Lilia Hemed­schi: „Jede Haus­durch­su­chung und jede Ver­haf­tung auf der Krim dringt zu mir durch“

© Anton Naumliuk

Lilia Hemed­schi hat kaum noch Zeit für ihre Hobbys. Haus­durch­su­chun­gen, Fest­nah­men und Straf­ver­fol­gun­gen machen heute den größten Teil ihrer Arbeit aus.

„Dum spiro, spero“ („Solange ich atme, hoffe ich“) lautet ein Satz des Marcus Tullius Cicero, welches die Geschichte der Krim­ta­ta­ren treff­lich wider­spie­gelt. Und ihren langen, zer­mür­ben­den Kampf um das Recht zur Rück­kehr auf die Krim nach der Depor­ta­tion 1944 und die Wahrung ihrer Identität. 

Das Jahr 2014 brachte neue Her­aus­for­de­run­gen. Vor sieben Jahren wurde die Krim durch die Rus­si­sche Föde­ra­tion besetzt und hat sich seitdem zu einem Ort der Angst gewan­delt. Haus­durch­su­chun­gen, Mas­sen­ver­haf­tun­gen, Ent­füh­run­gen, poli­tisch moti­vierte Straf­pro­zesse und die Ein­schrän­kung der Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit und wei­te­rer Grund­rechte gehören zum Alltag. Die Reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebens­ge­schich­ten von der Krim“ wurde ini­tiert von Vik­to­ria Savchuk in Koope­ra­tion mit dem Berlin Info-Point Krim.

Bis zum Jahre 2014 verlief mein Leben sehr regel­mä­ßig. Ich küm­merte mich um die Kinder, die Familie, und in meiner Frei­zeit ging ich einer juris­ti­schen Tätig­keit nach.

Dann hat sich mein Leben schlag­ar­tig ver­än­dert. Nicht nur meins. Das hat mit dem ver­än­der­ten Status der Krim zu tun. Es hat sich eine riesige Nach­frage nach qua­li­fi­zier­tem Rechts­bei­stand ent­wi­ckelt. Ich ent­schied für mich, dass ich nicht zur pas­si­ven Zuschaue­rin werden möchte, und emp­fange seither Bür­ge­rin­nen und Bürger, die eine Bera­tung in Grund­rechts­fra­gen benötigen.

Im Jahr 2015 begann ich die Zusam­men­ar­beit mit meinen Kol­le­gen Emil Kur­be­dinow und Edem Semedl­ja­jew¹. Mein Auf­ga­ben­be­reich erstreckt sich über die Straf­ver­fol­gung und die Ein­be­ru­fung zum Wehr­dienst bis hin zu pri­vat­recht­li­chen Ange­le­gen­hei­ten im Boden- und Arbeits­recht. Haus­durch­su­chun­gen, Fest­nah­men und Straf­ver­fol­gun­gen sind bereits seit Erhalt meiner Anwalts­zu­las­sung Teil meiner Arbeit.

Heut­zu­tage fun­giert ein Anwalt in poli­tisch moti­vier­ten Fällen auf der Krim nicht mehr bloß als Anwalt. Man ist ebenso Psy­cho­loge, Sozi­al­ar­bei­ter und viel­leicht sogar Fami­li­en­mit­glied. Meine Kol­le­gen und ich unter­stüt­zen diese Fami­lien bei der Lösung der unter­schied­lichs­ten Pro­bleme. Wir helfen bei der Suche nach Psy­cho­lo­gen für die Kinder, die nach den Haus­durch­su­chun­gen und den Ver­haf­tun­gen ihrer Väter oft trau­ma­ti­siert sind. Wir helfen bei diver­sen Antrag­stel­lun­gen und bei der Suche nach Ärzten, die in Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten medi­zi­ni­sche Hilfe leisten können. Außer­dem führen wir öffent­lich­keits­wirk­same Kam­pa­gnen für die Frei­las­sung der poli­ti­schen Gefan­ge­nen durch, sowie Trai­nings für Men­schen, die auf­grund ihrer reli­giö­sen Ein­stel­lung oder eth­ni­schen Zuge­hö­rig­keit poli­ti­scher Ver­fol­gung aus­ge­setzt sind. In diesem von uns initi­ier­ten Work­shop haben bereits unge­fähr zwanzig Men­schen die Grund­la­gen des Ver­wal­tungs­rechts und Prin­zi­pien im Umgang mit Poli­zei­be­am­ten kennengelernt.

