Lilia Hemedschi: „Jede Hausdurchsuchung und jede Verhaftung auf der Krim dringt zu mir durch“
Lilia Hemedschi hat kaum noch Zeit für ihre Hobbys. Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Strafverfolgungen machen heute den größten Teil ihrer Arbeit aus.
„Dum spiro, spero“ („Solange ich atme, hoffe ich“) lautet ein Satz des Marcus Tullius Cicero, welches die Geschichte der Krimtataren trefflich widerspiegelt. Und ihren langen, zermürbenden Kampf um das Recht zur Rückkehr auf die Krim nach der Deportation 1944 und die Wahrung ihrer Identität.
Das Jahr 2014 brachte neue Herausforderungen. Vor sieben Jahren wurde die Krim durch die Russische Föderation besetzt und hat sich seitdem zu einem Ort der Angst gewandelt. Hausdurchsuchungen, Massenverhaftungen, Entführungen, politisch motivierte Strafprozesse und die Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit und weiterer Grundrechte gehören zum Alltag. Die Reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebensgeschichten von der Krim“ wurde initiert von Viktoria Savchuk in Kooperation mit dem Berlin Info-Point Krim.
Bis zum Jahre 2014 verlief mein Leben sehr regelmäßig. Ich kümmerte mich um die Kinder, die Familie, und in meiner Freizeit ging ich einer juristischen Tätigkeit nach.
Dann hat sich mein Leben schlagartig verändert. Nicht nur meins. Das hat mit dem veränderten Status der Krim zu tun. Es hat sich eine riesige Nachfrage nach qualifiziertem Rechtsbeistand entwickelt. Ich entschied für mich, dass ich nicht zur passiven Zuschauerin werden möchte, und empfange seither Bürgerinnen und Bürger, die eine Beratung in Grundrechtsfragen benötigen.
Im Jahr 2015 begann ich die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen Emil Kurbedinow und Edem Semedljajew¹. Mein Aufgabenbereich erstreckt sich über die Strafverfolgung und die Einberufung zum Wehrdienst bis hin zu privatrechtlichen Angelegenheiten im Boden- und Arbeitsrecht. Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Strafverfolgungen sind bereits seit Erhalt meiner Anwaltszulassung Teil meiner Arbeit.
Heutzutage fungiert ein Anwalt in politisch motivierten Fällen auf der Krim nicht mehr bloß als Anwalt. Man ist ebenso Psychologe, Sozialarbeiter und vielleicht sogar Familienmitglied. Meine Kollegen und ich unterstützen diese Familien bei der Lösung der unterschiedlichsten Probleme. Wir helfen bei der Suche nach Psychologen für die Kinder, die nach den Hausdurchsuchungen und den Verhaftungen ihrer Väter oft traumatisiert sind. Wir helfen bei diversen Antragstellungen und bei der Suche nach Ärzten, die in Justizvollzugsanstalten medizinische Hilfe leisten können. Außerdem führen wir öffentlichkeitswirksame Kampagnen für die Freilassung der politischen Gefangenen durch, sowie Trainings für Menschen, die aufgrund ihrer religiösen Einstellung oder ethnischen Zugehörigkeit politischer Verfolgung ausgesetzt sind. In diesem von uns initiierten Workshop haben bereits ungefähr zwanzig Menschen die Grundlagen des Verwaltungsrechts und Prinzipien im Umgang mit Polizeibeamten kennengelernt.
Anwälte werden von den Besatzungsbehörden selbst bedroht
Unsere Aktivitäten sind nicht unbemerkt geblieben. Meine Kollegen und ich sind mehrmals mit der Entziehung unserer Zulassungen seitens der Besatzungsbehörden bedroht und von der Staatsanwaltschaft abgemahnt worden. Es hat zudem Hausdurchsuchungen und Strafprozesse gegen einige meiner Kollegen gegeben².
Jede Hausdurchsuchung und jede Verhaftung auf der Krim dringt zu mir durch. Der Schmerz jeder Frau, jeder Mutter und eines jeden Kindes ist auch mein Schmerz und der Schmerz unseres Volkes. In diesem Augenblick, beispielsweise, sind wir gemeinsam mit der Ehefrau von Serwer Mustafajew³ mit der Suche nach Ärzten beschäftigt, die ihren Töchtern helfen können. Bei seiner ältesten Tochter Dschemilja, acht Jahre alt, wurde ein Tumor im Bein entdeckt. Derzeit laufen Untersuchungen, um herauszufinden, ob es sich dabei um einen bösartigen Tumor handelt. Die jüngste Tochter Nadschije, zwei Jahre alt, kennt ihren Vater nur von Fotografien, denn bei seiner Verhaftung war sie gerade vier Monate alt. Auch sie benötigt dringend einen chirurgischen Eingriff. Zu meinem größten Bedauern sind dies nicht die einzigen Fälle. Der Stress, den die Familien der politischen Gefangenen durchmachen, spiegelt sich in ihrer psychischen und physischen Gesundheit wider.
In den sieben Jahren, in denen die Russische Föderation nun auf der Krim anwesend ist, ist die Anzahl der politischen Gefangenen auf über einhundert Menschen gewachsen. Sie und ihre Familien zu betreuen, darin liegt heute unsere Hauptaufgabe. Unser Team hat sich seither deutlich vergrößert und arbeitet sehr eng zusammen. Meine Kollegen und ich haben nur noch sehr wenig Zeit für unsere Familien und Hobbys, aber unsere Liebsten verstehen das und unterstützen uns. Wir schätzen jede Minute und jeden Menschen, der uns dabei hilft, um unser Daseinsrecht in dieser unserer Heimat zu kämpfen.
Lilia Hemedschi ist Menschenrechtsanwältin. Sie lebt und arbeitet auf der Krim.
¹ Anwälte, die politische Gefangene des Kremls auf der Krim verteidigen (Anm. d. Autorin).
² Siehe Fall von Emil Kurbedinov: https://www.fidh.org/en/issues/human-rights-defenders/crimea-human-rights-defender-emil-kurbedinov-arrested-today-on
³ Politischer Gefangener (Anm. d. Redaktion).
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