Mumine Sali­jewa: „Anfangs war es schwer, den Über­blick zu behalten“

© Crimean Solidarity

Bis zur Beset­zung der Krim durch Russ­land waren die Krim­ta­ta­ren beseelt von der Hoff­nung auf ein bes­se­res Leben. Doch seitdem sind sie poli­ti­schen Repres­sio­nen aus­ge­setzt, die die Men­schen­recht­le­rin Mumine Sali­jewa an ihre schlimms­ten Alb­träume erinnern.

„Dum spiro, spero“ („Solange ich atme, hoffe ich“) lautet ein Satz des Marcus Tullius Cicero, welches die Geschichte der Krim­ta­ta­ren treff­lich wider­spie­gelt. Und ihren langen, zer­mür­ben­den Kampf um das Recht zur Rück­kehr auf die Krim nach der Depor­ta­tion 1944 und die Wahrung ihrer Identität. 

Das Jahr 2014 brachte neue Her­aus­for­de­run­gen. Vor sieben Jahren wurde die Krim durch die Rus­si­sche Föde­ra­tion besetzt und hat sich seitdem zu einem Ort der Angst gewan­delt. Haus­durch­su­chun­gen, Mas­sen­ver­haf­tun­gen, Ent­füh­run­gen, poli­tisch moti­vierte Straf­pro­zesse und die Ein­schrän­kung der Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit und wei­te­rer Grund­rechte gehören zum Alltag. Die Reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebens­ge­schich­ten von der Krim“ wurde ini­tiert von Vik­to­ria Savchuk in Koope­ra­tion mit dem Berlin Info-Point Krim.

 

Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Wenn ich meine heutige Tätig­keit ana­ly­siere, ins­be­son­dere die Prin­zi­pien, die mich in meinem Tun anlei­ten, komme ich zu dem Schluss, dass diese bereits in meiner Kind­heit und in den Grund­pfei­lern meiner Per­sön­lich­keit ange­legt sind. Ich wuchs in einer Familie auf, in der reli­giöse und tra­di­tio­nelle Werte vor­herrsch­ten. Dies waren Mut, Treue, Ver­trauen, Ver­ant­wor­tung, Einig­keit und Soli­da­ri­tät. Und das galt nicht allein für meine Familie. Denn die Lebens­füh­rung und das Ver­hal­ten eines Men­schen ent­stammt dem Wer­te­sys­tem inner­halb der Men­ta­li­tät und Kultur eines Volkes.

In der Geschichte des krim­ta­ta­ri­schen Volkes gab es viele schwie­rige Etappen. Dennoch hat es über­lebt, ist gestärkt aus der Geschichte her­vor­ge­gan­gen und kann auf eine kolos­sale Erfah­rung in Bezug auf den fried­li­chen Kampf für die eigenen Rechte zurück­bli­cken. In den 90er Jahren träum­ten die Krim­ta­ta­ren bei ihrer Rück­kehr auf die Krim davon, dass sie ihre Kinder nun in Sicher­heit und auf hei­mi­scher Erde würden auf­zie­hen können.

Fried­li­ches Enga­ge­ment unter rus­si­scher Besat­zung ist gefährlich

Die Alten, die den Hunger, die Depor­ta­tion und die Repres­sio­nen am eigenen Leib erfah­ren hatten, waren beseelt von der Hoff­nung, dass die kom­mende Gene­ra­tion nicht mit dem kon­fron­tiert werden würde, was sie selbst durch­ge­macht hatten. Und dennoch scheint es, als hätte sich das Leben 13 Jahre später, im Jahr 2014, wieder in ein „Davor“ und „Danach“ gespal­ten. Auch mein Leben. Ich hätte niemals gedacht, dass meine Lehr­tä­tig­keit einmal einer jour­na­lis­ti­schen, einer Tätig­keit als Men­schen­recht­le­rin weichen würde.

Mein Mann und ich haben immer ver­sucht eine aktive Rolle im gesell­schaft­li­chen Leben ein­zu­neh­men. Frei­wil­li­gen­ar­beit, Feste und Bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen für Kinder, sport­li­che Wett­be­werbe und Exkur­sio­nen zu den Sehens­wür­dig­kei­ten der Krim – das waren die Dinge, denen mein Mann seine Seele und sein Herz widmete. Ich selbst bin Mutter vierer Kinder, habe ein Magis­ter­stu­dium in Öko­no­mie abge­schlos­sen und dann eine Dis­ser­ta­tion begon­nen. Doch die geo­po­li­ti­schen Ver­än­de­run­gen nach 2014 haben weit­rei­chende Umwäl­zun­gen mit sich gebracht.

