge verschwunden war, und dort nichts gefunden. Refat Tschubarow, der Vorsitzende des Mejlis schrieb auf Facebook, dass „der Ort, wo Musas Leiche gefunden wurde und die Umstände seines Todes Fragen aufwerfen, die nach seiner Beerdigung beantwortet werden müssen.“
Musa Suleymanow war der jüngste Sohn von Ruslan Suleymanow, einem Journalisten, der bei der Bürgerrechtsbewegung Krim Solidarität arbeitet. Suleymanow wurde am 27. März 2019 zusammen mit 22 anderen Aktivisten im Zusammenhang mit dem so genannten Zweiten Hizb ut-Tahrir Fall verhaftet. Auch der ältere Bruder des Journalisten, Eskender Suleymanow wurde drei Monate später verhaftet. Obwohl sich der Journalist Ruslan Suleymanow nur zwanzig Minuten entfernt von seinem Heimatdorf Strohanowka in Untersuchungshaft befand, durfte er nicht zur Beerdigung seines kleinen Sohnes, die am 27. Juli 2020 stattfand.
Die Mehrheit der vom Kreml inhaftierten Krimtataren wird von Russland beschuldigt, der Organisation Hizb ut-Tahrir anzugehören.
Dabei handelt es sich um eine internationale, pan-islamische Organisation, die in den meisten Ländern, darunter der Ukraine, legal ist [die Organisation ist seit 2003 in Deutschland verboten. Anm. der Red.]. Allerdings wurde Hizb ut-Tahrir 2003 in Russland verboten. Dabei ist Hizb ut-Tahrir in keiner Weise extremistisch. „Krimtataren sind nur an friedlichen Bewegungen beteiligt. Der russische FSB brandmarkt Tataren als Terroristen, um internationale Unterstützung für die ethnische Minderheit und den Mejlis zu verhindern“, sagt Alim Alijew, Manager von The Crimea House. Allerdings würde es in das Konzept Russlands passen, wenn die Krimtataren gewaltsam Widerstand leisteten. Dann hätte der Kreml nämlich einen Vorwand, um den Protest mit allen Mitteln zu zerschlagen. Jedoch protestierten Krimtataren im Laufe der Geschichte nur mit friedlichen Mitteln gegen russische Unterdrückung. So initiierten die Krimtataren nach dem Tod von Stalin 1956 einen friedlichen Bürgerprotest gegen die Sowjetunion. Basierend auf dieser Erfahrung verläuft auch der Protest gegen die russische Besatzung der Krim friedlich.
Das einzige Verbrechen, das Journalist Ruslan Suleymanow begangen hat, war die Unterstützung anderer, von Russland inhaftierter Krimtataren und Ukrainer. Am 21. Februar 2017 wurde Suleymanow mit zehn weiteren Aktivisten für fünf Tage in Arrest gesteckt, weil er eine bewaffnete Hausdurchsuchung bei einem Krimtataren gefilmt und im Internet gestreamt hatte. Das Haus des betroffenen Krimtataren, Marlen Mustafajew, wurde nur deshalb durchsucht, weil dieser zuvor in sozialen Medien Kritik an Russland geäußert hatte. Journalist Ruslan Suleymanow wurde im Oktober 2017 erneut verhaftet und mit einer Geldstrafe belegt, weil er auf einer friedlichen Demonstration ein Plakat mit der Aufschrift zeigte: „1944 deportierten sie uns, jetzt verhaften sie uns.“ Das Plakat bezog sich auf die Deportation der Krimtataren durch Stalin, die am 18. Mai 1944 begann. Mehr als 240.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen und wurden in die zentralasiatischen Republiken der UdSSR umgesiedelt. Die Krimtataren leisten in der Sowjetunion friedlichen Widerstand gegen die Zwangsumsiedlungen und wurden dabei von der Diaspora unterstützt. Der friedliche Protest hatte Erfolg, und die Tataren durften schließlich 1989 auf die Krim zurückkehren.
Die Annexion der Krim 2014 erinnert in vielerlei Hinsicht an die Ereignisse von 1944. Denn inzwischen mussten mehr als zwanzigtausend Krimtataren ihre Heimat verlassen und in den unbesetzten Teil der Ukraine fliehen.
