„Wenn der Fluss zufriert, können wir relativ leicht auf die andere Seite gelangen“
In der umkämpften Ostukraine ist dieser Winter bisher eher mild verlaufen. Weil das Passieren der Kontaktlinie weiterhin aufwendig und langwierig bleibt, träumen manche vom Eis.
Für Tetjana Podwihna ist das die Chance, ihre Kinder wiederzusehen. Die etwa 50-jährige arbeitet in der Postfiliale von Trochisbenka, ein 2.500-Einwohner-Dorf im Gebiet Luhansk. Trochisbenka liegt am Nordufer des Siwerskyi Donez, und jahrelang sind seine Bewohner über den Fluss gependelt. Südlich der Brücke, in Slowjanoserbsk, waren Bezirksverwaltung, ein Krankenhaus, Feuerwehr und andere wichtige Einrichtungen. Auch Podwihnas Kinder leben dort. Aber besuchen können sie sich nicht, obwohl es nur knapp fünf Kilometer Luftlinie sind.
Seit Sommer 2014 markiert der Fluss hier die Frontlinie im andauernden militärischen Konflikt mit den von Russland unterstützten Separatisten der „Volksrepublik“ Luhansk. Sie stehen am südlichen Ufer, die ukrainischen Truppen am Nordufer. Das Überqueren der „Kontaktlinie“ genannten Front ist nicht nur streng verboten, es ist auch gefährlich: Auf beiden Ufern haben die verfeindeten Parteien Minen verlegt. Die Brücke, die Trochisbenka mit Slowjanoserbsk verband, ist zerstört, die Straße dahin ist gesperrt und wird rund um die Uhr von ukrainischen Soldaten bewacht. Nachts liefern sie sich regelmäßig Feuergefechte mit dem Gegner am anderen Ufer.
Auf einer Bürgerversammlung in Trochisbenka (© Tim Bohse).
Der einzige offizielle Weg in die von niemandem anerkannte „Volksrepublik“ führt durch Stanyzja Luhanska, eine knappe Autostunde weiter östlich über extrem schlechte Straßen. Dort gibt es eine notdürftig reparierte Brücke, über die Fußgänger gehen dürfen, wenn sie von den Grenzschützern beider Seiten durchgelassen werden. Auf der anderen Seite muss man den ganzen beschwerlichen Weg wieder zurückfahren. Wenn der Andrang an dem Übergang nicht zu groß ist, dauert die Tour einen Tag. Dazu kommen Fahrtkosten, die leicht ein Zehntel der hier üblichen Monatsrente von umgerechnet etwa 35 Euro erreichen. Für fast alle in Trochisbenka ist das zu viel.
Verzweiflung und Machtlosigkeit
Die Menschen sind verzweifelt: Bei einer Veranstaltung mit Vertretern der ukrainischen Hilfsorganisation „Wostok SOS“ und der Berliner NGO Deutsch-Russischer-Austausch im Dezember forderten etwa 60 überwiegend ältere Frauen in Sprechchören „eine Brücke, gebt uns eine Brücke“. Viele hatten Tränen in den Augen.
Ob es bald dazu kommt, darf bezweifelt werden. Bemühungen der Organisation zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), bei den Verhandlungen im weißrussischen Minsk einen weiteren Übergang im Gebiet Luhansk zu vereinbaren, waren bislang erfolglos. Im rund 50 Kilometer weiter westlich gelegenen Solote hat der ukrainische Grenzschutz einen fertigen Straßenübergang eingerichtet, samt Containerdorf zur Abfertigung. Doch die Container stehen leer, denn bislang weigern sich die Separatisten, den Übergang auf ihrer Seite zu eröffnen. Unter anderem fordern sie, gleichzeitig einen Übergang in der weiter östlich gelegenen Stadt Schtschastja einzurichten – was wiederum die Ukraine ablehnt. Inoffiziell heißt es, dass jede Seite fürchtet, ein Übergang eröffne dem Gegner militärische Vorteile – den Ukrainern in Solote, den Separatisten in Schtschastja.
Schlimmer noch ist, dass die Zivilbevölkerung das Gefühl hat, völlig machtlos zu sein.
Wahlen in der Region sind ausgesetzt
In Solote, Stanyzja Luhanska und Trochisbenka hat es seit 2010 keine Wahlen mehr gegeben – im August 2015 orderte Präsident Petro Poroschenko per Dekret an, die gewählten Kommunalverwaltungen durch sogenannte zivil-militärische Verwaltungen zu ersetzen.
Straßenszene in Stanyzja Luhanska (© Nikolaus von Twickel).
