„Wenn der Fluss zufriert, können wir relativ leicht auf die andere Seite gelangen“

Men­schen­schlange in Stanyzja Luhanska (© Niko­laus von Twickel)

In der umkämpf­ten Ost­ukraine ist dieser Winter bisher eher mild ver­lau­fen. Weil das Pas­sie­ren der Kon­takt­li­nie wei­ter­hin auf­wen­dig und lang­wie­rig bleibt, träumen manche vom Eis.

Für Tetjana Pod­wihna ist das die Chance, ihre Kinder wie­der­zu­se­hen. Die etwa 50-jährige arbei­tet in der Post­fi­liale von Tro­chis­benka, ein 2.500-Einwohner-Dorf im Gebiet Luhansk. Tro­chis­benka liegt am Nord­ufer des Siwers­kyi Donez, und jah­re­lang sind seine Bewoh­ner über den Fluss gepen­delt. Südlich der Brücke, in Slo­wja­no­serbsk, waren Bezirks­ver­wal­tung, ein Kran­ken­haus, Feu­er­wehr und andere wich­tige Ein­rich­tun­gen. Auch Pod­wih­nas Kinder leben dort. Aber besu­chen können sie sich nicht, obwohl es nur knapp fünf Kilo­me­ter Luft­li­nie sind.

Seit Sommer 2014 mar­kiert der Fluss hier die Front­li­nie im andau­ern­den mili­tä­ri­schen Kon­flikt mit den von Russ­land unter­stütz­ten Sepa­ra­tis­ten der „Volks­re­pu­blik“ Luhansk. Sie stehen am süd­li­chen Ufer, die ukrai­ni­schen Truppen am Nord­ufer. Das Über­que­ren der „Kon­takt­li­nie“ genann­ten Front ist nicht nur streng ver­bo­ten, es ist auch gefähr­lich: Auf beiden Ufern haben die ver­fein­de­ten Par­teien Minen verlegt. Die Brücke, die Tro­chis­benka mit Slo­wja­no­serbsk verband, ist zer­stört, die Straße dahin ist gesperrt und wird rund um die Uhr von ukrai­ni­schen Sol­da­ten bewacht. Nachts liefern sie sich regel­mä­ßig Feu­er­ge­fechte mit dem Gegner am anderen Ufer.

Auf einer Bür­ger­ver­samm­lung in Tro­chis­benka (© Tim Bohse).

Der einzige offi­zi­elle Weg in die von nie­man­dem aner­kannte „Volks­re­pu­blik“ führt durch Stanyzja Luhanska, eine knappe Auto­stunde weiter östlich über extrem schlechte Straßen. Dort gibt es eine not­dürf­tig repa­rierte Brücke, über die Fuß­gän­ger gehen dürfen, wenn sie von den Grenz­schüt­zern beider Seiten durch­ge­las­sen werden. Auf der anderen Seite muss man den ganzen beschwer­li­chen Weg wieder zurück­fah­ren. Wenn der Andrang an dem Über­gang nicht zu groß ist, dauert die Tour einen Tag. Dazu kommen Fahrt­kos­ten, die leicht ein Zehntel der hier übli­chen Monats­rente von umge­rech­net etwa 35 Euro errei­chen. Für fast alle in Tro­chis­benka ist das zu viel.

Ver­zweif­lung und Machtlosigkeit

Die Men­schen sind ver­zwei­felt: Bei einer Ver­an­stal­tung mit Ver­tre­tern der ukrai­ni­schen Hilfs­or­ga­ni­sa­tion „Wostok SOS“ und der Ber­li­ner NGO Deutsch-Rus­si­scher-Aus­tausch im Dezem­ber for­der­ten etwa 60 über­wie­gend ältere Frauen in Sprech­chö­ren „eine Brücke, gebt uns eine Brücke“. Viele hatten Tränen in den Augen.

Ob es bald dazu kommt, darf bezwei­felt werden. Bemü­hun­gen der Orga­ni­sa­tion zur Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Europa (OSZE), bei den Ver­hand­lun­gen im weiß­rus­si­schen Minsk einen wei­te­ren Über­gang im Gebiet Luhansk zu ver­ein­ba­ren, waren bislang erfolg­los. Im rund 50 Kilo­me­ter weiter west­lich gele­ge­nen Solote hat der ukrai­ni­sche Grenz­schutz einen fer­ti­gen Stra­ßen­über­gang ein­ge­rich­tet, samt Con­tai­ner­dorf zur Abfer­ti­gung. Doch die Con­tai­ner stehen leer, denn bislang weigern sich die Sepa­ra­tis­ten, den Über­gang auf ihrer Seite zu eröff­nen. Unter anderem fordern sie, gleich­zei­tig einen Über­gang in der weiter östlich gele­ge­nen Stadt Scht­schastja ein­zu­rich­ten – was wie­derum die Ukraine ablehnt. Inof­fi­zi­ell heißt es, dass jede Seite fürch­tet, ein Über­gang eröffne dem Gegner mili­tä­ri­sche Vor­teile – den Ukrai­nern in Solote, den Sepa­ra­tis­ten in Schtschastja.

Schlim­mer noch ist, dass die Zivil­be­völ­ke­rung das Gefühl hat, völlig macht­los zu sein.

Wahlen in der Region sind ausgesetzt

In Solote, Stanyzja Luhanska und Tro­chis­benka hat es seit 2010 keine Wahlen mehr gegeben – im August 2015 orderte Prä­si­dent Petro Poro­schenko per Dekret an, die gewähl­ten Kom­mu­nal­ver­wal­tun­gen durch soge­nannte zivil-mili­tä­ri­sche Ver­wal­tun­gen zu ersetzen.

