Lutfije Sudijewa: „Das Böse mit den eigenen Händen aufhalten“
Auf der besetzten Krim sind vor allem Krimtataren Repressionen ausgesetzt. Selbst für Facebook-Posts kann man verhaftet werden. Doch die Angst darf niemals über die Menschlichkeit siegen, meint die Menschenrechtlerin Lutfije Sudijewa.
„Dum spiro, spero“ („Solange ich atme, hoffe ich“) lautet ein Satz des Marcus Tullius Cicero, welches die Geschichte der Krimtataren trefflich widerspiegelt. Und ihren langen, zermürbenden Kampf um das Recht zur Rückkehr auf die Krim nach der Deportation 1944 und die Wahrung ihrer Identität.
Das Jahr 2014 brachte neue Herausforderungen. Vor sieben Jahren wurde die Krim durch die Russische Föderation besetzt und hat sich seitdem zu einem Ort der Angst gewandelt. Hausdurchsuchungen, Massenverhaftungen, Entführungen, politisch motivierte Strafprozesse und die Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit und weiterer Grundrechte gehören zum Alltag. Die Reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebensgeschichten von der Krim“ wurde initiert von Viktoria Savchuk in Kooperation mit dem Berlin Info-Point Krim.
Ich wurde in Usbekistan geboren. Dieses Land wurde den Krimtataren nach der Deportation im Jahre 1944 zur vorübergehenden Heimat. Jedoch konnte es ihnen nie die Krim ersetzen. Die Gespräche von der Rückkehr waren in jedem Haus allgegenwärtig, bis zu jenem Moment, als sie endlich möglich wurde. Mein Vater beteiligte sich an den Protesten der Krimtataren in Taschkent und Moskau in den 80er Jahren. Im Jahr 1989 hat er unsere ganze Familie auf die Krim übergesiedelt.
Die erste Erfahrung mit Menschenrechtsarbeit habe ich in den Jahren 2011 bis 2013 gemacht, als ich in den Vorstand der Frauenrechtsorganisation „Liga der Musliminnen – Insaf“ gewählt wurde. Wir setzten uns auf der ukrainischen Krim für die soziale Eingliederung junger muslimischer Frauen ein und kümmerten uns um Probleme auf der Arbeit und im Studium. Muslimische Frauen auf der Krim waren am Arbeitsplatz oft mit Schwierigkeiten wegen ihres Kopftuchs konfrontiert, da dies angeblich nicht dem Dress-Code entspräche.
Wir widmeten der Bildungsfrage und dem Kampf gegen Stereotype viel Zeit und Aufmerksamkeit. Zu diesem Zweck erarbeiteten wir ein ganzes Programm aus Seminaren und Konferenzen. Im Oktober 2013 verhinderte man unsere Arbeit, indem man zuerst eine unserer Veranstaltungen platzen ließ, und das noch vor der tatsächlichen Besetzung durch Russland. Das Gebäude wurde unerwartet vom Stromnetz genommen, und kurze Zeit später teilten uns die Ordnungskräfte mit, wir hätten die Einrichtung zu verlassen. Bei uns und unseren Gästen löste das einen Wechselbad der Gefühle aus.
Ich persönlich trug schon in jenem Herbst diese Unruhe in meinem Herzen. Als vier Monate später dann die „höflichen Leute“ oder „kleinen grünen Männchen“, wie sie auch genannt werden, auf der Krim einmarschierten, die in Wahrheit Angehörige russischer Spezialeinheiten waren, war die Frage nach dem Grund dieser Aktion aus unseren Köpfen verschwunden.
Morgendliche Hausdurchsuchungen wurden beinahe zur alltäglichen Routine
Bis 2014 hatte ich völlig andere Vorstellungen von meiner Zukunft gehabt. Es war mein großer Wunsch, mit Kindern zu arbeiten und meine Fähigkeiten im Bildungswesen weiterzuentwickeln, denn von Beruf her bin ich Pädagogin. Es war mir gelungen ein Jugendzentrum namens „Elif“ auf der Krim zu eröffnen, wo in der krimtatarischen Sprache unterrichtet wurde. Aber schon einige Monate nach der Eröffnung fanden die ersten Hausdurchsuchungen statt, die in der Folge zur Regel wurden.
Als 2015 die morgendlichen Hausdurchsuchungen durch russische Spezialeinsatzkräfte und damit einhergehende Verhaftungen beinahe zur alltäglichen Routine geworden waren, verstand ich, dass den Menschen geholfen werden musste. Anfangs war dies dadurch bedingt, dass unter den verhafteten Krimtataren einige Familien waren, die ich persönlich kannte. Im Jahr 2016 rief mich eines morgens um sechs Uhr eine enge Freundin aus Jalta an und erzählte mir, dass bei ihr in diesem Moment eine Hausdurchsuchung stattfinde. Die Sicherheitskräfte hatten ihre Fenster eingeschlagen und die Tür aufgebrochen. Ihre Kinder waren zu Tode erschrocken.
