Selenskyj und seine Partei können bei den Kommunalwahlen im Oktober kaum auf Sieg hoffen
Am 25. Oktober stehen in der Ukraine Kommunal- und Regionalwahlen an. Die Bürger in den Städten, Kommunen und Kreisen sind aufgerufen, neue Chefs der Lokalverwaltungen, Bürgermeister und Abgeordnete zu wählen. Die Lokalwahlen stellen für Präsident Selenskyj und seine in den Umfragen schwächelnde Partei Diener des Volkes eine große Herausforderung dar. Von Veronika Melkozerova
Letztes Jahr gewann Wolodymyr Selenskyj die Präsidentenwahl mit einem Erdrutschsieg von 73 Prozent. Sein Charisma und das grandiose Vertrauen, dass die Ukrainer in Selenskyj setzten, verschaffte seiner Partei Diener des Volkes den Einzug ins Parlament mit 43,16 Prozent der Stimmen. Das erste Mal in der Ukraine konnte eine einzige Partei die einfache Mehrheit im Parlament für sich verbuchen.
Laut Experten könnte es in diesem Jahr für Selenskyis Partei allerdings schwer werden, diesen Triumph zu wiederholen.
„Ein Jahr ist vergangen. Die Regierung ist in Kontroversen, Skandale und Konflikte verstrickt. Zudem hat Selenskyj Schlüsselpositionen mit zweifelhaften Personen besetzt. Deshalb wird er es schwer haben, in den Regionen Wahlen zu gewinnen. Außerdem ging es bei Kommunalwahlen bisher immer um lokale Eliten und ihren Einfluss“, sagt Anatoliy Oktysiuk, Politikexperte beim Think-tank Democracy House.
Nach seinem Wahlsieg schalteten die Selenskyj-Regierung und das Parlament in einen Turbomodus und verabschiedeten Reformen im Schnelldurchgang. So wurde der Markt für Agrarland geöffnet, ein Antikorruptionsgericht geschaffen und ein Team junger Reformer in die Regierung berufen. Nach sechs Monaten jedoch waren die meisten Reformer ihre Posten wieder los. Der Chef der Nationalbank hatte wegen Drucks gekündigt. Beamte aus der Zeit des geflüchteten ehemaligen pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch kamen wieder an die Macht und erhielten sogar hohe Posten in der Regierung und im Präsidentenamt.
Obwohl Selenskyj und seine Partei bei der Bevölkerung immer noch hohe Zustimmung genießen, brach die Popularität des Präsidenten nach dem ersten Regierungsjahr ein.
Die Zustimmungswerte sinken
Laut einer Umfrage des Instituts Sociological Group Rating unterstützen 44 Prozent der Ukrainer Präsident Selenskyj. Seine Partei Diener des Volkes wird von 25 Prozent der Ukrainer unterstützt. Allerdings liegt die Zentralregierung in Kyjiw schon lange im Clinch mit verschiedenen Lokalfürsten in den Regionen. Die Corona-Maßnahmen der Regierung, die das Leben in einigen Regionen stark beeinträchtigt haben, befeuern die Konflikte zusätzlich. Deshalb wird es für den Präsidenten bei den Kommunalwahlen im Oktober schwer werden, sagt Politikexperte Oktysiuk.
Allerdings würden Selenskyj und sein Team gar nicht vorhaben, die Mehrheit in den Regionen zu erobern, fügt Wolodomyr Fesenko hinzu, Chefpolitologe beim Penta-Zentrum in Kyjiw. Der Präsident wisse, dass es extrem schwer sei, in Städten wie Kyjiw, Charkiw oder Odesa gegen etablierte Lokalpolitiker anzukommen.
„Trotz ihrer Umfrageverluste hat die Partei Diener des Volkes gute Chancen, in nahezu alle Lokalräte in der Ukraine einzuziehen und sogar Koalitionen zu bilden“, sagt Politologe Fesenko. „Das ist das Hauptziel der Partei und zugleich eine Möglichkeit, die Lokalpolitik zu beeinflussen. Dadurch könnten auch Spannungen zwischen der Zentral- und den Lokalregierungen abgebaut werden, wobei auch Selenskyjs Image helfen soll“, erklärt Fesenko.
