Der EU-Ukraine Gipfel 2021 – Was ist der Stand der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine sieben Jahre nach dem Assoziierungsabkommen?
Die beachtlichen Durchbrüche in der gemeinsamen Wirtschaftsagenda der EU und der Ukraine sind durch Stagnation in der politischen Entwicklung, insbesondere mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit, abgebremst worden. Die Justizreform, der Kampf gegen die Korruption, unabhängige und effiziente Exekutivorgane und eine rechtskonforme „Deoligarchisierung“ führen die Liste der wichtigsten Reformvorhaben nach wie vor an. Hier hat die Ukraine ihre Hausaufgaben zu erledigen und die EU muss ihre Bemühungen beim Monitoring und der Verifizierung der Reformen ausweiten. Ohne Fortschritt in diesen maßgeblichen Bereichen könnte die wirtschaftliche Integration scheitern. Von Veronika Movchan
Der 23. EU-Ukraine Gipfel in Kyjiw am 12. Oktober 2021 markiert das siebenjährige Jubiläum des Assoziierungsabkommens (AA), des Wendepunktes in den Beziehungen zwischen den Parteien. Die gemeinsame Erklärung im Anschluss an das Gipfeltreffen bietet einen guten Überblick über den Stand der Beziehungen und die Pläne für die Zukunft.
Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Ukraine und diese Rolle hat sich 2021 noch verstärkt. In den ersten neun Monaten des Jahres hat die Ukraine Waren im Wert von 20 Milliarden US-Dollar in die EU exportiert. Somit ist zu erwarten, dass die diesjährigen Zahlen die bisherige Spitze von 2019 (21 Mrd. US-Dollar) übertreffen wird. Auch die Importe aus der EU sind, wenn auch langsamer, gestiegen. Im Ergebnis fallen 42% der ukrainischen Warenexporte und 43% ihrer Importe auf die EU.
Auf politischer Ebene übersetzt sich die Wichtigkeit des Handels mit der EU in die Reduzierung von tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen (NTB), um wie vorgesehen in der Vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) handeln zu können, die ein integraler Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist.
Auch wenn die DCFTA eine deutliche Tarifliberalisierung vorsieht, haben beide Partner Zölle für ausgewählte, hauptsächlich landwirtschaftliche, Produkte beibehalten. Zu diesem Zweck hat die EU-Zollkontingente für 36 Kategorien eingeführt, während die Ukraine drei Zollkontingente nutzt und einige Zölle beibehält. Das Abkommen gewährt eine Beschleunigung der Tarifliberalisierung ab dem fünften Jahr seit dem Inkrafttreten. Die Ukraine hat bereits Anfang 2021 Beratungen zur Liberalisierung initiiert. Die aktuelle gemeinsame Erklärung des Gipfeltreffens stellt den nächsten wichtigen Schritt in diese Richtung dar, denn sie begrüßt den Beginn von „Verhandlungen zur Erweiterung und Beschleunigung des Vorhabens zur Abschaffung von Zöllen“. Dies ist ein bedeutender Durchbruch, der Hoffnung auf eine Lösung der stärksten Bedenken seitens der Ukraine bezüglich des Assoziierungsabkommens und der DCFTA macht.
Ein weiteres wichtiges Element der wirtschaftlichen Integration der Ukraine in den EU-internen Markt ist die Abschaffung von nichttarifären Handelshemmnissen. Um das zu erreichen, sieht die DCFTA den Abschluss einer Vereinbarung zur Konformitätsbewertung und Abnahme von Industrieprodukten (ACAA) vor, sowie ein Äquivalenzabkommen für Nahrungsmittel und vergleichbare Produkte und eine Stärkung des Handels durch die gegenseitige Anerkennung zugelassener Wirtschaftsbeteiligter (AEO) und die Integration der Ukraine in das gemeinsame Versandverfahren der Union.
Der Fokus der Öffentlichkeit lag in jüngster Zeit auf dem Beschluss, drei spezifische Bereiche in die ACAA aufzunehmen, nämlich Maschinerie, Niederspannungsgeräte und elektromagnetische Kompatibilität. Eine Expertenmission der EU hat Mitte 2021 eine Einschätzung zur ukrainischen Gesetzeslage hinsichtlich der ACAA abgegeben, wonach der Grad der Übereinstimmung relativ hoch, allerdings noch ausbaufähig, ist. Im September hat die zweite Phase der Infrastrukturevaluation begonnen. Falls die Ukraine die Empfehlungen der Kommission zügig umsetzt, wäre ein Beginn der Verhandlungen über die ACAA bereits 2022 zu erwarten.
Die gemeinsame Erklärung verschweigt zwei weitere essenzielle NTBs. Die Rede ist von Lebensmittelsicherheit und Zollverfahren, bei denen ebenfalls wichtige Fortschritte erzielt wurden. Konkret hat die Ukraine legislative Anpassungen vorgenommen und nutzt bereits das computergestützte Zollsystem NCTS, um sich auf den für 2023 erwarteten Beitritt zum gemeinsamen Versandverfahren der Union vorzubereiten. Des Weiteren hat das erste ukrainische Unternehmen den AEO-Status erlangt, womit der Weg für eine gegenseitige Anerkennung von AEO zwischen der Ukraine und der EU geebnet ist. Im Bereich Lebensmittelsicherheit ist das erste Äquivalenzabkommen für Zertifizierungssysteme im Zusammenhang mit Getreidesamen bereits Ende 2020 abgeschlossen worden.
