Zwei­klas­sen­me­di­zin in der Corona-Krise

© Mar­ki­ian Lyseiko

Viele Ukrai­ner hoffen auf mehr Gleich­heit durch das Coro­na­vi­rus – doch sie haben die Rech­nung ohne die ukrai­ni­schen Super­rei­chen gemacht, die die Zustände in den ukrai­ni­schen Kran­ken­häu­sern nicht hin­neh­men und eine Son­der­be­hand­lung ver­lan­gen. Wird eine Zwei­klas­sen­me­di­zin das Land umso mehr spalten? Von Vero­nika Melkozerova

Die Ukraine ist ein Land voller Wider­sprü­che – super­rei­che Politiker*innen einer­seits, eine über­wie­gend arme Bevöl­ke­rung ande­rer­seits. Einige wenige Men­schen können sich einen luxu­riö­sen Lebens­wan­del und best­mög­li­che Gesund­heits­ver­sor­gung im Ausland leisten, die meisten Ukrainer*innen ver­die­nen aber weniger als 320€ im Monat und können im Krank­heits­fall nur die unter­fi­nan­zier­ten staat­li­chen Kran­ken­häu­ser ansteu­ern. Politiker*innen sind zu einer oberen Kaste der ukrai­ni­schen Gesell­schaft gewor­den, die es sich erlau­ben kann, die Nation aus­zu­rau­ben, indem sie lukra­tive Gesetze ver­ab­schie­det, die die Wirt­schaft zer­stö­ren, ohne dass ihre Geset­zes­brü­che ver­folgt werden würden.

Vor dem Virus sind alle gleich

Die Kluft zwi­schen arm und reich ist in der Ukraine so groß, dass viele ihre Über­win­dung für unmög­lich hielten. Doch dann kam die Corona-Pan­de­mie, und das neue Virus scherte sich nicht um Pri­vi­le­gien. Ende März waren bereits mehr als acht ukrai­ni­sche Amts­trä­ger positiv auf COVID-19 getes­tet: zwei Par­la­ments­ab­ge­ord­nete der Regie­rungs­par­tei, zwei Abge­ord­nete der pro-rus­si­schen Oppo­si­ti­ons­par­teien, zwei unab­hän­gige Abge­ord­nete, der Kyjiwer Poli­zei­chef, der stell­ver­tre­tende Vor­sit­zende des Rates der Oblast Charkiw und viele andere. Einige Fälle wurden noch nicht offi­zi­ell bestätigt.

Am 02. April 2020 berich­tete das ukrai­ni­sche Gesund­heits­mi­nis­te­rium von 804 bestä­tig­ten Infek­tio­nen und 20 Todes­fäl­len durch das Coro­na­vi­rus. Und das ist erst der Anfang. Auf­grund der Grenz­schlie­ßun­gen können jetzt auch die ukrai­ni­schen Super­rei­chen nicht mehr reisen und sich wie bisher eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung in den EU-Staaten sichern.

Zudem bieten private Kli­ni­ken in der Ukraine nicht die gesamte Band­breite medi­zi­ni­scher Behand­lungs­mög­lich­kei­ten für Infek­ti­ons­krank­hei­ten. Das erste Mal in der Geschichte der Ukraine sind die „Unbe­rühr­ba­ren“ also gezwun­gen, das ukrai­ni­sche Gesund­heits­sys­tem am eigenen Leib zu erfah­ren, das seit Jahren vom poli­ti­schen Estab­lish­ment aus­ge­nom­men worden ist.

Rasch kur­sier­ten in den sozia­len Medien sar­kas­ti­sche Kom­men­tare, dass das Coro­na­vi­rus zum größten Gleich­ma­cher der ukrai­ni­schen Gesell­schaft avan­ciert sei.

„Täglich errei­chen uns Nach­rich­ten über frisch infi­zierte Amtsträger*innen. Das staat­li­che Olek­sand­riwska-Kran­ken­haus ist gegen­wär­tig die erste Anlauf­stelle. Glauben Sie mir, nach den israe­li­schen, öster­rei­chi­schen und deut­schen Kran­ken­häu­sern, die sie gewohnt sind, kommt ein staat­li­ches ukrai­ni­sches Kran­ken­haus für sie einer Kata­stro­phe gleich“, schrieb Oleksij Dawi­denko, ehe­ma­li­ger Abge­ord­ne­ter des Kyjiwer Stadt­rats und Gründer von Med­tech­nika, einer Kette medi­zi­ni­scher Fach­ge­schäfte, am 23. März 2020 auf Facebook.

Kann man mit Geld alles kaufen?

Die ukrai­ni­schen Super­rei­chen nahmen die neue Rea­li­tät aller­dings nicht einfach wider­spruchs­los hin. Während die Regie­rung begann, das staat­li­che Gesund­heits­we­sen so schnell wie möglich zu refor­mie­ren, ver­lang­ten einige Vertreter*innen Son­der­be­hand­lung und ver­such­ten, sich wich­tige medi­zi­ni­sche Res­sour­cen zu sichern.

