Was uns Olek­sandr Kolt­schen­kos Schick­sal über ukrai­ni­sche poli­ti­sche Gefan­gene in Russ­land sagt

© Roman Shalamov

Olek­sandr Kolt­schenko zählte zu den bekann­tes­ten poli­ti­schen Gefan­ge­nen in Russ­land. Ein Jahr nach seiner Frei­las­sung will Kolt­schenko auf die rund 100 Ukrai­ner auf­merk­sam machen, die sich noch immer in rus­si­scher Gei­sel­haft befin­den. Von Iryna Matviyishyn

 #Pri­soners­Voice erscheint in Koope­ra­tion mit Inter­news Ukraine und ist Teil der glo­ba­len Kam­pa­gne für die Befrei­ung poli­ti­scher Gefan­ge­ner vom Kreml.

Olek­sandr Kolt­schenko kam am 7. Sep­tem­ber 2019 wieder auf freien Fuß. Zusam­men mit 34 anderen Ukrai­nern, dar­un­ter der Regis­seur Oleh Senzow, wurde er bei einem Gefan­ge­nen­aus­tausch zwi­schen der Ukraine und Russ­land frei­ge­las­sen. Nach seiner Ent­las­sung reiste Kolt­schenko durch Europa, um die Welt an die rest­li­chen poli­ti­schen Gefan­ge­nen aus der Ukraine in Russ­land zu erin­nern. Laut Angaben von Pri­soners Voice, einer glo­ba­len Kam­pa­gne zur Frei­las­sung poli­ti­scher Häft­linge, werden rund 100 Ukrai­ner illegal auf der Krim und in Russ­land festgehalten.

Gemein­sam mit den ehe­ma­li­gen poli­ti­schen Häft­lin­gen Wolo­dymyr Baluch und Oleh Senzow berich­tet Kolt­schenko gegen­über #Pri­soners­Voice von seiner Haft. Um das Schick­sal der Gefan­ge­nen begreif­ba­rer zu machen, hat #Pri­soners­Voice eine mobile App ent­wi­ckelt. Durch Aug­men­ted Reality können sich Benut­zer in das Leben der Häft­linge mittels Sprache und Bilder hineinversetzen.

Nach seiner Frei­las­sung war Kolt­schenko beim ukrai­ni­schen Bot­schaf­ter in Prag zu Besuch, der ihn fragte, ob dies seine erste Aus­lands­reise sei. „Nein, ich war schon in Russ­land“, erwi­derte Kolt­schenko schmun­zelnd. Dabei war der erste Aus­lands­flug für den Links­ak­ti­vis­ten und Tou­ris­mus-Stu­den­ten kein Grund zum Lachen. 2014 wurde Kolt­schenko nach Russ­land ver­bracht und zu zehn Jahren Haft ver­ur­teilt, von denen er fünf Jahre in Gefäng­nis­sen und Arbeits­la­gern absaß.

Am 11. Mai 2014, mehr als einen Monat nach der Anne­xion der Krim, ging Kolt­schenko am ehe­ma­li­gen Gebäude des Ukrai­ni­schen Sicher­heits­diens­tes (SBU) in Sim­fe­ro­pol vorbei. In dem Haus befand sich nun der Föde­rale Sicher­heits­dienst der Rus­si­schen Föde­ra­tion (FSB). Plötz­lich, erin­nert sich Kolt­schenko, sprang jemand auf seinen Rücken. Kolt­schenko glaubte erst, einer seiner Freunde mache sich einen Scherz.

„Doch dann sah ich mich um und sah diese Leute in Anzügen und weißen Hemden, die aus­sa­hen wie Agenten aus dem Film Matrix“, erin­nert sich Kolt­schenko „Da habe ich ver­stan­den, dass das kein Witz war.“

Obwohl die Lage auf der Krim seit Februar 2014 ange­spannt war, habe Kolt­schenko nicht damit gerech­net, ver­haf­tet zu werden. „Wenn der FSB mich hätte ver­haf­ten wollen, hätten sie mich längst gefun­den.“ Was dann auch geschah. „Dort waren mehrere Leute in Anzügen, einige mit Spor­t­out­fit, Mili­tär­klei­dung und Masken“, erin­nert sich Koltschenko.

