Odesas Babyn Jar

Marie­luise Beck im Inter­view mit Irina Peter über ihre Moti­va­tion, an das Mas­sa­ker von Odesa zu erin­nern. Der Platz des Grauens soll zu einem wür­di­gen Ort umge­stal­tet werden.

Am 22. Oktober 1941 spreng­ten sowje­ti­sche Par­ti­sa­nen in Odesa das Haupt­quar­tier der rumä­ni­schen und deut­schen Besat­zer in die Luft. 67 Men­schen starben, dar­un­ter 16 rumä­ni­sche und vier deut­sche Offi­ziere. Als Ver­gel­tungs­akt trieben die Okku­pan­ten Jüdin­nen und Juden in neun Muni­ti­ons­ba­ra­cken am Rand der Stadt und steck­ten sie in Brand. Etwa 25.000 Men­schen, zumeist jüdi­sche Frauen, Kinder und alte Men­schen, ver­brann­ten bei leben­di­gem Leib. Wer zu fliehen ver­suchte, wurde erschos­sen oder in die Luft gesprengt. Warum dieses „Mas­sa­ker von Odesa“, ebenso wie die meisten „Babyn Jars“ der Ukraine, bislang kaum bekannt ist und wie das Ber­li­ner Zentrum Libe­rale Moderne dieses Ver­bre­chen sicht­bar machen möchte – darüber sprach ich mit Marie­luise Beck, Direk­to­rin für Ost­eu­ropa des Zen­trums der Libe­ra­len Moderne.

Was geschah mit den Jüdin­nen und Juden Odesas im Oktober 1941?

Rumä­ni­sche Sol­da­ten ver­such­ten im Herbst 1941 die Stadt ein­zu­neh­men. Der Wider­stand war aber sehr groß. Es wurde das Gerücht gestreut, der ent­schie­denste Wider­stand käme von den jüdi­schen Kämp­fern. In Odesa lebten vor dem Krieg etwa 90.000 Juden. Erst mit Hilfe der Deut­schen Wehr­macht gelang es der rumä­ni­schen Armee die Stadt ein­zu­neh­men. Dann über­ließ die Wehr­macht die Stadt den Rumänen und die durften dort wüten. Die Bru­ta­li­tät sprengt alle mensch­li­che Vor­stel­lungs­kraft. Die Alten erzäh­len, dass schon an der Ein­fall­straße hun­derte Tote an den Bäumen hingen.

Viele der jüdi­schen Männer waren zu diesem Zeit­punkt bereits Sol­da­ten bei der Roten Armee. Zunächst waren die jüdi­schen Frauen, Kinder und Alte an ver­schie­de­nen Sam­mel­punk­ten in der Stadt zusam­men­ge­trie­ben worden. Der Rache­akt begann zunächst mit Erschie­ßun­gen. Aller­dings braucht es viel Zeit, Men­schen einzeln zu erschie­ßen. Des­we­gen wurden letzt­lich die Bara­cken in Brand gesetzt.

An dieser Stelle standen von der sowje­ti­schenen Armee auf­ge­ge­bene Muni­ti­ons­ba­ra­cken, in denen 25.000 jüdi­sche Men­schen bei leben­di­gem Leib ver­brannt wurden. Das Zentrum für die Libe­rale Moderne möchte diese Stelle, wo sich aktuell ein Park­platz befin­det, zu einem Gedenk­ort umwandeln.

Was wussten die Ode­si­ten über das Massaker?

Wenig. Kaum einer hatte das Mas­sa­ker über­lebt. Es gab also kaum über­le­bende Zeugen des Ver­bre­chens, die erzäh­len konnten. Der Ver­nich­tungs­ort geriet in Ver­ges­sen­heit und wurde in den 1950er Jahren über­baut. In den 1980er Jahren wurden vor Ort Kanal­ar­bei­ten durch­ge­führt. Die Bagger brach­ten mensch­li­che Über­reste, unter anderem auch Kin­der­schuhe, zum Vor­schein. Doch das Geden­ken an die Opfer gab es zur Zeit der Sowjet­union nicht. Die sowje­ti­sche Erzäh­lung vom Großen Vater­län­di­schen Krieg kennt auch keine jüdi­schen Opfer. Es gab nur Kämpfer gegen den Faschismus.