Trotz ihres Namens sind die neuen Verwaltungen nicht in den Händen des Militärs, sondern fast überall sitzen Zivilisten an der Spitze. Bei ihrer Ernennung durch die Regionalverwaltung in Sjewjerodonezk muss aber der Geheimdienst SBU, der bei der „Anti-Terror-Operation“ genannten Militäroperation federführend ist, grünes Licht geben.
Der Verzicht auf Wahlen wird offiziell mit dem Andauern der Kämpfe begründet. Der wahre Grund ist aber wohl die Furcht, dass die lokale Bevölkerung mit den Separatisten paktiert. Der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung von Popasna, Witali Proskurko, gibt unumwunden zu, dass Wahlen direkt an der Front ein Sicherheitsrisiko darstellen. „Es gibt hier viele prorussische Elemente“, erklärt er.
In Solote, das zum Bezirk Popasna gehört, gibt es bereits seit vier Jahren keinen Bürgermeister. Deshalb können Gelder für wichtige Reparaturarbeiten in der oft unter Beschuss liegenden Frontstadt nicht bewilligt werden, klagt die Leiterin der städtischen Wirtschaftsabteilung, Ljubow Subok. „Unsere Hände sind gebunden, wir können nichts machen,“ sagt sie.
Zerstörtes Krankenhaus in Stanyzja Luhanska (© Nikolaus von Twickel).
Die Gründe sind unklar. Bei der Regionalverwaltung in Sjewjerodonezk heißt es, alle Kandidaten seien wieder abgesprungen. „Wir hoffen, das Problem Solote Anfang 2018 zu lösen,“ sagt Verwaltungssprecher Oleksandr Kostenko.
Bei uns sitzen die alten ‚Regionalen‘ in Amt und Würden und regieren wie damals
Juri Solkin, der Verwaltungschef von Stanyzja Luhanska, geht sogar noch weiter. Er spricht sich dafür aus, dass alle Gemeinden entlang der rund 500 Kilometer langen „Kontaktlinie“ zivil-militärische Verwaltungen bekommen. „Ich bin für die Abschaffung von Wahlen für die kommenden zehn Jahre – an der Front darf es keine politischen Spielereien geben, die die Situation destabilisieren könnten,“ behauptet er.
Solkin selbst ist kein unbeschriebenes Blatt. Als früheres Mitglied der „Partei der Regionen“ arbeitete der heute 51-jährige seit 2010 in der Bezirksverwaltung. Zu Beginn des Krieges soll er mit den Separatisten sympathisiert haben, manch einer will ihn in einem Video von April 2014 erkannt haben, worin er in einer Menschenmenge dem Rausschmiss seines alten Chefs applaudiert.
„Bei uns sitzen die alten ‚Regionalen‘ in Amt und Würden und regieren wie damals,“ sagt die Bürgerrechtsaktivistin Galina Barabaschowa.
Es bleibt die Hoffnung aufs Eis
Heute gibt sich Solkin klar auf Kiews politischem Kurs. Eine mögliche UN-Friedenstruppe dürfe nur stationiert werden, wenn sie auch an der Grenze zu Russland stehe, sagt er.
Die Ansichten über eine Friedenslösung fallen höchst unterschiedlich aus in der Region. Der Bürgermeister von Popasna, Juri Onischtschenko, hat nichts gegen ein Einfrieren des Konflikts, ein Szenario, das in der Ukraine viele ablehnen, weil es Russland ermögliche, die gewonnenen Gebiete dauerhaft zu kontrollieren. „Wir wären zufrieden,“ sagt Onischtschenko, denn für Popasna sei es am besten, die bestehende Wirtschaftsstruktur am Leben zu halten und auf Investitionen zu hoffen. Für die Wirtschaft auf der anderen Seite gebe es keine Hoffnung mehr, denn sie wiederherzustellen würde Milliarden kosten.
Vlada Klapatjuk, eine 17-jährige Schülerin des Gymnasiums von Solote, ist gegen eine militärische Lösung: „Bei uns heißt es, dass es besser ist zehn Jahre zu verhandeln als einen Tag lang zu kämpfen,“ sagt sie.
Für Tetjana Podwihna bleibt erst mal nur das Hoffen auf Eis. „Wenn der Fluss zufriert, können wir relativ leicht auf die andere Seite gelangen,“ sagt sie.
Die Recherche zu diesem Bericht fand statt im Rahmen einer Menschenrechtsbeobachtungsmission, die der Deutsch-Russische-Austausch (DRA e.V.) gemeinsam mit der ukrainischen NGO Wostok SOS im Dezember 2017 durchgeführt hat.
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