Groß­brand zer­stört zehn Prozent der Sperr­zone von Tschor­no­byl, trifft Tier­welt und Tourismuspotential

© Olek­sandr Popenko /​/​ Shut­ter­stock

Im April 1986 explo­dierte der vierte Reaktor des Kern­kraft­werks Tschor­no­byl; bei dem fol­gen­den Groß­brand wurden riesige Mengen an Strah­lung in die Erd­at­mo­sphäre frei­ge­setzt und Tau­sende Men­schen wurden getötet. Im Laufe der Zeit ver­wan­delte sich die Sperr­zone von der Stätte der töd­lichs­ten nuklea­ren Kata­stro­phe der Zivil­ge­schichte zu einem tou­ris­ti­schen Hotspot. Von Vero­nika Melkozerova

All­jähr­lich besuch­ten Tau­sende Tou­ris­ten aus aller Welt die 2.600 Qua­drat­ki­lo­me­ter große Sperr­zone von Tschor­no­byl, um den Ort zu sehen, der zum größten Mahnmal für schreck­li­ches mensch­li­ches Ver­sa­gen gewor­den war. Im Laufe der Jahre war die Zone rund um Tschor­no­byl zum größten Natur­schutz­ge­biet und Frei­licht­mu­seum für Nukle­ar­ka­ta­stro­phe Europas geworden. 

Dut­zende Tier­ar­ten konnten sich in der von Men­schen ver­las­se­nen Zone frei ent­fal­ten und die Natur hatte sie sich zurückerobert.

Steve Andre, 34, Stahl­ar­bei­ter und Doku­men­tar­fo­to­graf aus den Ver­ei­nig­ten Staaten, kam vor zehn Jahren zum ersten Mal in die Sperr­zone, im Jahr 2010.

© Steve Andre

Ich war erst einmal über­wäl­tigt, wie leben­dig alles war. Man konnte im Sommer einige der Gebäude kaum noch sehen! Ich war über­rascht, wie viele Men­schen in der Gegend arbei­te­ten“, erin­nerte sich Andre.

Bei seinem ersten Besuch sah er nicht viel, kam aber danach immer wieder zurück und ver­brachte sogar seinen drei­ßigs­ten Geburts­tag dort.

Ich habe viel mehr Zeit in den Gegen­den abseits der nunmehr größten Tou­ris­ten­route ver­bracht. Ich konnte mir Orte ansehen wie das Feri­en­la­ger Sma­ragd­grün oder die Mili­tär­ba­sen im Wald, und auch einige der Dörfer, wo die Selbst­sied­ler leben“, fügte Andre hinzu.

Jedes Jahr besuch­ten Tau­sende andere aus­län­di­sche Tou­ris­ten genau wie Andre die Sperr­zone von Tschor­no­byl. Der Strom riss nicht einmal nach dem Beginn des Krieges im Donbas und dem Verlust der Krim-Halb­in­sel, eines wei­te­ren belieb­ten tou­ris­ti­schen Ziels der Ukraine, ab. Bilder wie das einer Herde Wild­pferde, die durch die ver­las­se­nen Gebäude und einst urbanen Stra­ßen­züge galop­pie­ren, lockten immer mehr Men­schen an, die sehen wollten, wie die Erde nach der Apo­ka­lypse aus­se­hen würde.

Mit der Pre­miere der erfolg­rei­chen HBO-Fern­seh­se­rie „Cher­no­byl“ im Mai 2019 erreichte das Inter­esse an der Zone einen neuen Höhe­punkt, sagte Jaros­law Jeme­lia­nenko, der Prä­si­dent der Asso­zia­tion von Tschornobyl-Reiseveranstaltern.

Im Jahr 2019 kamen mehr als 124.000 Besu­cher nach Tschor­no­byl, davon waren 85 Prozent aus dem Ausland.