Ich selbst war seit dem Maidan seit 2014 oft in Odesa und habe dennoch erst durch Zufall von dieser Kata­stro­phe erfah­ren. Es gibt ein kleines, ver­steck­tes Holo­caust­mu­seum, eine Pri­vat­in­itia­tive jüdi­scher Ode­si­ten. Erst in den 1990er Jahren begann die Erin­ne­rung. Zunächst mit zwei Steinen, die die Opfer des Faschis­mus wür­dig­ten, aber die Juden nicht erwähn­ten. 1994 dann stellte die jüdi­sche Gemeinde von Odesa ein kleines Denkmal an dem Ort der Kata­stro­phe auf. Roman Schwarz­mann, der als Kind nach Trans­nis­trien depor­tiert worden war, war als Vor­sit­zen­der des Ver­ban­des der Häft­linge und Über­le­ben­den die trei­bende Kraft, um die Erin­ne­rung wieder leben­dig werden zu lassen. Langsam, langsam kommt die jüdi­sche Geschichte dieser wun­der­ba­ren mul­ti­kul­tu­rel­len Stadt wieder zum Vor­schein. Und viele Men­schen, die sich nicht unbe­dingt jüdisch ver­ste­hen, erzäh­len dennoch wieder von den jüdi­schen Wurzeln in ihren Familien.

Die jüdi­sche Gemeinde Odesas hat ein Denkmal an der Stelle des Mas­sa­kers errich­ten lassen.

Sie haben 2018 eine Gedenk­ver­an­stal­tung am Ort des Mas­sa­kers initi­iert, was planen Sie als Nächstes?

Wir haben im Oktober 2018 eine erste Mani­fes­ta­tion auf dem Platz ver­an­stal­tet, der heute noch ein Park­platz ist. Der Über­le­bende Michail Sas­law­ski hat erzählt. Er war als 15-Jäh­ri­ger aus den bren­nen­den Bara­cken geflo­hen. Der Platz war voller Men­schen, das Ereig­nis war sehr bewe­gend. Jetzt arbei­ten wir daran, diesen Platz umzu­ge­stal­ten und zu einem Gedenk­ort zu machen. Ein großer Teil des Platzes, an dem die neun Bara­cken standen, ist heute über­baut. Aber wir werden den unbe­bau­ten Teil mit Unter­stüt­zung der Stadt Odesa, dem Bun­des­mi­nis­te­rium für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit, der GIZ und dem Aus­wär­ti­gen Amt zu einem wür­di­gen Ort umge­stal­ten. Ich bin dankbar, dass die Kanz­le­rin dieses Unter­fan­gen immer unter­stützt und beglei­tet hat.

Sie sagten in einem Inter­view, Sie sehen Deutsch­land in der Ver­ant­wor­tung, sich im Sinne der Erin­ne­rungs­kul­tur hier in der Ukraine ein­zu­set­zen und Orte der Nazi-Ver­bre­chen wie diesen in Odesa zu kenn­zeich­nen. Inwie­fern sehen Sie auch die Ukraine in der Verantwortung?

Es gibt in der Ukraine etwa 1.500 Erschie­ßungs­stät­ten, die bisher durch nichts mar­kiert sind. Im Jahr 2012 hat der Ame­ri­can Jewish Com­mit­tee dan­kens­wer­ter­weise sechs Erschie­ßungs­stät­ten in der West­ukraine zu Gedenk­or­ten umge­stal­tet. Das Aus­wär­tige Amt hat dieses Projekt fort­ge­führt und weitere 14 Erschie­ßungs­stät­ten sicht­bar gemacht. Die ukrai­ni­schen Insti­tu­tio­nen sind gegen­über solchen Vor­ha­ben offen.

Die Ukraine ringt mit diesem Teil der Geschichte. Damit keine Zweifel auf­kom­men: Die Ver­bre­chen sind von Nazi­deutsch­land aus­ge­gan­gen. Aber es gab auch Kol­la­bo­ra­tion. Was aber nicht geht, ist die deut­sche Ver­ant­wor­tung und die deut­schen Ver­bre­chen zu rela­ti­vie­ren, indem auf ukrai­ni­sche Kol­la­bo­ra­teure hin­ge­wie­sen wird. Schon im Zaren­reich gab es fürch­ter­li­che anti­jü­di­sche Pogrome, aber die Dimen­sion der deut­schen Ver­nich­tungs­po­li­tik ist ein­zig­ar­tig. Ich hoffe, dass die Ukrai­ner sich Stück für Stück diesem dunklen Kapitel der Geschichte zuwen­den. Am besten ist es, wenn wir es gemein­sam tun. Und ich hoffe, dass auch in Rumä­nien das Tabu langsam auf­ge­ho­ben wird.

Wolo­dymyr Koltsch­in­skyj sollte im Oktober 1941 in den Muni­ti­ons­ba­ra­cken am Stadt­rand Odesas sterben. Auf dem Weg dorthin ver­steckte er sich in einer abge­stell­ten Stra­ßen­bahn und über­lebte so als einer von sehr wenigen das Mas­sa­ker von Odesa. In diesem Video­in­ter­view, das Marie­luise Beck im März 2020 mit dem damals 94-Jäh­ri­gen geführt hat, schil­dert er seine Erin­ne­run­gen an den Tag, an dem er seine Mutter, Geschwis­ter, Ver­wandte und Freunde ver­lo­ren hatte.