Präsident Wolodymyr Selenskyi reiste in den vergangenen Monaten viel durch das Land. Während seiner ersten Tour durch die Regionen 2019 kritisierte er Lokalbeamte öffentlich und warf ihnen Korruption und Missmanagement vor. Dabei positionierte er sich gegen die Lokaleliten und sprach von einem Kampf der Guten gegen das Böse. „Daran können sich manche Lokalpolitiker noch genau erinnern und sie wollen deshalb nicht mit dem Präsidenten zusammenarbeiten oder mit ihm in Verbindung stehen“, sagt Politologe Oktysiuk
Einige Bürgermeister kritisieren Selenskyj und stellen Entscheidungen seiner Regierung infrage, um im Vorfeld der Wahlen zu punkten.
Die Partei der Bürgermeister
So haben die Bürgermeister von Ternopil, Tscherkassy und Iwano-Frankiwsk die Corona-Regeln der Regierung offen missachtet und diese vor Gericht angefochten. Im Juni stellte Borys Filatow, Bürgermeister der Stadt Dnipro, die neue Partei Propositsia vor, auch bekannt unter dem Namen Partei der Bürgermeister. Die Oberhäupter der Städte Czernowitz, Mykolajiw, Nowo Chowka, Schytomyr und Kropiwnitsky schlossen sich ebenso der Bewegung an.
Bürgermeister Filatow kritisiert Selenskyj und die Partei Diener des Volkes.
„Es war ein Riesenfehler von Wolodymyr Oleksandrovich (Anm: Selenskyj), dass sich seine Partei in Dnipro der Mafia und den Oligarchen angedient hat“, schrieb Filatow auf Facebook.
Laut einer Umfrage des Instituts Sociological Group Ranking vom 28. August genieße Filatow die größte Unterstützung in Dnipro – 48 Prozent der Einwohner würden den Bürgermeister wiederwählen.
Der von Präsident Selenskyj aufgestellte Gegenkandidat heißt Serhij Ryschenko und ist Chefarzt des Mechnikowa Krankenhauses in Dnipro. Ryschenko war früher Abgeordneter im Kreisrat von Dnipro und soll laut dem Watchdog Chesno eine weiße Weste haben. Im Gegensatz zu vielen Parteikollegen soll er nicht mit Oligarchen unter einer Decke stecken und auch nicht mit dem umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomojskyj zusammenarbeiten.
Seit kurzem stellt Selenskyj überall in der Ukraine Regionalkandidaten der Partei Diener des Volkes auf.
Selenskyjs Männer in den Regionen
„Natürlich möchte ich, wie andere Politiker auch, so viele Repräsentanten meiner Partei wie möglich in den Regionen sehen. Das hängt von der Entscheidung des Wählers ab. Zurzeit denke ich nicht an Zahlen und Statistiken. Ich hoffe, dass die ‚Diener des Volkes‘ und die Leute in meinem Team wirklich gute Kandidaten für die Kommunen aufstellen“, sagt Selenskyj gegenüber Ukraine verstehen.
Für Selenskyj zählt die Dezentralisierung zu den erfolgreichsten Reformen der Ukraine. „Ich halte es für wichtig, dass die Dezentralisierung weiter voranschreitet, ungeachtet der politischen Ambitionen von irgendjemandem. Wir wollen Kandidaten aufstellen, die die Probleme in den Kommunen verstehen, effektiv arbeiten, die Korruption ausrotten und das Leben dort besser machen. Ich bin mir sicher, dass die Wähler für solche Kandidaten stimmen werden“, sagt Selenskyj.
Der Präsident sei offen für Kritik, die er als wichtig für eine Demokratie beschreibt.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Konstruktive Kritik unterscheidet sich aber von politischer Manipulation, die nur zum Ziel hat, Stimmen zu fangen. Je näher die Wahlen kommen, desto mehr Manipulationen werden wir sehen“, sagt Selenskyj.
