Maye Mustafajewa: „Zur Abschreckung eingesperrt“
14 Jahre Lagerhaft für friedliches politisches Engagement – Maye Mustafajewa von der Bürgervereinigung „Krimskaja Solidarnost“ berichtet vom Schicksal ihres Mannes.
„Dum spiro, spero“ („Solange ich atme, hoffe ich“) lautet ein Satz des Marcus Tullius Cicero, welches die Geschichte der Krimtataren trefflich widerspiegelt. Und ihren langen, zermürbenden Kampf um das Recht zur Rückkehr auf die Krim nach der Deportation 1944 und die Wahrung ihrer Identität.
Das Jahr 2014 brachte neue Herausforderungen. Vor sieben Jahren wurde die Krim durch die Russische Föderation besetzt und hat sich seitdem zu einem Ort der Angst gewandelt. Hausdurchsuchungen, Massenverhaftungen, Entführungen, politisch motivierte Strafprozesse und die Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit und weiterer Grundrechte gehören zum Alltag. Die Reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebensgeschichten von der Krim“ wurde initiert von Viktoria Savchuk in Kooperation mit dem Berlin Info-Point Krim.
Das Jahr 2014 hat die Geschichte der Bewohner der Krim radikal umgewälzt. Von einer Nacht auf die andere fanden wir uns in einem absolut anderen Staat wieder. Abends schliefen wir in der Ukraine ein, und am nächsten Morgen erwachten wir in Russland. Das Leben auf der Krim verwandelte sich in einen schrecklichen Albtraum, der sich seither in einer nicht enden wollenden Marter aus Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Bußgeldern, Entführungen und Einschüchterungen fortsetzt. Menschen werden für ihre Meinung, politische Einstellung und ihr Engagement verhaftet; ebenso für den Besitz religiöser Literatur, Gespräche über Religion oder deren Studium. Die Besatzungsmacht wendet das Gesetz ausschließlich als Instrument der Repression an. In diesem Moment gibt es auf der Krim mehr als 80 politische Gefangene und ungefähr 200 Kinder, die ohne ihre Väter aufwachsen.
Mein Mann Serwer konnte dem Geschehen nicht tatenlos beiwohnen, und er begann sich aktiv zu engagieren. Er gehört zu den Urgesteinen der Vereinigung „Krimskaja Solidarnost“, die den Familien der politischen Gefangenen, Entführten und Verschwundenen auf der Krim juristische, materielle und informationelle Unterstützung leistet. Letztlich trafen die Repressionen auch unsere Familie.
Der 21. Mai 2018 war der schlimmste Morgen unseres Lebens. Ich erwachte um sechs Uhr durch starken Lärm. Als ich die Silhouetten in der Tür sah, war mir sofort klar, dass wir ungebetenen Besuch bekommen hatten. Nach einer mehr als vierstündigen Hausdurchsuchung brachten sie Serwer fort. Der Ermittler sagte, sie nähmen ihn für lange Zeit mit. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Blick, den Serwer während der Hausdurchsuchung unseren vier Kindern zuwarf. Er versuchte sich so viele ihrer Züge wie möglich einzuprägen, jede ihrer Bewegungen. Als er abgeführt wurde, bat er seine Mutter und seinen Vater, stolz auf ihn zu sein, denn er hatte nichts Schlechtes getan. Zum Abschied nahm er alle unsere Kinder in den Arm und sagte mir zugewandt: „Hinter starken Männern stehen starke Frauen. Die Zukunft des Volkes liegt in den Händen ehrenhafter Mütter“.
Schreckliche Haftbedingungen
Schon am 22. Mai 2018 wurde Serwer zur Abschreckung eingesperrt. Er blieb ein Jahr und vier Monate in Simferopol inhaftiert. Mehrmals verlegte man ihn in andere Zellen. Das waren sehr kleine Zellen und auch solche, die unter permanenter Videoüberwachung standen. Am 13. September 2019 verlegte man ihn und andere in derselben Sache Beschuldigte in eine Haftanstalt im russischen Krasnodar. Dort sperrte man ihn für zwei Monate unter schrecklichen Bedingungen in eine Einzelzelle, deren Abwassersystem defekt war, sodass die Kloake mehrmals in die Zelle sickerte. Seit dem 7. November 2019 ist er im russischen Rostow am Don in Haft. Am 16. September 2020 wurde mein Ehemann zu 14 Jahren Lagerhaft verurteilt.