Am 25. März 2020 ver­öf­fent­lich­ten ukrai­ni­sche Journalist*innen der Nach­rich­ten­web­seite bihus.info eine ver­trau­li­che Anord­nung der Gesund­heits­res­sorts des Kyjiwer Stadt­ra­tes, die an die Kran­ken­häu­ser der Stadt ver­schickt worden war. Dort las man, dass die Stadt anfan­gen solle, spe­zi­elle Sta­tio­nen für „Per­so­nen, die unter Staats­schutz“ stünden, zu schaf­fen – also für hoch­ran­gige, staat­li­che Amts­trä­ger. Drei­zehn Kran­ken­häu­ser wurden ange­wie­sen, VIP-Sta­tio­nen mit getön­ten Schei­ben ein­zu­rich­ten und diese mit Medizin, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­te­men und sogar, falls nötig, zusätz­li­chen OP-Geräten aus­zu­stat­ten. Die Kran­ken­haus­lei­tun­gen sollen außer­dem spe­zi­elle Teams aus erfah­re­nen Ärzt*innen für den Dienst auf diesen Sta­tio­nen abstellen.

Die Nach­richt von den VIP-Sta­tio­nen wurde am selben Tag bekannt wie die Infi­zie­rung von vier Ärzt*innen, die sich in der Terno­pil Oblast mit COVID-19 ange­steckt hatten, weil ihnen noch nicht einmal ein­fachste Schutz­klei­dung zur Ver­fü­gung standen. Bis zum 02. April 2020 hatten sich 32 Ärzt*innen mit Covid-19 infi­ziert. Ange­stellte des staat­li­chen Gesund­heits­sys­tems ver­die­nen in der Ukraine monat­lich zwi­schen 97€ und 380€. Laut Web­seite des Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums betrug das Gesamt­bud­get des ukrai­ni­schen Gesund­heits­we­sens für das Jahr 2020 3,5 Mil­li­ar­den Euro. Der Staat stellt jedoch weder genug Schutz­klei­dung für die Ärzt*innen zur Ver­fü­gung, die gegen das Coro­na­vi­rus kämpfen, noch aus­rei­chend Tests oder Beatmungs­ge­räte für die Bevöl­ke­rung. Bis Anfang April wurden weniger als 4000 Tests auf Corona durchgeführt.

In ukrai­ni­schen Kran­ken­häu­sern gibt es unge­fähr 4000 Beatmungs­ge­räte für eine Bevöl­ke­rung von 42 Mil­lio­nen Men­schen. Einige wich­tige Wirtschaftsvertreter*innen haben begon­nen, Beatmungs­ge­räte für die staat­li­chen Kran­ken­häu­ser zu kaufen und unter­stüt­zen dadurch Regio­nen, in denen sie stra­te­gi­sche Inter­es­sen ver­fol­gen. Gleich­zei­tig kaufen die Reichen für sich selbst Beatmungs­ge­räte und depo­nie­ren sie in ihren Häusern, so Dawi­denko am 14. März.

Nach dem Publik­wer­den der geplan­ten VIP-Behand­lung ging ein Auf­schrei durch die ukrai­ni­sche Gesell­schaft und brachte die Politiker*innen in Erklärungsnöte.

Unter­stützt der Staat ein Zweiklassensystem?

Der Kyjiwer Bür­ger­meis­ter Witali Klit­schko erklärte während eines Brie­fings am 26. März 2020, dass eine Son­der­be­hand­lung der wich­tigs­ten staat­li­chen Amtsträger*innen vom ukrai­ni­schen Gesetz gedeckt sei. Dies sei schon immer so gewesen und das Pro­ze­dere gäbe es auch in anderen Ländern. Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj war jedoch bereit, die Anord­nung der Son­der­be­hand­lung für VIP-Patient*innen zu wider­ru­fen und ver­sprach am 27. März, dass es während der Corona-Pan­de­mie keine Son­der­be­hand­lun­gen geben werde.

Die Anord­nung zur Ein­rich­tung von VIP-Sta­tio­nen, die auf der Web­seite des Kyjwer Stadt­ra­tes ver­öf­fent­licht worden war, findet sich aller­dings dort noch immer als ver­pflich­tende Anweisung.

Die neue List der Poli­ti­ker­kaste über­raschte die Ukrainer*innen nicht. Sie sind es gewöhnt, dass ukrai­ni­sche Amtsträger*innen ein­fa­chen Leute trotz Wahl­kampf­ver­spre­chen weniger Wich­tig­keit beimessen.

Durch die Coro­na­vi­rus-Pan­de­mie kommt das poli­ti­sche Estab­lish­ment der Ukraine aber zum ersten Mal in direkte Berüh­rung mit der Lebens­wirk­lich­keit ukrai­ni­scher Bürger*innen, die sie durch ihre Kor­rup­tion geschaf­fen haben. Ob das etwas an der Art und Weise ändern wird, wie sie das Land regie­ren? Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, dass sie ver­ste­hen, dass es ohne die nor­ma­len Ukrainer*innen auf der Straße keine Ukraine geben wird, auf deren Kosten sie ihren aus­schwei­fen­den Lebens­stil genie­ßen könnten.

Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Doro­thea Traupe.

Portrait vonVeronika Melkozerova

Vero­nika Mel­ko­zerova ist eine freie Jour­na­lis­tin mit Sitz in Kyjiw. Derzeit arbei­tet sie bei NBC News Uni­ver­sal mit. 

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