Wie wir anhand Oleh Senzows Geschichte das Schicksal ukrainischer politischer Gefangener in Russland verstehen können
Der ukrainische Filmemacher Oleh Senzow, der 2014 auf der Krim verhaftet worden war, zählte zu den bekanntesten politischen Gefangenen in Russland. Ein Jahr nach seiner Entlassung erinnert sich der Regisseur an seine Gefangenschaft noch lebhaft und deutlich. Mit seiner Arbeit kämpft er heute für die Freilassung anderer Gefangener, die weiterhin aus politischen Gründen in Russland in Haft sitzen. Von Iryna Matviyishyn
#PrisonersVoice erscheint in Kooperation mit Internews Ukraine und ist Teil der globalen Kampagne für die Befreiung politischer Gefangener vom Kreml.
Oleh Senzow war unter den 11 politischen Gefangene und den 24 Seeleuten, die am 7. September 2019 bei einem Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine freikamen. Seitdem erinnert Senzow unentwegt an andere Inhaftierte, die sich immer noch in der Hand Moskaus befinden.
Einige Tage nach seiner Freilassung sprach Senzow auf der Yalta European Strategie Konferenz in Kyjiw, wo er dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ein ungewöhnliches Geschenk überreichte. Einen Plastikkrug, auf den Senzow blau-gelbe Streifen aufgeklebt hatte, die Farben der ukrainischen Nationalflagge. Auch die Gefängnismarke aus Russland befand sich in dem Krug, den Senzow im Gefängnis zum Teetrinken benutzte, und den er als Symbol nutzte, um etwas Hoffnung zu schöpfen. „Das war für mich ein sehr wertvolles Ding, weil ich es in der ersten Woche in Lefortowo [Anm: Gefängnis in Moskau] gemacht habe und immer bei mir trug“, erinnert sich Senzow gegenüber #PrisonersVoice. „Für mich war der Krug ein Symbol meines Landes, meines Kampfes, im bildhaften Sinn.“
Vor kurzem wurde Senzow Teil des #PrisonersVoice Projektes. Das Projekt visualisiert und vertont die Geschichte und Eindrücke des Regisseurs mit einer mobilen App durch Augmented Reality, computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Mit der App wollen Senzow und seine Mitstreiter Oleksandr Koltschenko und Wolodymyr Baluch auf die anhaltende russische Aggression gegen die Ukraine aufmerksam machen. Auch sollen andere Gefangene, die noch immer in Russland aus politischen Gründen einsitzen, nicht vergessen werden. Laut Prisoners Voice, einer weltweiten Kampagne zur Freilassung politischer Häftlinge, säßen noch rund 100 Ukrainer illegal auf der Krim oder in Russland in Haft.
Die Schicksale von Senzow und anderer Häftlinge zeigen beispielhaft, wie der Kreml Ukrainer aus fadenscheinigen Gründen unterdrückt.
Nach der Annexion der Krim [Anm: im März 2014] nahmen die neuen Machthaber viele pro-ukrainische Aktivisten auf der Halbinsel fest. Trotz der Verhaftungswelle blieb Regisseur Senzow auf der Krim, weil er glaubte, er sei keine Person des öffentlichen Interesses und „weil ich anderen helfen wollte“, wie er sagt. Dennoch stoppten am 10. Mai 2014 zehn Männer in Zivil sein Auto, nahmen den Regisseur in der Nähe seines Hauses in Simferopol fest und verschleppten ihn ins ehemalige Gebäude des ukrainischen Sicherheitsdienstes. Offenbar hatten die Männer keine Ahnung, dass Senzow nur ein Filmemacher war. „Stattdessen dachten sie, sie hätten eine Art Super-Saboteur oder Super-Spion erwischt“, sagt Senzow gegenüber #Prisoners Voice.
Während des Verhörs, bei dem Senzow geschlagen und mit Vergewaltigung bedroht worden sein soll, sei der Regisseur standhaft geblieben. Abgesehen von ein paar Einheimischen soll es sich bei den Männern, die den Regisseur verhörten, um Mitglieder des Russischen Sicherheitsdienstes (FSB) gehandelt haben. Diese versuchten demnach, Senzow zu einer Aussage gegen verschiedene Anführer des Maidan zu zwingen, was er verweigerte. „Ich war nicht bereit wie ein Feigling zu sterben oder zu leben“, sagt er zu #PrisonersVoice. „Hätte ich mich gebeugt, dann hätte ich die Leute, die auf dem Maidan starben und meine Freunde, die auf der Krim und in der Ukraine kämpften, betrogen.“ An dieses Leitmotiv hat sich Senzow auch während seiner sechsjährigen Haft geklammert, ohne sein Land je zu verraten.
In der Hoffnung, Beweise für seine angeblichen Verbrechen zu finden, durchsuchten Sicherheitsleute das Haus von Senzow. „Als sie die Tür öffneten, erwarteten sie, ein Terroristen-Nest zu finden. Stattdessen war dort nur meine Tochter mit einem Buch in der Hand“, erinnert sich Senzow. Außerdem sei er als Regisseur ein unbequemer Gefangener für die Besatzungskräfte gewesen. „Meine Verhaftung war ein Zufall und ich war ein Problem für sie. Einerseits habe ich keine Aussagen gemacht. Andererseits war ich relativ bekannt“, fügt Senzow gegenüber #PrisonersVoice hinzu.