Yevheniya Krawtschuk, Vizevorsitzende der Parlamentsfraktion von Diener des Volkes stimmt dem Präsidenten zu: „Unser Ziel ist der Sieg der Veränderungen. Daraus leiten wir die Agenda für diese Wahlen ab – Dezentralisierung und strategische Entwicklung der Kommunen und Regionen. Diese werden mehr Macht erhalten, um ihre Probleme zu lösen. Die Regionen werden auch Möglichkeit erhalten, um die Lokalregierungen zu kontrollieren. Zum Beispiel das Recht, Abgeordnete zurückzuziehen“, erklärt Krawtschuk.
Alle Kandidaten von Diener des Volkes seien neue Gesichter, die nichts mit lokalen Klans oder Korruption zu tun hätten, bekräftigt sie weiter.
„Unser Ziel ist es, in allen Regionen zu gewinnen. Die Tatsache, dass es dort mächtige und einflussreiche Klans gibt, wird uns nicht stoppen“, sagt Krawtschuk.
„Natürlich haben unsere Wettbewerber in vielen Städten Stammwähler und können sich auf administrative und finanzielle Ressourcen stützen. Auch sympathisieren Ukrainer eher mit der Lokalregierung und machen lieber die Zentralregierung für Probleme verantwortlich – das war schon immer so“, ergänzt Krawtschuk.
Die Umfragen geben Krawtschuk teilweise recht. In Odesa zum Beispiel sind die Einwohner mit dem amtierenden Bürgermeister Hennadiy Trukhanow zufrieden, der dort seit über einer Dekade regiert. Trotz seiner Verstrickung in Korruption und Verbindungen zur organisierten Kriminalität genießt der Bürgermeister mehr Zuspruch als Selenskyj. Laut Sociological Group Ranking seien nur 29 Prozent der Einwohner mit der Zentralregierung zufrieden. Über 56 Prozent unterstützen Trukhanow, während etwa 48 Prozent hinter Selenskyj stünden.
Politikerin Krawtschuk glaubt, dass sich die Zahlen während der Wahl ändern könnten. „Wir haben die Chance, in den Städten zu gewinnen, wo die Einwohner Veränderungen wünschen. Ungeachtet der hohen Ressourcen, die den Lokalregierungen zur Verfügung stehen“, sagt Krawtschuk.
Angesprochen auf die Zahlen der Meinungsforscher, mahnt Krawtschuk vor voreiligen Schlüssen. „Natürlich sorgen die Wirtschaftskrise und die Pandemie für viele Probleme. Populismus bringt einigen Lokalpolitikern nur einen scheinbaren Bonus und soll nur von deren Korruption ablenken“, meint Krawtschuk.
Reform-Politik als Schlüssel zum Gewinn
Meinungsforscher beobachten die Spannungen zwischen der Zentral- und den Lokalregierungen schon lange. Keine Partei würde bei den Kommunalwahlen eine absolute Mehrheit gewinnen, sagt Politologe Fesenko. Deshalb seien die Parteien auf Zusammenarbeit und die Bildung von Koalitionen angewiesen, führt er weiter aus.
Demgegenüber glaubt Krawtschuk, dass es noch zu früh sei, um über Koalitionen auf Lokalebene zu reden. Die Partei Diener des Volkes, die das Team des Präsidenten an der Seite hat, werde nach den Wahlen die Lokalpolitik in jeder Region mitgestalten, sagt sie.
Die Partei habe bei den Wahlen weniger die Anzahl der Abgeordneten für die Lokalparlamente im Auge. Vielmehr wolle man die eigene Reform-Politik in jeder Kommune durchsetzen.
„Wir sind die einzigen, die Veränderungen zum Besseren garantieren können, denn das ist es, was die Kommunen benötigen. Und die Lokalfürsten, die jetzt an der Macht sind oder auch nicht, müssen dem zustimmen oder sich damit zurechtfinden“, sagt Krawtschuk. „Sie haben die Wahl, entweder Teil der Veränderung zu sein oder unter das Rad der Geschichte zu geraten.“
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