Staatsgründung, „Brotfrieden“ und Pogrome: Die Ukraine in Krieg, Revolution und Bürgerkrieg (1917–1921)
Die Zeit von 1917 bis 1921 stand für die Ukraine nicht nur im Zeichen von Krieg und Revolution, sondern auch der traumatischen Erfahrung einer versuchten aber gescheiterten Staatsgründung. Von Tanja Penter
Bereits kurz nach der Februarrevolution 1917 hatte sich in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw als nationales Vorparlament die Zentralrada gebildet. Sie sollte sich bald zum stärksten Kontrahenten der Provisorischen Regierung und später der Bolschewiki in der Peripherie entwickeln. Die Petrograder Sowjetregierung führte ab Dezember 1917 Krieg gegen die Zentralrada, die im Januar 1918 die Ukrainische Volksrepublik als souveränen Staat ausrief. In einer Großoffensive eroberten die Bolschewiki am 8. Februar Kyjiw und vertrieben die Vertreter der Zentralrada aus der ukrainischen Hauptstadt. Parallel hatten sich innerhalb der Ukraine mehrere autonome Sowjetrepubliken gebildet.
Der „Brotfrieden“: Militärische Unterstützung für Getreide
Dies waren die Rahmenbedingungen, unter denen es am 9. Februar 1918 in Brest-Litowsk zum Abschluss eines Separatfriedens zwischen der Ukraine und den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien, Osmanisches Reich) kam. Da die Ukraine sich im Gegenzug für militärische Unterstützung gegen Sowjetrussland zu Getreidelieferungen an die Mittelmächte verpflichtete, ging dieser Vertrag auch als „Brotfrieden“ in die Geschichtsbücher ein.
Die Mittelmächte kamen der ukrainischen Regierung nun zur Hilfe, besetzten in wenigen Wochen die gesamte Ukraine, eroberten am 1. März Kyjiw zurück und setzten die Zentralrada wieder ein. Sowjetrussland erkannte die Souveränität der Ukraine schließlich am 3. März an.
Deutsche Besatzung 1918
Die folgende, knapp achtmonatige Besetzung der Ukraine durch die Mittelmächte im Jahr 1918 wird von ukrainischen Historikern heute oft als stabilste Phase der ukrainischen Revolution angesehen. Die Deutschen wurden in dieser Zeit weniger als Besatzer, sondern als Verbündete wahrgenommen – als Weg nach Europa und Möglichkeit der Trennung von Moskau.
Der „Brotfrieden“ mit den Mittelmächten wird in diesem Sinne häufig als Erfolgsgeschichte der ukrainischen Diplomaten in Brest-Litowsk beschrieben. Immerhin hatte die ukrainische Delegation nach harten Verhandlungen die Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit durch alle vier Mittelmächte und Russland erreicht. Mit dieser Darstellung wehren sich ukrainische Historiker teilweise auch zu Recht gegen eine Geschichtsschreibung, die die Ukraine nur als Objekt oder Opfer in der Grand strategy der Großmächte betrachtet und die agency ukrainischer Akteure vollständig ausblendet. Aus den Memoiren des damaligen österreichischen Außenministers Czernin wissen wir aber auch, dass es für die Diplomaten in Brest-Litowsk damals offenbar schwer einzuschätzen war, wer nun eigentlich die Macht in Kyjiw hatte.
Unter der deutschen Besatzung kam es schon bald zu Konflikten mit der ukrainischen Regierung. Im April 1918 ersetzten die Deutschen diese durch eine „Marionetten“-Regierung unter dem Hetman Pavlo Skoropads’kyj, einem ehemaligen General der Zarenarmee und Großgrundbesitzer. Von ihm erhofften sie sich eine bessere Erfüllung der versprochenen Lebensmittellieferungen. Das Programm der Regierung Skoropads’kyjs bestand darin, den Gutsbesitzern ihr Land zurückgeben. Vor allem die Masse der Ukrainischen Bauern lehnte das konservative Regime Skoropads’kyjs ab und es kam zu Massenaufständen ukrainischer Bauern. Auch die hohen Getreideabtransporte führten in der Bevölkerung zu massiven Protesten.
Die Pogrome unter Petljura
Auf den Abzug der deutschen Truppen und die Flucht Skoropads’kyjs nach Deutschland folgte im Dezember die etwa einjährige Herrschaft des Direktoriums der Ukrainischen Volksrepublik, in dem bald der nationaldemokratische Militärführer Symon Petljura die Oberhand gewann. Unter seiner Herrschaft kam es im Bürgerkrieg 1919 zu grausamen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung.