Stra­ßen­szene in Stanyzja Luhanska (© Niko­laus von Twickel).

Trotz ihres Namens sind die neuen Ver­wal­tun­gen nicht in den Händen des Mili­tärs, sondern fast überall sitzen Zivi­lis­ten an der Spitze. Bei ihrer Ernen­nung durch die Regio­nal­ver­wal­tung in Sje­wjer­odo­nezk muss aber der Geheim­dienst SBU, der bei der „Anti-Terror-Ope­ra­tion“ genann­ten Mili­tär­ope­ra­tion feder­füh­rend ist, grünes Licht geben.

Der Ver­zicht auf Wahlen wird offi­zi­ell mit dem Andau­ern der Kämpfe begrün­det. Der wahre Grund ist aber wohl die Furcht, dass die lokale Bevöl­ke­rung mit den Sepa­ra­tis­ten pak­tiert. Der stell­ver­tre­tende Leiter der Bezirks­ver­wal­tung von Popasna, Witali Pro­s­kurko, gibt unum­wun­den zu, dass Wahlen direkt an der Front ein Sicher­heits­ri­siko dar­stel­len. „Es gibt hier viele pro­rus­si­sche Ele­mente“, erklärt er.

In Solote, das zum Bezirk Popasna gehört, gibt es bereits seit vier Jahren keinen Bür­ger­meis­ter. Deshalb können Gelder für wich­tige Repa­ra­tur­ar­bei­ten in der oft unter Beschuss lie­gen­den Front­stadt nicht bewil­ligt werden, klagt die Lei­te­rin der städ­ti­schen Wirt­schafts­ab­tei­lung, Ljubow Subok. „Unsere Hände sind gebun­den, wir können nichts machen,“ sagt sie.

Zer­stör­tes Kran­ken­haus in Stanyzja Luhanska (© Niko­laus von Twickel).

Die Gründe sind unklar. Bei der Regio­nal­ver­wal­tung in Sje­wjer­odo­nezk heißt es, alle Kan­di­da­ten seien wieder abge­sprun­gen. „Wir hoffen, das Problem Solote Anfang 2018 zu lösen,“ sagt Ver­wal­tungs­spre­cher Olek­sandr Kostenko.

Bei uns sitzen die alten ‚Regio­na­len‘ in Amt und Würden und regie­ren wie damals 

Juri Solkin, der Ver­wal­tungs­chef von Stanyzja Luhanska, geht sogar noch weiter. Er spricht sich dafür aus, dass alle Gemein­den entlang der rund 500 Kilo­me­ter langen „Kon­takt­li­nie“ zivil-mili­tä­ri­sche Ver­wal­tun­gen bekom­men. „Ich bin für die Abschaf­fung von Wahlen für die kom­men­den zehn Jahre – an der Front darf es keine poli­ti­schen Spie­le­reien geben, die die Situa­tion desta­bi­li­sie­ren könnten,“ behaup­tet er.

Solkin selbst ist kein unbe­schrie­be­nes Blatt. Als frü­he­res Mit­glied der „Partei der Regio­nen“ arbei­tete der heute 51-jährige seit 2010 in der Bezirks­ver­wal­tung. Zu Beginn des Krieges soll er mit den Sepa­ra­tis­ten sym­pa­thi­siert haben, manch einer will ihn in einem Video von April 2014 erkannt haben, worin er in einer Men­schen­menge dem Raus­schmiss seines alten Chefs applaudiert.

„Bei uns sitzen die alten ‚Regio­na­len‘ in Amt und Würden und regie­ren wie damals,“ sagt die Bür­ger­rechts­ak­ti­vis­tin Galina Barabaschowa.

Es bleibt die Hoff­nung aufs Eis

Heute gibt sich Solkin klar auf Kiews poli­ti­schem Kurs. Eine mög­li­che UN-Frie­dens­truppe dürfe nur sta­tio­niert werden, wenn sie auch an der Grenze zu Russ­land stehe, sagt er.

Die Ansich­ten über eine Frie­dens­lö­sung fallen höchst unter­schied­lich aus in der Region. Der Bür­ger­meis­ter von Popasna, Juri Onischt­schenko, hat nichts gegen ein Ein­frie­ren des Kon­flikts, ein Sze­na­rio, das in der Ukraine viele ableh­nen, weil es Russ­land ermög­li­che, die gewon­ne­nen Gebiete dau­er­haft zu kon­trol­lie­ren. „Wir wären zufrie­den,“ sagt Onischt­schenko, denn für Popasna sei es am besten, die bestehende Wirt­schafts­struk­tur am Leben zu halten und auf Inves­ti­tio­nen zu hoffen. Für die Wirt­schaft auf der anderen Seite gebe es keine Hoff­nung mehr, denn sie wie­der­her­zu­stel­len würde Mil­li­ar­den kosten.

Vlada Kla­pat­juk, eine 17-jährige Schü­le­rin des Gym­na­si­ums von Solote, ist gegen eine mili­tä­ri­sche Lösung: „Bei uns heißt es, dass es besser ist zehn Jahre zu ver­han­deln als einen Tag lang zu kämpfen,“ sagt sie.

Für Tetjana Pod­wihna bleibt erst mal nur das Hoffen auf Eis. „Wenn der Fluss zufriert, können wir relativ leicht auf die andere Seite gelan­gen,“ sagt sie.


Die Recher­che zu diesem Bericht fand statt im Rahmen einer Men­schen­rechts­be­ob­ach­tungs­mis­sion, die der Deutsch-Rus­si­sche-Aus­tausch (DRA e.V.) gemein­sam mit der ukrai­ni­schen NGO Wostok SOS im Dezem­ber 2017 durch­ge­führt hat.

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