Olek­sandr Kolt­schenko wurde offi­zi­ell ver­haf­tet, weil er das Büro der ehe­ma­li­gen Partei der Regio­nen ange­zün­det haben soll, was er später auch zugab. „Das war ein Protest gegen alles, was auf der Krim in dieser Zeit geschah“, erklärte Kolt­schenko in einem Inter­view mit dem Sender RFE/​RL. Die Besat­zer, die mit Sturm­ge­weh­ren aus­ge­rüs­tet waren, hätten ihm klar­ge­macht, dass fried­li­cher Anti­kriegs­pro­test keinen Sinn mehr habe. Aber die Anschul­di­gun­gen Russ­lands reich­ten weiter.

Von Beginn an hätte man einen Fall gegen ihn kon­stru­iert, teilt Kolt­schenko #Pri­soners­Voice mit. „Aus der Brand­stif­tung wurde ein Fall von Ter­ro­ris­mus und Bildung einer Ter­ror­zelle gemacht“, fügt er hinzu. Während der Ver­neh­mung hätten die Ermitt­ler Kolt­schenko immer wieder gegen den Kopf geschla­gen, um aus ihm Aus­sa­gen gegen Men­schen zu erpres­sen, die Kolt­schenko gar nicht kannte.

Auf Grund­lage erzwun­ge­ner Aus­sa­gen der angeb­li­chen Mit­ver­schwö­rer Hen­na­diy Afa­nasyew und Oleksiy Tschyr­niy wurde Kolt­schenko wegen der „Planung ter­ro­ris­ti­scher Akti­vi­tä­ten“ ange­klagt. Außer­dem soll Kolt­schenko mit einer angeb­li­chen „Ter­ror­gruppe“ des ukrai­ni­schen Fil­me­ma­chers Oleh Senzow in Ver­bin­dung gestan­den haben. Der Regis­seur, der eben­falls bei einem Gefan­ge­nen­aus­tausch freikam, war der bekann­teste poli­ti­sche Häft­ling aus der Ukraine in Russ­land. Die angeb­li­chen Belas­tungs­zeu­gen Afa­nasyew und Tschyr­niy wider­rie­fen später ihr Geständ­nis, weil die Ein­las­sun­gen unter Zwang des FSB zustande kamen.

Olek­sandr Kolt­schenko und Oleh Senzow, die einige Tage zuvor ver­haf­tet wurden, lernten sich während ihres Trans­por­tes von Rostow am Don nach Moskau kennen. Im Gerichts­saal teilten sich die beiden Ukrai­ner ein „Aqua­rium“, einen Kasten aus Sicher­heits­glas, in dem die Ange­klag­ten übli­cher­weise sitzen.

„Während einer Vor­ver­hand­lung brachte ein Jus­tiz­an­ge­stell­ter alle 15 Akten­ord­ner unseres Falles, als plötz­lich die Ordner hin­un­ter­fie­len und die Blätter überall ver­streut her­um­la­gen“, erin­nert sich Kolt­schenko. „Da sagte ich Oleh, unser Fall löst sich in Luft auf.“

Die Ver­hand­lung dauerte rund zwei Monate, doch für Kolt­schenko und Senzow war der Prozess nichts weiter „als eine Schau­spiel-Auf­füh­rung“, sagt Kolt­schenko „Wir fühlten uns in dem Glas­kas­ten wie in einer VIP-Loge in einem Theater. Die Aus­füh­run­gen des Staats­an­walts und der Zeugen hatten etwas Komi­sches, das konnte man nicht ernst nehmen.“ Am Tag der Urteils­ver­kün­dung ent­schie­den sich die beiden, an der „Auf­füh­rung“ der Schein­ver­hand­lung teil­zu­neh­men. Am 25. August, einen Tag nach dem Unab­hän­gig­keits­tag der Ukraine, sangen die beiden im Gericht die ukrai­ni­sche Natio­nal­hymne. „Das war unsere Antwort auf die ganze Farce“, berich­tet Kolt­schenko #Pri­soners­Voice.