Diejenigen, die nicht fliehen konnten oder wollten, finden sich in einem rechtlichen „Niemandsland“ wieder. Der Kreml trägt immer wieder Konflikte mit Moslems aus, zum Beispiel in Tschetschenien. Deshalb werden in Russland auch Krimtataren automatisch als „Terroristen“ stigmatisiert. Der russische Inlandsgeheimdienst kann deshalb jede beliebige Person verhaften und verfolgen. Bei Hausdurchsuchungen darf zum Beispiel kein Rechtsbeistand anwesend sein, und Verhaftungen erfolgen meistens gewaltsam.
Mehrere weitere Fälle zeigen, wie Russland gegen die Krimtataren vorgeht.
Server Mustafajew, ein Mitarbeiter der Bewegung Solidarität, wurde am 21. Mai 2018 vom russischen Inlandsgeheimdienst verhaftet. Er hatte zuvor Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Gerichtsverhandlungen gegen Krimtataren gefilmt und live ins Internet gestellt. Mustafajew wurde beschuldigt, einer lokalen Zelle von Hizb ut-Tahrir anzugehören und bei Simferopol in Untersuchungshaft gesteckt. Wie viele andere inhaftierte Krimtataren wurde Mustafajew in einer Psychiatrie zwangsuntersucht. Die Bewegung Solidarität betrachtet Mustafajews Verhaftung als Form der Verfolgung und als „Unterdrückung der Gesellschaft als Ganzes.“
Ähnlich erging es auch dem Menschenrechtsaktivisten Emir-Usein Kuku, der im Februar 2016 verhaftet und dem ebenfalls Mitgliedschaft bei Hizb ut-Tahrir vorgeworfen wurde. Vor seiner Haft wurde Kuku von Beamten des russischen FSB geschlagen, weil er sich als Aktivist betätigt hatte. Kuku wurde beschuldigt, „Handlungen zur Vorbereitung einer gewaltsamen Machtübernahme oder der gewaltsamen Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung“ begangen zu haben. Nachdem er drei Jahre in Rostow am Don in Untersuchungshaft saß, wurde er am 12. November 2019 von einem Militärgericht in Rostow zu 12 Jahren Haft verurteilt. Am 25. Juni 2020 bestätigte das Obermilitärgericht in Wlassicha die Haftstrafe.
Bei der Verhandlung vor dem Militärgericht am 25. Juni sagte Emir-Usein Kuku: „Wir wurden verurteilt, weil wir unser Recht erklärt haben, auf der Krim zu leben, im Land unserer Vorfahren, im Einklang mit dem Islam, und weil ich ein Krimtatare und Moslem bin. Und weil ich die üble und ungerechte Herrschaft über mein Land nicht akzeptiere.“ Diese Aussage beschreibt klar und deutlich, was Krimtataren unter der Annexion durchmachen müssen. Einfache Menschenwerden in ihrem eigenen Land verfolgt, mit wenig Hoffnung auf Hilfe, abhängig von der Gnade der Eroberer.
Die dargestellten Schicksale stellen nur einen Bruchteil der Fälle illegaler Verhaftungen dar. Zum August 2020 befinden sich rund 100 Krimtataren und Ukrainer auf der Krim und in Russland illegal in Haft. Die komplette Liste ist hier abrufbar.
Mehr Hintergründe über die „Gefangenen des Kreml“ gibt es beim #PrisonersVoice Projekt. In einer mobilen App berichten die ehemaligen politischen Häftlinge Oleh Senzow, Oleksandr Koltschenko und Wolodymyr Balukh über ihre Gefangenschaft. Die App verwandelt mittels Virtual Reality deinen Raum in eine Gefängniszelle. Damit kann der Nutzer die Gefangenschaft der Erzähler nachempfinden.
Für den Inhalt der einzelnen Artikel in der Reihe „PrisonersVoices“ sind die jeweils benannten Autoren verantwortlich. Die Inhalte der Artikel spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.
Diese Veröffentlichung wurde von Internews Ukraine mit Unterstützung der Ukrainischen Kulturstiftung und dem Zentrum für Bürgerrechte und anderer Partner erstellt. Die Meinung der Ukrainischen Kulturstiftung muss nicht zwingend mit der Meinung des Autors / der Autorin übereinstimmen.
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