Dann landete mein Vater in Ordnungshaft. Am 13. April 2017 führten russische Sicherheitskräfte eine Durchsuchung bei dem krimtatarischen Aktivisten Seidamet Mustafajew durch. Während drinnen die Durchsuchung lief, kam es vor dem Haus zu einer Rangelei zwischen den OMON-Einsatzkräften und einigen Krimtataren, die gekommen waren, um ihren Nachbarn zu unterstützen. Unter ihnen waren auch meine Eltern. Mein Vater konnte einfach nicht wegsehen, dessen bin ich mir sicher.
Der Zusammenstoß entwickelte sich von dem Moment an, als einer der Beamten meine Mutter aufforderte, einen Schritt zurückzugehen (angeblich hatte sie im Weg gestanden) und anschließend versuchte, sie wegzustoßen. Mein Vater ging dazwischen und forderte den Polizisten auf, seine Hände von ihr zu lassen. Die Situation entwickelte sich zu einem Handgemenge, in deren Folge mehrere Menschen in Mannschaftswagen gezwängt und fortgebracht wurden, darunter auch mein Vater. Er saß schließlich für drei Tage in einer Arrestzelle.
Die Kraft des Wortes
Dieses Erlebnis wurde zu einem weiteren Beweggrund für mein Engagement. Ich muss hierzu anmerken, dass ich mein Leben nach religiösen Geboten ausrichte. Unter Muslimen gibt es ein Sprichwort: „Siehst du das Böse am Werk, so musst du versuchen, es mit deinen eigenen Händen aufzuhalten; ist das nicht möglich, so musst du versuchen, es mit dem Worte aufzuhalten; wenn du es nicht mit dem Worte aufhalten kannst, dann versuch es mit dem Herzen, und dies wird bereits die kleinste Form des Glaubens sein“.
Das bedeutet, dass der Mensch auf das Böse mit den ihm persönlich zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren soll. Ich kann das Böse auf der Krim nicht mit physischen Mitteln stoppen. Aber ich habe das Wort.
Ich veröffentlichte kurze Nachrichten, Fotos und Videos über Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, Hinweise zu Zeit und Ort politisch motivierter Gerichtsprozesse. Und ich sprach mit Journalisten. Nach einem halben Jahr schloss ich mich der Vereinigung „Krimskaja Solidarnost“¹ an. Diese zivilgesellschaftliche Organisation wurde am 9. April 2016 von Angehörigen der Verhafteten, Juristen und Aktivisten gegründet. Zunächst war sie ein loser, informeller Verband, der sich für die Opfer der Repressionen einsetzte. Kollektive Aktionen sind immer effektiver als individuelle, davon bin ich überzeugt.
Heute besteht mein Leben aus Gerichtsprozessen, Hausdurchsuchungen und Besuchen bei den Familien der Inhaftierten. Das war keine bewusste Entscheidung. Ich habe mir diese Aufgabe nicht selbst gegeben. Es ist einfach so gekommen, und heute kann ich nicht mehr aufhören.
In der aktuellen Menschenrechtsbewegung auf der Krim arbeiten Männer und Frauen Seite an Seite. Jeder trägt eine ganz persönliche Verantwortung in dieser Sache und versucht den Menschen um sich herum zu helfen. Krimtatarinnen haben dabei immer schon eine aktive Rolle gespielt, sowohl während der ersten Annexion, als auch unter den Bedingungen der Sowjetunion.
All das ist natürlich nicht ungefährlich.
Verhaftungen sollen uns einschüchtern
Ich selbst wurde 2019 für Facebook-Posts verhaftet. Sie überwältigten mich am helllichten Tag auf der Straße, zogen mich in einen Wagen und brachten mich in ein „E‑Zentrum“². Das war lediglich der formale Anlass, den sie nutzten, um Druck ausüben zu können. Damit ich verstand, dass mir demnächst ein Strafprozess drohe. Denn das ist die gängige Praxis um die Aktivistinnen und Aktivisten auf der Krim zu „bändigen“.
Wollen Sie wissen, wie das läuft? Entweder du schweigst für immer und sprichst nie wieder über die Repressionen, oder du verschwindest von der Krim, oder sie besuchen dich noch einmal, aber dieses Mal mit ernsteren Anschuldigungen und richterlichen Verfügungen. Und jeder muss für sich selbst entscheiden, wie auf diese „Warnungen“ zu reagieren ist.
