Maye Mus­ta­fa­jewa: „Zur Abschre­ckung eingesperrt“

© Anton Naumliuk

14 Jahre Lager­haft für fried­li­ches poli­ti­sches Enga­ge­ment – Maye Mus­ta­fa­jewa von der Bür­ger­ver­ei­ni­gung „Krims­kaja Soli­dar­n­ost“ berich­tet vom Schick­sal ihres Mannes.

„Dum spiro, spero“ („Solange ich atme, hoffe ich“) lautet ein Satz des Marcus Tullius Cicero, welches die Geschichte der Krim­ta­ta­ren treff­lich wider­spie­gelt. Und ihren langen, zer­mür­ben­den Kampf um das Recht zur Rück­kehr auf die Krim nach der Depor­ta­tion 1944 und die Wahrung ihrer Identität. 

Das Jahr 2014 brachte neue Her­aus­for­de­run­gen. Vor sieben Jahren wurde die Krim durch die Rus­si­sche Föde­ra­tion besetzt und hat sich seitdem zu einem Ort der Angst gewan­delt. Haus­durch­su­chun­gen, Mas­sen­ver­haf­tun­gen, Ent­füh­run­gen, poli­tisch moti­vierte Straf­pro­zesse und die Ein­schrän­kung der Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit und wei­te­rer Grund­rechte gehören zum Alltag. Die Reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebens­ge­schich­ten von der Krim“ wurde ini­tiert von Vik­to­ria Savchuk in Koope­ra­tion mit dem Berlin Info-Point Krim.

 

Das Jahr 2014 hat die Geschichte der Bewoh­ner der Krim radikal umge­wälzt. Von einer Nacht auf die andere fanden wir uns in einem absolut anderen Staat wieder. Abends schlie­fen wir in der Ukraine ein, und am nächs­ten Morgen erwach­ten wir in Russ­land. Das Leben auf der Krim ver­wan­delte sich in einen schreck­li­chen Alb­traum, der sich seither in einer nicht enden wol­len­den Marter aus Haus­durch­su­chun­gen, Ver­haf­tun­gen, Buß­gel­dern, Ent­füh­run­gen und Ein­schüch­te­run­gen fort­setzt. Men­schen werden für ihre Meinung, poli­ti­sche Ein­stel­lung und ihr Enga­ge­ment ver­haf­tet; ebenso für den Besitz reli­giö­ser Lite­ra­tur, Gesprä­che über Reli­gion oder deren Studium. Die Besat­zungs­macht wendet das Gesetz aus­schließ­lich als Instru­ment der Repres­sion an. In diesem Moment gibt es auf der Krim mehr als 80 poli­ti­sche Gefan­gene und unge­fähr 200 Kinder, die ohne ihre Väter aufwachsen.

Mein Mann Serwer konnte dem Gesche­hen nicht taten­los bei­woh­nen, und er begann sich aktiv zu enga­gie­ren. Er gehört zu den Urge­stei­nen der Ver­ei­ni­gung „Krims­kaja Soli­dar­n­ost“, die den Fami­lien der poli­ti­schen Gefan­ge­nen, Ent­führ­ten und Ver­schwun­de­nen auf der Krim juris­ti­sche, mate­ri­elle und infor­ma­tio­nelle Unter­stüt­zung leistet. Letzt­lich trafen die Repres­sio­nen auch unsere Familie.

Der 21. Mai 2018 war der schlimmste Morgen unseres Lebens. Ich erwachte um sechs Uhr durch starken Lärm. Als ich die Sil­hou­et­ten in der Tür sah, war mir sofort klar, dass wir unge­be­te­nen Besuch bekom­men hatten. Nach einer mehr als vier­stün­di­gen Haus­durch­su­chung brach­ten sie Serwer fort. Der Ermitt­ler sagte, sie nähmen ihn für lange Zeit mit. Ich erin­nere mich an jeden ein­zel­nen Blick, den Serwer während der Haus­durch­su­chung unseren vier Kindern zuwarf. Er ver­suchte sich so viele ihrer Züge wie möglich ein­zu­prä­gen, jede ihrer Bewe­gun­gen. Als er abge­führt wurde, bat er seine Mutter und seinen Vater, stolz auf ihn zu sein, denn er hatte nichts Schlech­tes getan. Zum Abschied nahm er alle unsere Kinder in den Arm und sagte mir zuge­wandt: „Hinter starken Männern stehen starke Frauen. Die Zukunft des Volkes liegt in den Händen ehren­haf­ter Mütter“.

Schreck­li­che Haftbedingungen

Schon am 22. Mai 2018 wurde Serwer zur Abschre­ckung ein­ge­sperrt. Er blieb ein Jahr und vier Monate in Sim­fe­ro­pol inhaf­tiert. Mehr­mals ver­legte man ihn in andere Zellen. Das waren sehr kleine Zellen und auch solche, die unter per­ma­nen­ter Video­über­wa­chung standen. Am 13. Sep­tem­ber 2019 ver­legte man ihn und andere in der­sel­ben Sache Beschul­digte in eine Haft­an­stalt im rus­si­schen Kras­no­dar. Dort sperrte man ihn für zwei Monate unter schreck­li­chen Bedin­gun­gen in eine Ein­zel­zelle, deren Abwas­ser­sys­tem defekt war, sodass die Kloake mehr­mals in die Zelle sickerte. Seit dem 7. Novem­ber 2019 ist er im rus­si­schen Rostow am Don in Haft. Am 16. Sep­tem­ber 2020 wurde mein Ehemann zu 14 Jahren Lager­haft verurteilt.