Die gemeinsame Erklärung steht zudem für einen wichtigen Durchbruch bei der Modernisierung des Dienstleistungshandels im Rahmen des AA/DCFTA. Die Parteien haben eine Aktualisierung von Annex XVII des Assoziierungsabkommens für Telekommunikation, Post- und Kurierwesen und internationale maritime Transportdienstleistungen bekannt gegeben. Der Gipfel bekräftigte außerdem die Bemühungen der Ukraine zu einer Anpassung des Binnenmarktes für Telekommunikationsleistungen. Weitere Integrationsfortschritte könnten die gegenseitige Anerkennung elektronischer Vertrauensdienstleistungen, die Unternehmenstransaktionen zwischen der Ukraine und der EU stark vereinfachen würden. Die Erklärung benennt auch die Maßnahmen der Ukraine zur Anpassung an den digitalen Binnenmarkt, jedoch ohne ein explizites Versprechen zur Aufnahme der Ukraine.
Im Transportsektor ist der Abschluss des Abkommens über einen gemeinsamen Luftverkehrsraum ein Schlüsselergebnis des Gipfeltreffens. Dies war längst überfällig, bedenkt man, dass die Verhandlungen bereits im Jahr 2013 begonnen worden waren. Der Markt wird sich in verschiedenen Etappen öffnen, je nach Geschwindigkeit des Angleichungsverfahrens auf ukrainischer Seite. Der Fortschritt bei den Binnenwasserstraßen und dem Schienenverkehr ist ebenfalls hervorgehoben worden. Gleichwohl umgeht die Erklärung den Straßenverkehr, wo das Defizit an Transitgenehmigungen bereits spürbare Hindernisse für den Güterverkehr geschaffen hat. Die Lösung dieser Problematik muss Priorität in den bilateralen Beziehungen bleiben.
Da Energiesicherheit sowohl für die EU als auch die Ukraine Priorität hat, haben beide Parteien in den bilateralen Beziehungen immer einen Schwerpunkt bei diesem Thema gesetzt. Über die vergangenen sieben Jahre hat die Ukraine ihren Gas- und Elektrizitätsmarkt in Kohärenz mit den EU-Normen transformiert. Dies hat es dem Land ermöglicht, die Verschaltung mit dem europäischen Gasmarkt mit Hilfe von Vereinbarungen über die Zusammenarbeit von Übertragungsnetzbetreibern der Ukraine und benachbarter EU-Staaten zu vertiefen. Es hat zudem den Weg für eine Synchronisierung mit dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO‑E) geebnet. Der Gipfel hat das gegenseitige Interesse an einer weiteren auf EU-Normen basierten Integration und die Wichtigkeit des ukrainischen Gastransits für die europäische Energiesicherheit bestätigt. Man hat sich darauf geeinigt, „Entwicklungen der [Energie-]Infrastruktur gemeinsam zu koordinieren und abzustimmen“.
Die gemeinsame Erklärung hat außerdem ein Zeichen für die Zukunft gesetzt, indem sie den Beginn eines bilateralen Dialogs über den Europäischen Green Deal und eine grüne Transition der ukrainischen Wirtschaft angekündigt hat. Obgleich die EU versprochen hat, die Ukraine bei der Entwicklung eines CO²-Preissystems im Kontext des CO²-Grenzausgleichssystems (CBAM) zu unterstützen, wurden keine Ausnahmeregelungen für die Ukraine erwähnt. Folglich werden bestimmte ukrainische Exportprodukte mit zusätzlichen Zertifikaten belegt, um sie an das CO²-Preisniveau des Emissionshandelssystems der EU anzupassen.
Diese beachtlichen Durchbrüche in der gemeinsamen Wirtschaftsagenda der EU und der Ukraine sind durch Stagnation in der politischen Entwicklung, insbesondere mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit, abgebremst worden. Die gemeinsame Erklärung betont, dass die Justizreform, der Kampf gegen die Korruption, unabhängige und effiziente Exekutivorgane und eine rechtskonforme „Deoligarchisierung“ weiterhin die obersten Prioritäten in den bilateralen Beziehungen bleiben. In diesen Sphären sieht sich die Ukraine leider immer noch mit multiplen ungelösten Herausforderungen konfrontiert. Vor dem Gipfeltreffen forderten Experten die Richtlinie der G7 für die Justiz- und Anti-Korruptionsreformen in der Ukraine heranzuziehen, und damit auf die Umsetzung der politischen Assoziierung und Gespräche über eine gemeinsame Grenzkontrolle hinzuwirken. Bedauerlicherweise enthält die gemeinsame Erklärung keine dieser Maßnahmen.
Im Gesamtergebnis ist festzustellen, dass die Ukraine und die EU ihre ökonomische Integration, insbesondere mit Blick auf den Güterhandel, in bedeutender Weise vertieft haben, was vor dem Hintergrund, der kontinuierlich fortschreitenden rechtlichen und institutionellen Annäherung der Ukraine über die vergangenen sieben Jahren möglich geworden ist. Nichtsdestotrotz bedarf es für weitere Fortschritte einer bilateralen Zusammenarbeit im Bereich des Monitorings und der Verifizierung der Umsetzungsbemühungen der Ukraine, um deren Übereinstimmung mit den Normen und Praktiken der EU zu gewährleisten. Nur so ist eine Integration der Ukraine in den europäischen Binnenmarkt denkbar. In dieser Hinsicht schlägt die gemeinsame Erklärung sehr ermutigende Töne an.
Dennoch bleiben grundlegende Elemente der ukrainischen Staatsorganisation, dies gilt im Besonderen für die Rechtsstaatlichkeit, fragil, was den wirtschaftlichen Fortschritt und die Perspektiven einer europäischen Integration behindert. Dies ist jetzt die Arena für den Kampf um eine europäische Zukunft der Ukraine.
Please find here an English version of this article.
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