Für 2020 hatten wir auf­grund unserer harten Arbeit und dem Ein­fluss der Fern­seh­se­rie 250.000 Besu­cher in der Zone erwar­tet“, sagte Jemelianenko.

Die COVID-19-Pan­de­mie hat diese Pläne jedoch bereits zunichte gemacht. Die Regie­rung schloss zuerst die Grenzen und dann die Zone für Tou­ris­ten. Und dann begann Anfang April ein rie­si­ger Wald­brand, der mehr als 25 Tage andau­erte und mehr als 20.000 Hektar Wald und die Tier­welt in der Sperr­zone und den nahe­ge­le­ge­nen Dörfern zerstörte.

Ich sah mit eigenen Augen, wie das gesamte Zentrum der Tschor­no­byl-Zone und ein Teil des Natur­schutz­ge­biets nie­der­brann­ten“, sagte Jemelianenko.

Nor­ma­ler­weise dau­er­ten die geführ­ten Touren durch die Zone zwi­schen einem und fünf Tagen und beweg­ten sich entlang 13 spe­zi­ell ent­wi­ckel­ter Routen.

Zum Glück sind die meisten Attrak­tio­nen der Tages­tou­ren wie die Städte Tschor­no­byl und Prypjat sowie die Duga-Radar­sta­tion in Sicher­heit, sagte Olena Kowalt­schuk, Spre­che­rin der staat­li­chen Agentur zur Ver­wal­tung der Sperrzone.

Der Feu­er­wehr gelang es, die Lage­rungs­stätte für radio­ak­ti­ven Abfall in Pidlisny vor dem Feuer zu retten. Auch den zer­stör­ten Reaktor, der mitt­ler­weile von der neuen bogen­för­mi­gen Schutz­hülle umschlos­sen ist, erreichte das Feuer nicht.

Ja. Aber viele Besu­cher haben sich bisher fünf Tage lang in der Zone auf­ge­hal­ten. Prypjat, Duga und Tschor­no­byl waren nur die Besu­cher­ziele am ersten Tag. Den Rest der Tour haben wir weniger bekann­ten aber sehens­wer­ten tou­ris­ti­schen Orten gewid­met“, sagte Jemelianenko.

Wir haben ver­sucht, unseren Gästen ein voll­stän­di­ges Bild davon zu geben, wie das Leben in der jet­zi­gen Sperr­zone damals war. Wir haben gezeigt, wo die Ange­stell­ten des Kern­kraft­werks Tschor­no­byl gear­bei­tet haben, wo sie gelebt haben und wo sie Urlaub gemacht haben“, fügte Jeme­lia­nenko hinzu.

Außer dem Leben der 1980er zeigten die Frem­den­füh­rer den Gästen auch das Leben vor langer Zeit in der nörd­li­chen Region Pole­sien, in Form ein­zig­ar­ti­ger 200 Jahre alter Häuser. Diese wurden nun alle zerstört.

Ins­ge­samt sind 12 tou­ris­ti­sche Ziele kom­plett abge­brannt – Teile des berühm­ten Roten Walds, das linke Ufer des Flusses Prypjat, die Dörfer Leliw und Chys­to­gai­lilwka, der Bahnhof Janiw und die sowje­ti­schen Freizeitlager.

Andre erin­nerte sich an einen dieser Orte – das Lager Sma­ragd­grün: „Das war einer meiner Lieb­lings­orte. Ich glaube, 2016 bin ich es kom­plett abge­lau­fen und habe jedes ein­zelne Häus­chen foto­gra­fiert, das mit Car­toons oder Szenen aus Volks­mär­chen bemalt war. Nur etwa 25 von den fast 100 Häusern waren so bemalt“, sagte Andre.

© Steve Andre

Das Feuer zer­störte nicht nur Wahr­zei­chen, sondern rich­tete auch unter den Wild­tie­ren in der Sperr­zone enormen Schaden an. Zwei Herden von ins­ge­samt 115 Wild­pfer­den mussten vor dem Feuer aus ihren Gebie­ten fliehen, sagte Vic­to­ria Wolod­kina, die Spre­che­rin des Strah­lungs-Bio­sphä­renreser­vats Tschor­no­byl.