Senzows Bekanntheit lenkte die Aufmerksamkeit der Welt nicht nur auf den Regisseur selbst, sondern auch auf ein neues, russisches Gulag-System, das gerade im Entstehen war.
Politiker, Menschenrechtler, Regisseure und Schauspieler aus der ganzen Welt verlangten die Freilassung von Oleh Senzow.
Im August 2015 beschuldigte ein Gericht in Rostow am Don den Regisseur der Bildung einer Terrorgruppe, der auch Hennadij Afanasiew, Oleksiy Tschyrniy und Oleksandr Koltschenko angehört haben sollen. Sensow, so die Anklage, soll als Anführer und Organisator der Gruppe Terroranschläge auf der Krim „geplant“ haben. Zwar waren Afanasiew und Tschyrniy tatsächlich an einem Brandanschlag auf das Büro der Partei Einiges Russland beteiligt. Senzow kannte die beiden aber nur sporadisch von friedlichen, pro-ukrainischen Protesten, die vor der Annexion der Krim stattfanden. Auch Koltschenko, dem ein anderer Brandanschlag zur Last gelegt wurde, bestritt eine Beteiligung des Filmemachers.
Zu Beginn der Ermittlungen wurde Senzow in das Lerfotowo Gefängnis nach Moskau verbracht. Bereits in den ersten Monaten wussten die Behörden nicht, was sie mit Senzow anfangen sollten, erinnert sich der Regisseur. Die Einlassung der beiden Angeklagten Afanasiew und Tschyrniy sollte die Beweislücke jedoch auffüllen. Unter dem Druck der Ermittler bezichtigten die beiden Männer Senzow der Anstiftung, was Afanasiew später jedoch widerrief. „Beweise zu konstruieren ist das Hobby der Schwachen“, sagt Senzow. Jedenfalls hege er nach seiner Entlassung keinen Groll gegen irgendjemanden, fügt der Filmemacher hinzu.
2015 wurde Senzow ungerechtfertigt zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Die nächsten zwei Jahre verbrachte Senzow in einem Gefängnis in Jakutsk. Seine schlimmsten Erinnerungen verbindet der Regisseur aber mit Labytnangi, einer Strafkolonie im hohen Norden Russlands, wo er die letzten zwei Jahre vor seiner Entlassung einsaß. Dort, berichtet Senzow #PrisonersVoice, „wurde alles getan, um Menschen so schlimm wie möglich zu erniedrigen.“
In Labytnangi waren die Albträume des Filmemachers real geworden. Zwar habe er in Angst gelebt, sagt Senzow gegenüber #PrisonersVoice. Die Umstände seiner Haft hätten ihm jedoch geholfen, sich psychisch leichter an die Verhältnisse im Straflager anzupassen. Einige seiner Träume beschreibt der Regisseur in seinem Gefängnis-Tagebuch, das im September in der Ukraine veröffentlicht werden wird.
Die Jahre der illegalen Gefangenschaft haben ihm genug Stoff zum Schreiben für die nächsten Jahre verschafft, sagt Senzow.
Seit seiner Freilassung publizierte er drei Bücher, er arbeitet an seinem Film Rhino und plant bereits einen neuen Film für das nächste Jahr. Ein weiteres, zwei Bände umfassendes Buch will Senzow im September veröffentlichen. Das Buch enthält die Tagebücher seines Hungerstreiks und eine Sammlung Kurzprosa aus einer russischen Strafkolonie.
Im ständigen Kampf gegen die russische Aggression in der Ukraine, im Donbas und auf der Krim steht Senzow immer wieder in der Öffentlichkeit. „Wir brauchen eine Strategie, um gegen Putin zu kämpfen und sein Regime zu demokratisieren“, sagt Senzow in einem Interview im Rahmen des #PrisonersVoice Projekts.
„Wir sollten keine Zeit mit Verhandlungen mit Putin um die Rückgabe der Krim und des Donbas verschwenden“, sagt Senzow. „Das ist schlicht unmöglich“, fügt der ehemalige politische Gefangene hinzu.
Die zahlreichen Sympathiebekundungen und die öffentliche Aufmerksamkeit während seiner Gefangenschaft haben Senzow gezeigt, wie mächtig Wörter sein können. Sein Beispiel gibt Grund zur Hoffnung. Darum sei er bereit, auch Putin die Hand zu schütteln, wenn dadurch nur ein einziger Mensch freikäme, erklärte Senzow gegenüber dem Sender RFE/RL. Deshalb sei die Plastiktasse aus dem hohen Norden Russlands für ihn ein wichtiges Symbol der Hoffnung. „Manche Dinge brauchen Zeit“, sagt er zu #PrisonersVoice.
Diese Veröffentlichung wurde von Internews Ukraine mit Unterstützung der Ukrainischen Kulturstiftung und dem Zentrum für Bürgerrechte und anderer Partner erstellt. Die Meinung der Ukrainischen Kulturstiftung muss nicht zwingend mit der Meinung des Autors / der Autorin übereinstimmen.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.