Die Zellen sind allesamt in einem schlimmen Zustand, der in keiner Weise den sanitären Standards entspricht. Seit seiner Inhaftierung hat sich Serwers Gesundheitszustand stark verschlechtert. Sein Sehvermögen ist schwächer geworden, und er hat Probleme mit den Atmungsorganen bekommen. Die Verlegung in die Russische Föderation war nichts anderes als eine hybride Deportation. Im Jahr 1944 verschleppte man die Krimtataren unter der Anschuldigung des Verrats. Heutzutage drückt man den Leuten die analogen Etikette „Verbrecher“, „Terrorist“ oder „Extremist“ auf, zwängt sie in Mannschaftswagen und schafft sie von ukrainischem Territorium in russische Gefängnisse.
Alte und neue Wunden
Nun ziehe ich unsere Kinder allein auf und sehe, wie schlecht es ihnen ohne ihren Vater geht, und wie schwer das Trauma seiner Verhaftung wiegt. Unser vierjähriger Sohn spielt seit jenem Tag ganz und gar unkindliche Spiele. Manchmal verkleidet er sich als FSB-Mitarbeiter, deckt sich mit Spielzeugpistolen ein und kommt brüllend ins Zimmer gerannt: „Alle auf den Boden! Telefone auf den Tisch!“.
Aber nicht nur den Kindern, auch mir fehlt Serwer sehr. Er war für mich immer eine Unterstützung. Ein Blick reichte, und wir verstanden uns. Es gibt Tage, an denen sich eine Schwere über meine Seele legt. Aber dann erinnere ich mich augenblicklich an Serwers Worte, daran, wie er mich anhielt, stark und selbstsicher zu sein. Dann hole ich einmal tief Luft und setze meinen Kampf fort.
Man sagt, die Zeit heilt alle Wunde, doch die alten Wunden sind schon längst von neuen überzogen. Der Schmerz meines Volkes ist zu groß, als dass man ihn zwischen den Seiten der Geschichtsbücher abstellen könnte. Jetzt gerade wird eine neue Geschichte geschrieben, mit Tränen statt Tinte. Wir werden auch diesen Weg hinter uns bringen. Wir sind schon einmal zurückgekehrt, und haben die von unseren Peinigern hinterlassenen Scherben Stück für Stück wieder zusammengesetzt¹. Behutsam haben wir unsere Kultur, Traditionen und unsere Religion wiederbelebt. Wieder und wieder. Mit Hilfe der Hoffnung und des Glaubens. Seite an Seite.
Maye Mustafajewa – Aktivistin der Bürgervereinigung „Krimskaja Solidarnost“. Lebt auf der Krim. Ehefrau des politischen Gefangenen Serwer Mustafajew, der 2018 auf der Krim unter der Anschuldigung der Teilnahme an Aktionen von „Hizb ut-Tahrir“ verhaftet wurde. Die Organisation wird in Russland als Terrorvereinigung eingestuft. Serwer Mustafajew wurde 2020 durch ein Gericht im russischen Rostow am Don zu 14 Jahren Lagerhaft verurteilt.
¹ Gemeint ist die Rückkehr des krimtatarischen Volkes Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf die Krim nach ihrer Massendeportation im Jahr 1944. (Anm. d. Redaktion)
Aus dem Russischen von Dario Planert.
Die Essayreihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebensgeschichten von der Krim“ macht auf die Menschenrechtssituation auf der besetzten Krim aufmerksam. Diese ist durch schwere Verletzungen der Meinungs- und Religionsfreiheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit, auf ein faires Verfahren sowie des Verbots von Folter gekennzeichnet. Durch die Essays stellen wir die persönlichen Schicksale Betroffener von Menschenrechtsverletzungen dar. Die politischen Ziele dieser Menschen oder der ihnen nahestehenden Organisationen und religiösen Gruppen machen wir uns nicht zu eigen.
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