Perfide Kriegsstrategie – wie Russland ukrainische Kulturgüter zerstört
Im Krieg gegen die Ukraine kommen nicht nur Menschen ums Leben. Die russischen Truppen zerstören gezielt ukrainische Kulturgüter, um die kulturelle Identität der Ukraine zu vernichten.
Die Zerstörung von Kulturgütern ist eines der wichtigsten politischen Instrumente des Kremls im Zuge der bewaffneten Aggression gegen die Ukraine – und das nicht erst seit Beginn des Krieges am 24. Februar. Bereits bei der Besetzung und Annexion der Krim 2014 und der Teilbesetzung des Donbass hatte Russland dieses Ziel verfolgt. Was jetzt geschieht, ist lediglich eine Fortsetzung dieser Politik in einem größeren Maßstab. Viele Kulturobjekte der Ukraine befinden sich in Gebieten, die zurzeit von der Russischen Föderation besetzt sind – unter anderem in den Regionen Saporischschja und Cherson. Andere Kulturstätten sind in Regionen, die unter ständigem Raketenbeschuss liegen wie Charkiw, Tschernihiw, Mykolajiw und Odesa.
Das kulturelle Erbe der Ukraine hat eine lange Geschichte. Hier trafen verschiedene Kulturen zusammen, woraus eine einzigartige Mischung kultureller Werte und Hinterlassenschaften entstand. Von der Bronzezeit bis zum Ende des 15. Jahrhunderts verlief in der Ukraine die Grenze zwischen Nomaden und sesshaften Bauern. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert bildete die Ukraine die Grenze des christlichen Abendlandes zum muslimischen Osten und vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verlief hier die Grenze zwischen West- und Osteuropa.
Mehr als 170.000 Denkmäler und Kulturobjekte
Die Ukraine besitzt über 170.000 Denkmäler und Kulturobjekte; mehr als 140.000 sind bei lokalen Behörden registriert, darunter archäologische Objekte und Zeugnisse aus Geschichte, Stadt- und Raumplanung, Architektur und Monumentalkunst. Hinzu kommen Sammlungen von mehr als 2.500 Museen und historischen Schutzgebieten. Das kulturelle Erbe des Landes wird außerdem in 1.400 Städten und Gemeinden sowie 8000 Dörfern gepflegt. Und: In den Siedlungen der Ukraine gibt es mehr als 70.000 historische Objekte. Die Regierung der Ukraine hat eine Liste mit 401 Siedlungen aufgestellt, die als historisch besonders wertvoll eingestuft werden.
Zudem zählen sieben Objekte, die sich teilweise oder in ihrer Gesamtheit auf ukrainischem Boden befinden, zum UNESCO-Welterbe. Davon gehören sechs zum Kultur- und eines zum Naturerbe. Drei zur Ukraine gehörende Kulturobjekte sind länderübergreifend. Dazu gehört der Struve-Bogen, der vom Europäischen Nordmeer bis zum Schwarzen Meer verläuft. Er führt durch Norwegen, Schweden, Finnland, Russland, Estland, Lettland, Litauen, Belarus und die Republik Moldau sowie die Ukraine. Auch Buchenurwälder gehören zum ukrainischen Naturerbe. Diese erstrecken sich über Österreich, Albanien, Belgien, Bulgarien, Spanien, Italien, Deutschland, Rumänien, Slowenien, die Slowakei und Kroatien. Die Holzkirchen der Karpatenregion zählen ebenfalls zum ukrainischen Kulturerbe. Weitere 17 Denkmäler in der Ukraine sind Kandidaten für die Aufnahme in die Welterbe-Liste.
Krieg an der kulturellen Front
Neben der militärischen Aggression führt Russland auch Krieg an der humanitären und kulturellen Front. Dies äußert sich in der Zerstörung und dem Versuch der Herauslösung des ukrainischen Kulturerbes aus seiner Geschichte, Kultur und Tradition – und ist ein Beispiel für das koloniale Gebaren Russlands.
Weitere Instrumente des kulturellen Machbestrebens Russlands sind die Unterdrückung der krimtatarischen Sprache, die Leugnung der Authentizität der ukrainischen Sprache, die Manipulation historischer Fakten, das Abstreiten der bloßen Existenz der Ukraine als souveräner Staat sowie die künstliche Trennung der Regionen innerhalb der Ukraine, um interregionale Feindschaft zu schüren. Russland leugnet zudem die historische Ethnogenese der Krimtataren und deren Status als indigenes Volk auf der Halbinsel Krim.