Wie hat sich die Erin­ne­rungs­kul­tur in der Ukraine im 20. Jahr­hun­dert entwickelt?

In der Sowjet­zeit wurde über jüdi­sche Opfer nicht gespro­chen. Die große Erzäh­lung war der „Große Vater­län­di­sche Krieg“, in dem der deut­sche Faschis­mus besiegt worden ist. Es hat keine spe­zi­fi­sche Her­vor­he­bung der Ermor­dung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung gegeben. Auch in der Sowjet­union gab es Anti­se­mi­tis­mus – man denke nur an den Ärz­te­pro­zess unter Stalin. Es gab Beschrän­kun­gen für Juden, so war zum Bei­spiel der Zugang zu Uni­ver­si­tä­ten limi­tiert. Wie wenig die Shoah in der Sowjet­union eine Rolle gespielt hat, zeigt auch Babyn Jar* in Kyjiw. Das Ent­setz­li­che des Ortes ist erst zum Vor­schein gekom­men, als es dort 1961 einen Was­ser­damm­bruch gegeben hat. Mit ihm wurden mensch­li­che Über­reste in das Tal gespült. Offen­bar war über dieses Ver­bre­chen das große Schwei­gen aus­ge­brei­tet worden.

Was moti­viert Sie per­sön­lich, einen Beitrag zur Erin­ne­rung an die Opfer der Shoah zu leisten?

Wir kennen in Deutsch­land die Namen der Ver­nich­tungs­la­ger: Ausch­witz, Treb­linka, Bergen-Belsen, Sobobor und andere. Aber dass das mas­sen­hafte Morden schon vor der indus­tri­ell ange­leg­ten Ver­nich­tung begann, und zwar mit dem Über­fall auf Polen und dem Ost­feld­zug, davon haben die Men­schen in Deutsch­land zu wenig gehört. Timothy Snyder lehrt uns mit seinen „Blood­lands“, dass die Ver­nich­tung der Juden im Osten schon 1939 begann, lange bevor die Ver­nich­tungs­la­ger errich­tet wurden.

Patrick Desbois nennt das zu Recht die „Shoa durch Kugeln“. Bevor die indus­tri­elle Ver­nich­tung begon­nen hat, waren bereits etwa 1,5 Mil­lio­nen Juden in den bal­ti­schen Gebie­ten, im heu­ti­gen Belarus und der Ukraine ermor­det worden. Und zwar nicht nur von SS Truppen. Auch die Wehr­macht war in diese Ver­bre­chen ver­wi­ckelt. Diese Wahr­hei­ten tun weh. Anti­li­be­ra­les Denken ging immer mit Anti­se­mi­tis­mus einher. Des­we­gen gehört dieses Thema zu uns als Zentrum der Libe­ra­len Moderne.

Wann rechnen Sie damit, dass das geplante Mahnmal ein­ge­weiht werden kann?

Wir werden bei unserem Vor­ha­ben sowohl von der Regie­rung in Kyjiw als auch von der Stadt Odesa unter­stützt. Der Stadt­rat hat beschlos­sen, uns einen Teil des Ver­nich­tungs­or­tes zur Ver­fü­gung zu stellen, damit eine Gedenk­stätte ent­ste­hen kann. Die Aus­schrei­bun­gen für gestal­te­ri­sche Ideen haben begon­nen. Bür­ger­meis­ter Hen­na­dij Trucha­nov war mit den Ver­tre­tern des Ver­ban­des der Häft­linge und Ver­trie­be­nen auf dem Platz. Auch wir haben mit Ver­tre­tern und Ver­tre­te­rin­nen der Anwoh­ner gespro­chen. Sie befür­wor­ten eine Gedenk­stätte. Wir wün­schen uns, dass im Herbst 2022, im 81. Jahr der Ver­nich­tung, an diesem Ort den Ermor­de­ten die Würde zurück­ge­ge­ben werden kann.

*Es werden in der Öffent­lich­keit unter­schied­li­che Schreib­wei­sen ver­wen­det: an das Ukrai­ni­sche ange­lehnte Babyn Yar von „Бабин Яр“ und Babij Jar durch die rus­si­che Schrei­be­weise für „Бабий Яр“ sowie weitere; deut­sche Bedeu­tung: „Wei­ber­schlucht“.

Diesen Text durften wir mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Ira Peter bei uns ver­öf­fent­li­chen. Hier geht es zum Ori­gi­nal im Stadtschreiber-Blogs.

Textende

Portrait von Ira Peter

Ira Peter ist freie Mar­ke­ting­be­ra­te­rin, Autorin und Jour­na­lis­tin. Derzeit unter­stützt sie das ifa als Kulturassistentin.

 

 

 

 

 

 

 

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