Petljura selbst war kein Antisemit und hatte antisemitische Ausschreitungen seiner Truppen sogar unter Strafe gestellt. Der Regierung der Ukrainischen Volksrepublik gehörten auch Juden an. Unter der Zentralrada war sogar ein eigenständiges Ministerium für jüdische Angelegenheiten eingerichtet worden und der jüdischen Minderheit in der Ukraine war erstmals ein gesetzlich garantierter Autonomiestatus gewährt worden. Im Chaos des Bürgerkriegs gelang es Petljura aber nicht die Gewaltausschreitungen seiner Truppen zu kontrollieren, was ihn einer Mitverantwortung nicht enthebt.
Für die Pogrome an der jüdischen Bevölkerung waren allerdings nicht nur Petljura-Truppen, sondern auch Verbände der Weißen unter dem General Denikin, verschiedene paramilitärische Bauernverbände unter der Führung lokaler Otamane und vereinzelt und in sehr viel geringerem Ausmaß auch Truppen der Roten Armee verantwortlich. Die Pogromtäter waren in erster Linie ukrainische und russische Soldaten.
Die Zahlenangaben zu den Pogromtoten weichen stark voneinander ab und liegen zwischen 40.000 und 200.000 jüdischen Opfern, die in mehreren Hundert ukrainischen Ortschaften ermordet wurden. Die jüngere Forschung tendiert dabei mittlerweile zu eher höheren Opferzahlen. Lokalstudien zu einzelnen Pogromen haben gezeigt, dass die Zahl der Opfer in einer Ortschaft manchmal bis zu 2.000 erreichte – so beispielsweise im Frühjahr 1919 in Proskuriv, dem heutigen Chmelnyzkyj. Neben den Morden kam es zu vielfältigen anderen Formen der Gewalt und demonstrativen Demütigungen. Zahlreiche jüdische Frauen wurden Opfer von Vergewaltigungen.
Wie wir aus Berichten von Überlebenden wissen, handelte es sich zumeist um spontane Gewaltaktionen, bei denen langjährige Nachbarn plötzlich zu Pogromtätern werden konnten. Die Sowjetregierung untersuchte seit 1920 einige der Pogrome und verurteilte einige Täter in Gerichtsverfahren. Viele Pogrome wurden von den lokalen jüdischen Gemeinschaften mit schriftlichen Berichten, Fotos, und in Einzelfällen auch Filmaufnahmen sorgfältig dokumentiert.
Viele Juden sahen später vor allem Petljura als Hauptverantwortlichen für die Pogrome, die sie in den Kontext eines vermeintlichen jahrhundertealten ukrainischen Antisemitismus seit dem schrecklichen Pogrom im Zuge des Kosakenaufstandes unter dem Hetman Chmelnyzkyj im 17. Jahrhundert stellten. Petljura wurde 1926 im Exil in Paris von dem Juden Schwartzbard erschossen, der beteuerte er habe damit die Pogrome rächen wollen. Im Ergebnis des weltweite Aufmerksamkeit erregenden Strafprozesses wurde Schwartzbard schließlich frei gesprochen. Die sowjetische Propaganda nutzte den Fall, um das oftmals bis heute wirkmächtige Stereotyp des ukrainischen Nationalisten und Antisemiten in der internationalen Öffentlichkeit zu verbreiten.
Pogrome schufen Voraussetzungen für den Holocaust
Die Pogrome der Bürgerkriegszeit besaßen nach Ansicht der jüngeren Forschung viel weitreichendere Folgen als von Historikern bisher angenommen wurde. Nach Ansicht einiger Forscher stellten sie einen wichtigen Erfahrungshintergrund für den nationalsozialistischen Holocaust dar, der sich zwei Jahrzehnte später oftmals an den gleichen Orten ereignete, und schufen quasi die Voraussetzungen dafür, dass der Judenmord von der Bevölkerung als bekanntes Muster wahrgenommen wurde. Zugleich spielten die Pogromerfahrung und der zumeist erfahrene Schutz unter der Sowjetherrschaft auch eine zentrale Rolle für die Transformation der Juden in Sowjetbürger und ihre Haltung zur Sowjetmacht. Hier hat möglicherweise ein Wandel stattgefunden. Denn wie wir aus Wahlergebnissen wissen, hegten im Revolutionsjahr 1917 nur sehr wenige Juden Sympathien für die Bolschewiki.
In der Ukraine erfährt die Geschichte von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg gerade auch in einer jüngeren Generation von Historikerinnen und Historikern eine starke Aufmerksamkeit. In Deutschland zeichnet sich das Forschungsinteresse am Thema leider nicht gleichermaßen ab. Dabei gibt es auch für die deutsche Historiographie noch zahlreiche „weiße Flecken“ zur Geschichte der deutschen Besatzung in der Ukraine oder zur Kriegserfahrung der Soldaten und der Zivilbevölkerung an der Ostfront zu füllen. Ein tieferes Verständnis der komplizierten und vielfältig verflochtenen Ereignisse vor hundert Jahren ist auch deshalb dringend notwendig, weil es einen Schlüssel für die Analyse der aktuellen Konflikte liefert.
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