Um diese Ziele zu erreichen nutzt Russland auch akademischen und öffentlichen Einfluss in Europa. Die Zerstörung des kulturellen Erbes ist ein zentrales politisches Instrument des Kremls im Zuge der bewaffneten Aggression gegen die Ukraine.
Die Krim 2014 bis 2022
Die Zerstörung von Kulturdenkmälern durch die Russische Föderation hat lange vor der groß angelegten Invasion im Februar 2022 begonnen. Bereits im Februar 2014 startete Russland unter Verletzung des Völkerrechts eine bewaffnete Aggression gegen die Ukraine. Infolgedessen besetzte Russland ukrainische Gebiete: Die Autonome Republik Krim, die Stadt Sewastopol und bestimmte Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk. In den besetzten Gebieten verletzt Russland seitdem systematisch Menschenrechte: Verbrechen gegen das Leben und die Gesundheit der Menschen, Beschränkungen der Gewissens- und Glaubensfreiheit, Verletzungen des Privateigentums und Umweltverbrechen begleiten die russische Besatzung.
Das ukrainische Kulturerbe auf der Krim ist ebenfalls bedroht. Dazu gehört die antike Stätte Chersones, die sich am Südufer der Stadt Sewastopol befindet. Chersones besteht aus Ruinen einer alten griechischen Stadt und ist Teil der Geschichte des antiken Griechenlands, des antiken Roms und Byzanz. Im Jahr 2015 beschlossen die russischen Besatzungsbehörden, die antiken Ruinen im Zuge einer sogenannten „Modernisierung“ in einen Freizeitpark umzuwandeln.
Auf dem archäologisch einzigartigen Areal errichteten die russischen Besatzungsbehörden unter anderem Zuschauertribünen und Theater und zerstörten zwischen 2020 und 2021 Teile der antiken Ruinen. Die russischen Archäologen hatten die Aufgabe, das Areal für den Bau des Freizeitparks „Neues Chersones“ zu räumen. Russland behauptet zudem, dass Chersones die Wiege der Orthodoxie sei, obwohl es sich tatsächlich um eine antike Stätte handelt.
Das Leid der Krimtataren
Ein eindrückliches Beispiel für die Zerstörung des Kulturerbes der Krimtataren ist die sogenannte „Restaurierung“ des Bachtschissarai-Khan-Palastes auf der Krim. Der Palast wurde als Weltkulturerbe vorgeschlagen, da er von der jahrhundertealten Geschichte der Krimtataren, ihres Staates und ihrer politischen Subjektivität zeugt. Die von den Besatzungsbehörden durchgeführten Arbeiten drohen jedoch zu einer Dekontextualisierung des Palastes zu führen und dessen ursprüngliche Architektur zu zerstören.
Darüber hinaus befinden sich auf der Krim drei weitere Kandidaten für das Weltkulturerbe: Die Festung Sudak, die Befestigungen an den genuesischen Handelswegen und die Höhlenstädte von Krim-Gothia. An allen drei Stätten finden regelmäßig mit Billigung der Besatzungsmacht illegale Ausgrabungen statt.
Der Krieg seit dem 24. Februar
Der militärische Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist auch ein Angriffskrieg gegen die ukrainische kulturelle Identität. Russland zerstört das kulturelle und religiöse Erbe der Ukraine und verstößt damit gegen internationales Vertrags- und Gewohnheitsrecht.
Ähnlich wie seit 2014 auf der Krim versucht Russland in den derzeit besetzten Gebieten der Regionen Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk, sich das ukrainische Kulturerbe anzueignen oder zu dekontextualisieren. Zwar leistet die Bevölkerung dort Widerstand und weigert sich, mit dem Besatzungsregime zu kooperieren. Die russischen Besatzer versuchen dennoch, ukrainische Kulturschätze zu plündern.
So wurden die Sammlungen des Museums für Regionale Geschichte in Melitopol und des Kunstmuseums in Cherson von Russland beschlagnahmt. Zudem werden Ausstellungen zur Annexion der Krim und Besetzung der Ostukraine zerstört. In den besetzten Gebieten installiert Russland mobile Propaganda-Ausstellungen, um den Angriffskrieg zu rechtfertigen.
In den Kampfgebieten an der Front werden Kulturdenkmäler von Russland teilweise komplett zerstört. Russland rechtfertigt solche Verbrechen mit der angeblichen Nähe der Denkmäler zu Militärobjekten. In von Russland eroberten Städten wie Mariupol, Lysychansk, Siverodonezk, oder Rubizhne sind 90 Prozent aller historischen Gebäude zerstört. In Lysychansk wurde zum Beispiel ein Gebäudekomplex, der als das größte belgische Kulturerbe im Ausland gilt, zerstört. Russische Raketenangriffe haben Museen in Mariupol, Volnovakha, Popasna und Izyum in Schutt und Asche gelegt. Auch in Charkiw, Mykolajiw und in der Region Saporischschja wurden durch russische Bomben zahlreiche Kulturdenkmäler vernichtet.