Letztes Jahr erging die „Mahnung“, nicht an irgendwelchen Protesten oder Aktionen teilzunehmen. Aus diesem Anlass habe ich eine Klage eingereicht, denn ich bin der Meinung, dass weder die Regierung noch die Polizei oder der FSB die Arbeit von Menschenrechtlern und Journalisten einzuschränken hat. Diese schriftliche Mahnung erhält mittlerweile ungefähr jeder zehnte Krimtatar, denn in den Augen der russischen Regierung sind wir alle „potentielle Gesetzesbrecher“ und „politisch unzuverlässig“. Sehr treffend hat es der russische Anwalt Aleksej Ladin einmal ausgedrückt: „Krimtatar zu sein, das ist schon an sich ein strafverschärfendes Tatbestandsmerkmal“.
Aber wir setzten unsere Arbeit fort und sind überzeugt, dass unsere Solidarität stärker ist. Stärker als die Geheimdienste, die stillschweigend Befehle von oben ausführen. Stärker als die Gerichte, die stillschweigend verbrecherische Haftbefehle gegen völlig unschuldige Menschen unterschreiben.
Ich möchte daran glauben, dass eines Tages Menschen im Moskauer Kreml arbeiten werden, die eine andere politische Kultur pflegen. Die verstehen, dass Stärke nicht das einzige Argument im Dialog mit der eigenen Gesellschaft und mit anderen Völkern und Ländern ist. Und dass diese Menschen weise und für die Menschen bedeutsame Entscheidungen treffen werden. Aber bis dahin müssen wir unter Einsatz all unserer Kräfte weiterkämpfen. Wir dürfen nicht aufgeben, selbst dann nicht, wenn es scheint, als wäre Veränderung unerreichbar.
Hoffnung auf bereitere internationale Unterstützung
Großer Dank gebührt den Einzelpersonen und Organisationen in der ukrainischen, russischen und internationalen Gemeinschaft der Menschenrechtsverteidiger, die den Schmerz der zerstörten Familien zu ihrem eigenen gemacht haben und ihre Kräfte für die politischen Gefangenen einsetzen. Ich könnte hier viele Namen aufzählen, und es wären nicht nur Menschenrechtler darunter. Es gibt viele Menschen, die unseren friedlichen Protest auf der Krim unterstützen und wahrhaft solidarisch sind.
In den vergangenen sieben Jahren seit der Annexion ergehen fortwährend neue Erklärungen und Resolutionen. Ich möchte daran glauben, dass sie am Ende des Tages zu Resultaten führen. Wir leben in einer Welt, in der politische Prozesse derart miteinander verschmelzen, dass es manchmal schwierig ist, vorauszuahnen, welches Mittel welche Wirkung entfaltet. Aber nach fünf Jahren permanenter Repressionen in Form von Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Bußgeldern, in denen das krimtatarische Volk sich selbst überlassen war, während die zivilisierte Welt nur die Hände über dem Kopf zusammenschlug, ist unsere Gutgläubigkeit einem gewissen Argwohn gewichen.
Wir wollen einen effektiven Einsatz internationaler Institutionen sehen, der den von ihnen deklarierten Werten entspricht. Bislang ist das nicht ersichtlich. Denn die Hausdurchsuchungen und Verhaftungen gehen weiter, die Zahl der politischen Gefangenen wächst.
Man fragt uns häufig, woher wir die Kraft zum Widerstand nehmen. Ob unsere Herzen durch das Geschehen nicht verhärten. Wasser und das Gebet helfen gegen die Erschöpfung und den Stress. Ich glaube an die Hilfe durch den Allmächtigen. Ein islamischer Gelehrter sagte einst: „Wer bei seinem Tun auf die Kraft und die Macht Gottes vertraut, der kann sogar Eisen erweichen“. Ich glaube daran, dass es um uns herum noch genügend Menschen mit gesunden Moralvorstellungen und humanitären Werten gibt, die bereit sind sich im Kampf gegen die Ungerechtigkeit zu vereinen. Ich glaube an die Kraft der Nächstenliebe. Und ich glaube daran, dass die Angst niemals über die Menschlichkeit obsiegen wird.
Lutfije Sudijewa – Menschenrechtlerin, Journalistin bei „Krimskaja Solidarnost“. Lebt auf der Krim.
¹ Zu dt. etwa „Solidarität auf der Krim“ (Anm. d. Üb.)
² Gemeint ist eine Dienststelle des Hauptamtes für Extremismusbekämpfung des russischen Innenministeriums, die vor allem auf der Krim und im Kaukasus aktiv sind, und als Geheimpolizei fungieren. (Anm. d. Üb.)
Aus dem Russischen von Dario Planert.
Die Essayreihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebensgeschichten von der Krim“ macht auf die Menschenrechtssituation auf der besetzten Krim aufmerksam. Diese ist durch schwere Verletzungen der Meinungs- und Religionsfreiheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit, auf ein faires Verfahren sowie des Verbots von Folter gekennzeichnet. Durch die Essays stellen wir die persönlichen Schicksale Betroffener von Menschenrechtsverletzungen dar. Die politischen Ziele dieser Menschen oder der ihnen nahestehenden Organisationen und religiösen Gruppen machen wir uns nicht zu eigen.
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