Sie konnten zum Glück in Teile der Sperr­zone fliehen, die nicht vom Feuer zer­stört wurden, aber als sie zurück­kehr­ten, waren all ihre Fut­ter­quel­len zer­stört. Sie stehen nun unter Stress, da sie im April/​Mai auch ihre Fohlen bekom­men“, fügte Wolod­kina hinzu.

Wis­sen­schaft­ler sind noch dabei, den Schaden für Wild­tiere, klei­nere Tiere und seltene Pflan­zen zu erfas­sen. Ent­ge­gen Angaben der Regie­rung dau­er­ten die Feuer in der Sperr­zone nach mehr als 25 Tagen weiter an.

Öko­lo­gen für die Zone sammeln im Moment Geld, um Futter für die Tiere in der Zone zu kaufen.

© 2020 Chor­no­byl Center

Andre sagte, ihm seien die Feuer in der Zone egal. Die Sperr­zone habe sich seit seinem ersten Besuch vor 10 Jahren ver­än­dert. Mit dem Zustrom an Tou­ris­ten sei die Zone sinnlos und eher zu einer kom­mer­zi­el­len Attrak­tion geworden.

Er habe größ­ten­teils das Inter­esse ver­lo­ren, sich aber in die Selbst­sied­ler ver­liebt, die dort immer noch leben.

Es war an seinem drei­ßigs­ten Geburts­tag. Andre und sein Freund, der orts­an­säs­sige Rei­se­füh­rer Mischa, waren im Dorf Kupa­towe, weil Steve mit den Selbst­sied­lern spre­chen wollte.

Als wir zurück zu unserem Auto gingen, trafen wir auf eine alte Frau namens Hannia. Mischa erzählte ihr, dass es mein Geburts­tag sei, und sie fing an, mich zu umarmen, und lud uns zu sich nach Hause zum Mit­tag­essen ein. Inner­halb von Minuten hatte sie ein anschei­nend mehr­gän­gi­ges Menü und ihren haus­ge­mach­ten Wodka auf dem Tisch. Ich war total fas­sungs­los. Ich wusste, dass Ukrai­ner gast­freund­li­che Leute sind, aber das erschien mir ver­rückt“, so erin­nert sich Andre.

Er sagte, dass Hannia seitdem zu seiner ukrai­ni­schen Groß­mutter gewor­den sei. Er kam immer wieder nach Kupa­towe zurück und brachte Sou­ve­nirs mit. Und er war sehr erleich­tert, dass das Dorf Kupa­towe nicht von dem Feuer betrof­fen war.

Dieses Feuer war das größte in der Geschichte Tschor­no­byls, sagte Jeme­lia­nenko. Es hat die Öko­sys­teme in der Zone verändert.

Ich bin traurig, dass die Gegen­den zer­stört sind, die zu foto­gra­fie­ren mir viel Freude gemacht haben. Aber ich bin irgend­wie auch glück­lich, dass sich der Tou­ris­mus nun viel­leicht ver­lang­samt. Im Großen und Ganzen wünsche ich mir, dass diese Feuer die Auf­merk­sam­keit für die Zone erhöhen. Es ist das berüch­tigste Kern­kraft­werk der Mensch­heits­ge­schichte. Wenn man das Wort Tschor­no­byl erwähnt, schau­dern die Leute. Und das wird noch jahr­hun­der­te­lang so sein. Wie konnte das Feuer so nahe her­an­ge­las­sen werden?“, schloss Andre.

Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Meike Temberg. 

Textende

Portrait vonVeronika Melkozerova

Vero­nika Mel­ko­zerova ist eine freie Jour­na­lis­tin mit Sitz in Kyjiw. Derzeit arbei­tet sie bei NBC News Uni­ver­sal mit. 

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