Raub von Kunstschätzen
Darüber hinaus haben die russischen Besatzer zahlreiche Kulturschätze geraubt. Aus dem zerstörten Heimatmuseum von Mariupol wurde zum Beispiel eine hundert Jahre alte Tora-Rolle der jüdischen Gemeinde beschlagnahmt und in das besetzte Donezk gebracht.Gleichzeitig wurden bei den russischen Bombenangriffen alle jüdischen Religionsgebäude der Stadt vernichtet.
Zahlreiche Kulturobjekte der Mariupol-Griechen sind den russischen Angriffen zum Opfer gefallen, darunter das Kulturzentrum „Meotida“. Mariupol-Griechen sind Nachfahren der Griechen-Urumen von der Krim, die seit 1778 von den Herrschern des russischen Imperiums von der Krim zwangsweise umgesiedelt wurden. Außerdem wurden Archivdokumente und Museumsgegenstände zerstört. Ein seltenes Evangelium, welches 1811 von einer venezianischen Druckerei für die in Mariupol ansässigen Griechen hergestellt worden war, ist nach Donezk gebracht worden. Auch aus dem Kunstmuseum von Mariupol hat Russland Bilder gestohlen und ebenfalls nach Donezk gebracht. Darunter befinden sich Originalwerke von Archip Kuindschi („Red Sunset“, „Autumn“, „Elbrus“) und das Gemälde „Vor der Küste des Kaukasus“ von Ivan Aiwazovskyj.
In der Region Charkiw wurde ein Museum, das dem im 18. Jahrhundert lebenden ukrainischen Dichter, Philosophen und Pädagogen Hryhorij Skoworoda gewidmet war, komplett zerstört.
Durch russische Raketenangriffe sind Kulturstätten in der gesamten Ukraine bedroht. So wurde das historische Stadtzentrum von Tschernihiw, das seit 1989 auf der Kandidatenliste des Weltkulturerbes steht, von Russland beschossen. Außerdem steht das astronomische Observatorium von Mykolajiw, das sich seit 2007 auf der vorläufigen Liste des Weltkulturerbes befindet, unter ständigem Raketen- und Artilleriefeuer der russischen Armee. Ebenfalls von Zerstörung bedroht ist das „Haus der staatlichen Industrie“ in Charkiw, das 2017 in die Liste aufgenommen wurde. Weitere von Zerstörung bedrohte Weltkulturobjekte sind das Historische Zentrum der Hafenstadt Odesa und die Akkerman-Festung in der Region Odesa.
Zudem nutzt Russland ukrainische Kulturstätten für militärische Zwecke, berichtet Serhiy Telizhenko, Forscher am Institut für Archäologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Demnach errichtet Russland in der besetzten Region Donezk militärische Befestigungen auf Grabhügeln, die aus der Bronzezeit und aus dem Mittelalter stammen – 7000 dieser historischen Grabhügeln befinden sich allein in der Region Donetsk. Russische Truppen verminten auch das archäologische und auf der Kandidatenliste des Weltkulturerbes stehende Schutzgebiet „Steinernes Grab“ in der Region Saporischschja.
Die Verluste an Kulturgütern können derzeit nicht genau beziffert werden. Bis Juli 2022 hat das Ministerium für Kultur- und Informationspolitik mehr als 400 Fälle von Zerstörung und Beschädigung erfasst. Die Dunkelziffer könnte jedoch viel höher liegen, da die offizielle Statistik nur unbewegliche Kulturobjekte erfasst. Die Ukraine steht in Zukunft vor dem schwierigen Prozess, alle irreparablen Verluste zu erfassen und zu bewerten, sowie beschädigte Kulturgüter zu restaurieren.
Über die Autoren
Denis Yashny- Ph.D., Denkmalpfleger, Archäologe, wissenschaftlicher Forscher des Nationalen Reservats „Kyjiw-Pechersker Lawra“, Experte des Krim-Instituts für strategische Studien, Mitglied der Expertenvereinigung der Krim-Plattform.
Elmira Ablyalimova-Chyygoz, Kulturwissenschaftlerin, ehemalige Direktorin des Historischen und Kulturellen Reservats Bachtschyssaraj, Koordinatorin der NGO „Krim-Institut für Strategische Errungenschaften“, Mitglied des Expertenrats der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krim, des Expertenausschusses der Krim-Plattform.
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