Anfangs war es schwer, den Über­blick darüber zu behal­ten, was hier vor sich geht. Ent­füh­run­gen, ver­schwun­dene Per­so­nen, Morde, Haus­durch­su­chun­gen und Ver­haf­tun­gen. Nach und nach wurde uns klar, dass ein repres­si­ves System von der Krim Besitz ergrif­fen hatte. Und in dessen Augen war die größte Risi­ko­gruppe ein ihm nicht loyal gesinn­tes Volk – die Krim­ta­ta­ren. Selbst­ver­ständ­lich konnten mein Mann und ich nicht schwei­gend mit­an­se­hen, wie Men­schen für ihre Meinung und aus reli­giö­sen, natio­na­len oder poli­ti­schen Gründen in den Fleisch­wolf gerieten.

Ich werde nicht ver­ber­gen, dass ich schnell ver­stand, dass der Tag kommen wird, an dem auf den Listen der ukrai­ni­schen poli­ti­schen Gefan­ge­nen auch der Name meines Mannes Seyran Salijew, Bür­ger­recht­ler, auf­tau­chen wird. Und er kam am 11. Oktober 2017. Drei Akten, zwei Haus­durch­su­chun­gen, drei Ankla­ge­punkte, Gefäng­nis, Ver­le­gung von der Krim nach Rostow am Don, Ver­ur­tei­lung zu 16 Jahren Lager­haft. Es fällt mir mit­un­ter schwer zu glauben, dass wir all das nur des­we­gen durch­le­ben mussten, weil wir uns in der Enklave des fried­li­chen Wider­stands bewegten.

Ver­tei­di­gung unserer Rechte

Jetzt bin ich nicht mehr nur Mutter vierer Kinder. Nach der Ver­haf­tung meines Ehe­man­nes initi­ierte ich das Projekt „Kryms­koje Detstwo“, das sich für die Ent­wick­lung und Unter­stüt­zung von 191 Kindern poli­ti­scher Gefan­ge­ner ein­setzt. Ich wurde zur Akti­vis­tin und Men­schen­recht­le­rin bei der Orga­ni­sa­tion „Kryms­kaja Soli­dar­n­ost“, habe ein Studium der inter­na­tio­na­len Jour­na­lis­tik abge­schlos­sen und berichte über poli­ti­sche Pro­zesse auf der Krim.

Mehr als 70 Krim­ta­ta­ren werden in rus­si­schen Gefäng­nis­sen fest­ge­hal­ten. Dar­un­ter sind Häft­linge fort­ge­schrit­te­nen Alters, schwer kranke und Men­schen mit kör­per­li­chen Ein­schrän­kun­gen. Es gibt Fami­lien, die gleich mehrere Männer ver­lo­ren haben. Ich kämpfe für die Frei­heit eines jeden von ihnen. Ich ver­tei­dige das Volk und sein Recht auf ein ruhiges Leben auf der Krim im Schat­ten seiner Reli­gion und Kultur.

Mumine Sali­jewa – Men­schen­recht­le­rin, Jour­na­lis­tin, Koor­di­na­to­rin des Pro­jekts „Крымское детство“ [Krim­kind­heit] 

Aus dem Rus­si­schen von Dario Planert.

Die Essay­reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebens­ge­schich­ten von der Krim“ macht auf die Men­schen­rechts­si­tua­tion auf der besetz­ten Krim auf­merk­sam. Diese ist durch schwere Ver­let­zun­gen der Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit, des Rechts auf Frei­heit und Sicher­heit, auf ein faires Ver­fah­ren sowie des Verbots von Folter gekenn­zeich­net. Durch die Essays stellen wir die per­sön­li­chen Schick­sale Betrof­fe­ner von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen dar. Die poli­ti­schen Ziele dieser Men­schen oder der ihnen nahe­ste­hen­den Orga­ni­sa­tio­nen und reli­giö­sen Gruppen machen wir uns nicht zu eigen.

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