Oleksandr Lytwynenko: Vordenker für nationale Sicherheit
Der neue Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates Oleksandr Lytwynenko gilt sowohl als hervorragender Analytiker als auch als Organisationstalent. Der promovierte Politikwissenschaftler wird sich unter anderem um die Umsetzung des Sicherheitsabkommens mit Deutschland kümmern.
Über die Ablösung des bisherigen Sekretärs des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates Oleksij Danilow wurde schon länger debattiert. Doch es war ein unglückliches Wortspiel über den chinesischen Sonderbeauftragten Li Hui in einer Fernsehsendung, der vor Kurzem zu Friedenslösungen zu vermitteln versuchte, das Oleksij Danilow jetzt den Job kostete. Nachfolger des medial sehr aktiven Danilows ist ein renommierter Analytiker, der zwar bislang nicht öffentlichkeitswirksam auftrat, dafür aber mit bester Expertise in Sicherheitsfragen aufwarten kann.
Der 51-jährige Oleksandr Lytwynenko, gebürtiger Kyjiwer, leitete seit Sommer 2021 die ukrainische Auslandsaufklärung – und war für die breite Öffentlichkeit der bislang unbekannteste Leiter einer ukrainischen Geheimdienstbehörde. Den Chef des Militärgeheimdienstes HUR Kyrylo Budanow kennt inzwischen jeder. Ähnlich sieht es mit Wassyl Maljuk aus, der den Inlandsgeheimdienst SBU leitet.
Öffentlichkeitsscheuer Experte mit hervorragendem Ruf
Mit Lytwynenko ist es anders: Als er im Februar – noch als Chef der Auslandsaufklärung – bei einer großen Veranstaltung zum zweiten Jahrestag des umfassenden Krieges auf dem Podium saß, handelte es sich um einen seiner sehr seltenen öffentlichen Auftritte. Interviews gibt der neue Sekretär des Sicherheitsrates ungern. Unter Experten ist er dennoch sehr bekannt. In ukrainischen und in westlichen Medien, wie zum Beispiel in The Economist, erschienen regelmäßig seine analytischen Beiträge zur Lage der Welt aus Kyjiwer Perspektive.
So schrieb Lytwynenko etwa im November 2022 in einem Beitrag für die Nachrichtenagentur Interfax-Ukrajina: „[Putin] ist überzeugt, dass die Rückholung der Ukraine […] und die Wiederherstellung des Imperiums nur durch eine globale Neuverteilung der Welt erreicht werden kann. Eine solche Neuverteilung kann 10 bis 15 Jahre dauern und von Konflikten unterschiedlichen Ausmaßes sowie unterschiedlicher Intensität begleitet sein, möglicherweise unter Einsatz von Atomwaffen.” Seine Worte sind nicht nur insofern ernst zu nehmen, als dass er als Chef der Auslandsaufklärung über tiefe Einblicke hinter die Kulissen verfügte. Lytwynenko ist promovierter Politikwissenschaftler, ein anerkannter Analytiker mit hervorragendem Ruf, der sich abgesehen von außenpolitischen Fragen insbesondere mit den Grundlagen nationaler Staatssicherheit beschäftigte.
Erfahrung im Sicherheitsrat – bereits unter Poroschenko
Fast die Hälfte seiner Berufslaufbahn arbeitete der heute 51-Jährige im Nationalen Institut für strategische Studien, das dem ukrainischen Präsidenten untersteht. Zweimal war Lytwynenko Stellvertretender Direktor des Instituts, bevor ihn Präsident Wolodymyr Selenskyj im August 2019 zum Institutsleiter ernannte. Sowohl die damalige als auch die aktuelle Personalentscheidung Selenskyjs sind aus folgendem Grund spannend: Lytwynenko war bereits zweimal im ukrainischen Sicherheitsrat tätig. 2005 leitete er zunächst die wichtige Staatssicherheitsabteilung, deren Sekretär damals Petro Poroschenko war, den man zu Selenskyjs politischen Erzfeinden zählen kann. Als Poroschenko dann 2014 Präsident wurde, war Lytwynenko fünf Jahre lang stellvertretender Sekretär des Sicherheitsrates.
Es ist höchst ungewöhnlich, dass Selenskyj jemandem derart vertraut, der zuvor so eng mit Poroschenko zusammengearbeitet hat. Der neue Sekretär des Sicherheitsrates gilt jedoch vor allem als jemand, der bestrebt ist, Distanz zur Innenpolitik zu wahren. „Lytwynenko hat sich als Organisationstalent und gleichzeitig als echter Intellektueller erwiesen”, beschreibt ihn etwa der bekannte Politologe Wolodymyr Fessenko, der Lytwynenko seit über 20 Jahren kennt, in der Nachrichtensendung TSN. Beim Sicherheitsrat wird Lytwynenko daher besonders den analytischen Bereich stärken, der zu den wichtigsten Aufgaben der Behörde gehört.
Ein „strategischer Denker” auf neuem Posten
Lytwynenkos Kompetenzen – und insgesamt die Stärkung des Sicherheitsrates – sind jedoch auch für ein weitere anstehende Aufgaben wichtig: Die Ukraine unterschreibt zurzeit mit vielen westlichen Ländern Abkommen zur Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Ein solches Dokument wurde auch mit Deutschland erarbeitet. Bei der Umsetzung ist der Sicherheitsrat besonders gefordert, weil er für eine gelungene Koordination der unterschiedlichen Ministerien und Behörden sorgen muss. Für diese Aufgabe scheint Lytwynenko nahezu perfekt geeignet.
Oleksandr Lytwynenko wird oft mit Wolodymyr Horbulin verglichen, dem legendären ersten Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates in der ukrainischen Geschichte, der als einer der besten Analytiker und Vordenker in Sachen nationale Sicherheit in der Ukraine gilt – und dessen Berufsweg sich mehrmals mit dem Lytwynenkos gekreuzt hat. „Lytwynenko ist einer der wenigen Menschen bei uns im Land, die man getrost als strategischen Denker bezeichnen kann”, sagt Mykola Bjeljeskow, Analytiker des Nationalen Instituts für strategische Studien, „er ist eine Person mit umfassender praktischer Erfahrung und einem hochqualitativen akademischen Hintergrund. Er versteht unsere Interessen klar und weiß genau, wovon sich unser Feind und unsere Partner in ihrer Politik leiten lassen.”
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