Die Zellen sind alle­samt in einem schlim­men Zustand, der in keiner Weise den sani­tä­ren Stan­dards ent­spricht. Seit seiner Inhaf­tie­rung hat sich Serwers Gesund­heits­zu­stand stark ver­schlech­tert.  Sein Seh­ver­mö­gen ist schwä­cher gewor­den, und er hat Pro­bleme mit den Atmungs­or­ga­nen bekom­men. Die Ver­le­gung in die Rus­si­sche Föde­ra­tion war nichts anderes als eine hybride Depor­ta­tion. Im Jahr 1944 ver­schleppte man die Krim­ta­ta­ren unter der Anschul­di­gung des Verrats. Heut­zu­tage drückt man den Leuten die ana­lo­gen Eti­kette „Ver­bre­cher“, „Ter­ro­rist“ oder „Extre­mist“ auf, zwängt sie in Mann­schafts­wa­gen und schafft sie von ukrai­ni­schem Ter­ri­to­rium in rus­si­sche Gefängnisse.

Alte und neue Wunden

Nun ziehe ich unsere Kinder allein auf und sehe, wie schlecht es ihnen ohne ihren Vater geht, und wie schwer das Trauma seiner Ver­haf­tung wiegt. Unser vier­jäh­ri­ger Sohn spielt seit jenem Tag ganz und gar unkind­li­che Spiele. Manch­mal ver­klei­det er sich als FSB-Mit­ar­bei­ter, deckt sich mit Spiel­zeug­pis­to­len ein und kommt brül­lend ins Zimmer gerannt: „Alle auf den Boden! Tele­fone auf den Tisch!“.
Aber nicht nur den Kindern, auch mir fehlt Serwer sehr. Er war für mich immer eine Unter­stüt­zung. Ein Blick reichte, und wir ver­stan­den uns. Es gibt Tage, an denen sich eine Schwere über meine Seele legt. Aber dann erin­nere ich mich augen­blick­lich an Serwers Worte, daran, wie er mich anhielt, stark und selbst­si­cher zu sein. Dann hole ich einmal tief Luft und setze meinen Kampf fort.

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunde, doch die alten Wunden sind schon längst von neuen über­zo­gen. Der Schmerz meines Volkes ist zu groß, als dass man ihn zwi­schen den Seiten der Geschichts­bü­cher abstel­len könnte. Jetzt gerade wird eine neue Geschichte geschrie­ben, mit Tränen statt Tinte. Wir werden auch diesen Weg hinter uns bringen. Wir sind schon einmal zurück­ge­kehrt, und haben die von unseren Pei­ni­gern hin­ter­las­se­nen Scher­ben Stück für Stück wieder zusam­men­ge­setzt¹. Behut­sam haben wir unsere Kultur, Tra­di­tio­nen und unsere Reli­gion wie­der­be­lebt. Wieder und wieder. Mit Hilfe der Hoff­nung und des Glau­bens. Seite an Seite.

Maye Mus­ta­fa­jewa – Akti­vis­tin der Bür­ger­ver­ei­ni­gung „Krims­kaja Soli­dar­n­ost“. Lebt auf der Krim. Ehefrau des poli­ti­schen Gefan­ge­nen Serwer Mus­ta­fa­jew, der 2018 auf der Krim unter der Anschul­di­gung der Teil­nahme an Aktio­nen von „Hizb ut-Tahrir“ ver­haf­tet wurde. Die Orga­ni­sa­tion wird in Russ­land als Ter­ror­ver­ei­ni­gung ein­ge­stuft. Serwer Mus­ta­fa­jew wurde 2020 durch ein Gericht im rus­si­schen Rostow am Don zu 14 Jahren Lager­haft verurteilt.

¹ Gemeint ist die Rück­kehr des krim­ta­ta­ri­schen Volkes Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts auf die Krim nach ihrer Mas­sen­de­por­ta­tion im Jahr 1944. (Anm. d. Redaktion)

Aus dem Rus­si­schen von Dario Planert. 

Die Essay­reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebens­ge­schich­ten von der Krim“ macht auf die Men­schen­rechts­si­tua­tion auf der besetz­ten Krim auf­merk­sam. Diese ist durch schwere Ver­let­zun­gen der Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit, des Rechts auf Frei­heit und Sicher­heit, auf ein faires Ver­fah­ren sowie des Verbots von Folter gekenn­zeich­net. Durch die Essays stellen wir die per­sön­li­chen Schick­sale Betrof­fe­ner von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen dar. Die poli­ti­schen Ziele dieser Men­schen oder der ihnen nahe­ste­hen­den Orga­ni­sa­tio­nen und reli­giö­sen Gruppen machen wir uns nicht zu eigen.

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