Die Ukraine kann der EU aus der Gaskrise helfen
In der derzeitigen Gaskrise spielt der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eine Schlüsselrolle. Wenn Gazprom weiter die ukrainischen Transitkapazitäten umgeht, drohen in Europa neue Versorgungsrisiken, schreib Olena Pavlenko von der DiXi-Group.
Europa leidet unter hohen Gaspreisen. An einigen Gashandelsplätzen sind diese seit Januar um mehr als 250 Prozent gestiegen. Dies wirkt sich bereits auf die Endverbraucherpreise für Haushalte in vielen EU-Staaten aus. Die Regierungen erwägen milliardenschwere Rettungspakete, um den rapiden Preisanstieg abzufedern. Und es hat nicht den Anschein, als würde die Krise ein schnelles Ende finden – angesichts niedriger Temperaturen und unzureichend gefüllter Gasspeicher steht zu erwarten, dass die Preise während der Wintersaison hoch bleiben.
Gazprom und der norwegische Energiekonzern Equinor sind die beiden wichtigsten Gaslieferanten der EU. Sie decken mehr als die Hälfte des europäischen Bedarfs. Equinor reagierte mit Plänen zur Steigerung der Gasproduktion und zur Erhöhung des Liefervolumens an die europäischen Länder auf die Krise. Die Reaktion des Vorstandsvorsitzenden von Gazprom, Alexei Miller, bestand darin, den asiatischen Gasmarkt als attraktiver zu bezeichnen – selbst bei den derzeitigen Gaspreisen in Europa. Die Europäer sollten sich nicht der Illusion hingeben, dass Russland die Volkswirtschaft der EU oder seine Kunden retten wird – auch wenn die IEA argumentiert, dass Gazprom in der Lage wäre, seine Gasexporte in die EU zu erhöhen und das erwartete Defizit auszugleichen.
Nicht nur die IEA ist der Ansicht, dass Gazprom die Möglichkeit, nicht jedoch den Willen hat, zur Lösung der Gaskrise in der EU beizutragen. Mehr als 40 Mitglieder des Europäischen Parlaments haben die Europäische Kommission in einem Schreiben dazu aufgefordert, potenzielle Manipulationen durch Gazprom und mögliche Verstöße gegen geltendes EU-Wettbewerbsrecht zu untersuchen. Die US-Energieministerin Jennifer Granholm konstatierte während eines Briefings, dass es möglicherweise zu Manipulationen bei der Gasversorgung gekommen sei, was mehr Einigkeit zwischen den USA und ihren europäischen Partnern erfordere. Obwohl Gazprom darauf besteht, dass es die Verträge einhundertprozentig erfüllt, wird von Unternehmensseite nicht geleugnet, dass mehr getan werden könnte, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre.
Gazprom beharrt auf dem Standpunkt, dass es seine Exporte in die EU auf ein Niveau „nahe am historischen Höchststand“ angehoben habe. Ein genauer Blick auf die Gasproduktion und die Nutzung der Exportrouten zeigt jedoch, dass es nach wie vor viele Möglichkeiten gäbe, die Gasexporte auf russischer Seite zu steigern. Obwohl das Jahr 2020 für Gazprom mit einer Produktionsmenge von 452 Milliarden Kubikmetern nicht sehr einträglich ausfiel (im Vergleich dazu betrug die Gasproduktion im Jahr davor 501,2 Milliarden Kubikmeter), betonte das Unternehmen, dass es genügend produziere, um den in- und ausländischen Bedarf vollständig decken zu können. Die Höhe der russischen Gasexporte nach Europa (einschließlich der Türkei) schwankte zwischen 179 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2020 und 203,9 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2019, und die Erfahrung aus dem Jahr 2018 zeigt, dass es für das Unternehmen kein Problem sein dürfte, die Gasexporte um bis zu 20 Prozent zu steigern.
Quelle: https://www.kommersant.ru/doc/4642213
Hinzu kommt, dass die bestehenden Versorgungrouten die Möglichkeit bieten, die Gasexporte in die EU umgehend zu erhöhen. Während Russland die Kapazitäten der Pipelines Nord Stream 1 und Jamal voll ausschöpft, wird das ukrainische Gastransitsystem nur mit einem Teil seiner Gesamtauslastung betrieben. Das System kann jährlich mehr als 140 Milliarden Kubikmeter Gas in die EU leiten, doch laut dem 2019 unterschriebenen Vertrag ist das Unternehmen dazu verpflichtet, bis Ende 2024 nicht weniger als 40 Milliarden Kubikmeter über diese Route zu leiten. Die Daten zeigen, dass die ukrainischen Gas-Pipelines trotz ihrer Kapazitäten vor allem entsprechend dem Residualprinzip dazu genutzt werden, um Spitzenlasten abzudecken, während andere, von Gazprom kontrollierte Pipelines mit voller Auslastung arbeiten.
Lieferungen nach Estland, Finnland und Lettland sind nicht enthalten; Transitmengen aus Russland in die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und Serbien sind nicht enthalten. Seit der Inbetriebnahme von Turk Stream sind die Gasströme in die Türkei über den Balkan nicht mehr signifikant.
Quelle: Basierend auf den Daten der ENTSO-G-Transparancy Platform, Stand: 2. Juni 2021 https://ec.europa.eu/energy/sites/default/files/quarterly_report_on_european_gas_markets_q1_2021_final.pdf
Der ukrainische Fernleitungsnetzbetreiber für Gas (GTSOU) meldet regelmäßig, dass er bereit sei, mehr Gas zu transportieren, und dass er den Transit zügig erhöhen könne, da die Systemkapazität dies zulasse. Laut GTSOU-Geschäftsführer Serhiy Makogon kann die Ukraine die Gaskrise in der EU lösen, indem sie mehr Gas transportiert als Nord Stream 1 und Nord Stream 2 zusammengenommen. Die Kapazität der ukrainischen Gastransit-Pipelines beläuft sich auf 146 Milliarden Kubikmeter, während die Kapazität der beiden Pipelines von Nord Stream 110 Milliarden Kubikmeter beträgt (sofern sie vom EU-Recht ausgenommen und durch Gazprom voll ausgelastet würde – was nicht der Fall sein dürfte). Außerdem ist der Gastransit durch die Ukraine in der ersten Jahreshälfte 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 13 Prozent zurückgegangen. Obwohl GTSOU beständig zusätzliche Transitkapazitäten versteigert hat, war es Gazprom, welches auf diese Gelegenheit verzichtet hat.
Gazprom setzt bereits jetzt die Strategie um, die Nutzung des ukrainischen Gastransitnetzes in Zukunft zu vermeiden. Obwohl einige russische Politiker im Grundsatz bestätigen, dass in Zukunft ein gewisses Volumen über die Ukraine geleitet werden könnte, dürfte dieses nicht ausreichen, um das ukrainische Gassystem profitabel zu halten. Es könnte auch ein anderes Szenario eintreten, wenn zu geringe Transitmengen es der Ukraine überhaupt unmöglich machen würden, die Qualitätsstandards für den Transit in die EU einzuhalten, und wenn es keine Ausweichmöglichkeit für den Fall einer ähnlichen Gaskrise in Europa gäbe – oder einige der russischen Pipelines (insbesondere diejenigen, die auf dem Meeresboden verlegt wurden und nicht die Möglichkeit bieten, Gasströme schnell umzuleiten) für Wartungs- oder Reparaturarbeiten außer Betrieb gesetzt werden. In diesem Fall könnten Szenarien, wie sie die EU dieser Tage erlebt, noch häufiger eintreten.
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