Anwälte werden von den Besat­zungs­be­hör­den selbst bedroht

Unsere Akti­vi­tä­ten sind nicht unbe­merkt geblie­ben. Meine Kol­le­gen und ich sind mehr­mals mit der Ent­zie­hung unserer Zulas­sun­gen seitens der Besat­zungs­be­hör­den bedroht und von der Staats­an­walt­schaft abge­mahnt worden. Es hat zudem Haus­durch­su­chun­gen und Straf­pro­zesse gegen einige meiner Kol­le­gen gegeben².

Jede Haus­durch­su­chung und jede Ver­haf­tung auf der Krim dringt zu mir durch. Der Schmerz jeder Frau, jeder Mutter und eines jeden Kindes ist auch mein Schmerz und der Schmerz unseres Volkes. In diesem Augen­blick, bei­spiels­weise, sind wir gemein­sam mit der Ehefrau von Serwer Mus­ta­fa­jew³ mit der Suche nach Ärzten beschäf­tigt, die ihren Töch­tern helfen können. Bei seiner ältes­ten Tochter Dsche­milja, acht Jahre alt, wurde ein Tumor im Bein ent­deckt. Derzeit laufen Unter­su­chun­gen, um her­aus­zu­fin­den, ob es sich dabei um einen bös­ar­ti­gen Tumor handelt. Die jüngste Tochter Nad­schije, zwei Jahre alt, kennt ihren Vater nur von Foto­gra­fien, denn bei seiner Ver­haf­tung war sie gerade vier Monate alt. Auch sie benö­tigt drin­gend einen chir­ur­gi­schen Ein­griff. Zu meinem größten Bedau­ern sind dies nicht die ein­zi­gen Fälle. Der Stress, den die Fami­lien der poli­ti­schen Gefan­ge­nen durch­ma­chen, spie­gelt sich in ihrer psy­chi­schen und phy­si­schen Gesund­heit wider.

In den sieben Jahren, in denen die Rus­si­sche Föde­ra­tion nun auf der Krim anwe­send ist, ist die Anzahl der poli­ti­schen Gefan­ge­nen auf über ein­hun­dert Men­schen gewach­sen. Sie und ihre Fami­lien zu betreuen, darin liegt heute unsere Haupt­auf­gabe. Unser Team hat sich seither deut­lich ver­grö­ßert und arbei­tet sehr eng zusam­men. Meine Kol­le­gen und ich haben nur noch sehr wenig Zeit für unsere Fami­lien und Hobbys, aber unsere Liebs­ten ver­ste­hen das und unter­stüt­zen uns. Wir schät­zen jede Minute und jeden Men­schen, der uns dabei hilft, um unser Daseins­recht in dieser unserer Heimat zu kämpfen.

Lilia Hemed­schi ist Men­schen­rechts­an­wäl­tin. Sie lebt und arbei­tet auf der Krim.

¹ Anwälte, die poli­ti­sche Gefan­gene des Kremls auf der Krim ver­tei­di­gen (Anm. d. Autorin).
² Siehe Fall von Emil Kur­be­dinov: https://www.fidh.org/en/issues/human-rights-defenders/crimea-human-rights-defender-emil-kurbedinov-arrested-today-on
³ Poli­ti­scher Gefan­ge­ner (Anm. d. Redaktion).

Aus dem Rus­si­schen von Dario Planert.
Die Essay­reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebens­ge­schich­ten von der Krim“ macht auf die Men­schen­rechts­si­tua­tion auf der besetz­ten Krim auf­merk­sam. Diese ist durch schwere Ver­let­zun­gen der Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit, des Rechts auf Frei­heit und Sicher­heit, auf ein faires Ver­fah­ren sowie des Verbots von Folter gekenn­zeich­net. Durch die Essays stellen wir die per­sön­li­chen Schick­sale Betrof­fe­ner von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen dar. Die poli­ti­schen Ziele dieser Men­schen oder der ihnen nahe­ste­hen­den Orga­ni­sa­tio­nen und reli­giö­sen Gruppen machen wir uns nicht zu eigen.

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