An den Tag der Urteils­ver­kün­dung kann sich Kolt­schenko noch deut­lich erin­nern. „Während der mona­te­lan­gen Ver­hand­lung waren ständig Blogger und Jour­na­lis­ten dabei, die uns unter­stütz­ten“, sagt der ehe­ma­lige Kreml-Häft­ling. „Als das Urteil gespro­chen wurde, waren im Saal plötz­lich lauter fremde Gesich­ter, und es schien, als ob die Besu­cher zufäl­lig aus­ge­sucht wurden, so dass unsere Unter­stüt­zer nicht mehr hin­ein­ka­men“, erin­nert sich Koltschenko.

Während der gesam­ten Haft setzte der Kreml Kolt­schenko und seiner Mit­strei­ter unter Druck. Kurz vor seiner Frei­las­sung, erin­nert er sich, sollte Kolt­schenko ein Gna­den­ge­such an Putin unter­schrei­ben. Nachdem Kolt­schenko mehr­mals ablehnte, wurde er in Ein­zel­haft gesperrt. „Ich rech­nete damit, am Ende doch nicht frei­zu­kom­men oder in ein Arbeits­la­ger gesteckt zu werden.“

Nachdem Kolt­schenko schließ­lich aus dem Lefor­towo-Gefäng­nis ent­las­sen wurde, musste er zwangs­weise an einer pri­va­ten „Tou­ris­ten­füh­rung“ durch das Zentrum von Moskau teil­neh­men und dabei auch den Kreml besich­ti­gen, erin­nert er sich bei #Pri­soners­Voice.

© Roman Shalamov

Auf der Euro­pa­reise nach seiner Frei­las­sung ver­suchte Kolt­schenko die Ukrai­ner zu unter­stüt­zen, die sich noch immer in Russ­land aus poli­ti­schen Gründen in Haft befin­den. „Wenn während meiner Reise etwas Zeit übrig­blieb, ver­brachte ich diese mit Wla­di­mir Aki­men­kow, den ich in Russ­land ken­nen­lernte. Er sammelt Spenden für ukrai­ni­sche und rus­si­sche poli­ti­sche Gefan­gene“, erklärt Kolt­schenko in einem Inter­view mit Open Demo­cracy.

Heute ver­sucht der 30 Jahre alte ehe­ma­lige Polit-Häft­ling einen neuen Beruf als Illus­tra­tor zu erler­nen, um anderen Gefan­ge­nen zu helfen. Außer­dem hat er sein Tou­ris­tik-Studium an der Natio­na­len Tau­ri­sche-Wer­n­ad­skyj-Uni­ver­si­tät wieder auf­ge­nom­men. Die Hoch­schule ist inzwi­schen von Sim­fe­ro­pol nach Kyjiw gezogen.

Die Men­schen auf der Krim seien seit der Anne­xion durch Russ­land wie „ato­mi­siert“, sagt Kolt­schenko. „Niemand mehr traut sich dort offen über Politik zu reden“, merkt er gegen­über #Pri­soners­Voice an.

Wenn die Halb­in­sel wieder zur Ukraine zurück­kom­men würde, setzt er fort, würde er dort Urlaub machen. „Aber ich bin nicht sicher, ob ich dort wieder leben würde.

Diese Ver­öf­fent­li­chung wurde von Inter­news Ukraine mit Unter­stüt­zung der Ukrai­ni­schen Kul­tur­stif­tung und dem Zentrum für Bür­ger­rechte und anderer Partner erstellt. Die Meinung der Ukrai­ni­schen Kul­tur­stif­tung muss nicht zwin­gend mit der Meinung des Autors /​ der Autorin übereinstimmen.

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