Diljara Abdullajewa: „Seit 2014 erlebt die Krim die gröbsten Menschenrechtsverstöße“
Auf der von Russland okkupierten Krim sind vor allem Krimtataren politischer Verfolgung ausgesetzt. Diljara Abdullajewa von der Bürgervereinigung „Krimskaja Solidarnost“ berichtet von der Verhaftung ihrer Söhne.
„Dum spiro, spero“ („Solange ich atme, hoffe ich“) lautet ein Satz des Marcus Tullius Cicero, welches die Geschichte der Krimtataren trefflich widerspiegelt. Und ihren langen, zermürbenden Kampf um das Recht zur Rückkehr auf die Krim nach der Deportation 1944 und die Wahrung ihrer Identität.
Das Jahr 2014 brachte neue Herausforderungen. Vor sieben Jahren wurde die Krim durch die Russische Föderation besetzt und hat sich seitdem zu einem Ort der Angst gewandelt. Hausdurchsuchungen, Massenverhaftungen, Entführungen, politisch motivierte Strafprozesse und die Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit und weiterer Grundrechte gehören zum Alltag. Die Reihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebensgeschichten von der Krim“ wurde initiert von Viktoria Savchuk in Kooperation mit dem Berlin Info-Point Krim.
Der Vater meiner Kinder verschwand aus unserem Leben, als mein ältester Sohn gerade anderthalb, mein jüngerer fünf Monate, und ich selbst 21 Jahre alt war. Man könnte sagen, dass wir gemeinsam groß geworden sind und gelernt haben, dieses Leben allein zu bestreiten, in der großen Stadt Baku, wohin meine Eltern nach Jahrzehnten in der usbekischen Verbannung gezogen waren. Erst im Herbst 1996 habe ich es geschafft, mit meinen Söhnen in unsere Heimat – die Krim – zurückzukehren.
Wir haben viel durchmachen müssen. Ich habe meine Söhne allein aufgezogen und ihnen den Vater ersetzt. Zumindest habe ich es versucht. Die Kinder haben mir diese Rolle zugestanden, sie angenommen, denn der Vater fehlte ihnen sehr. Jungen brauchen ein Vorbild, ein Beispiel an Stärke. Das ist wichtig. Vielleicht haben wir deshalb ein so vertrautes, aufrichtiges Verhältnis zueinander.
Was soll ich sagen. Mein Leben war hart, und nun kommt die Ungerechtigkeit hinzu, dass meine ehrenwerten Söhne in Unfreiheit leben müssen. Ich denke, dass meine Lebenserfahrung mich für solche Situationen abgehärtet und mir zusätzliche Weisheit und Reife verschafft hat. Ich würde sagen, dass ich die Universität des Lebens abgeschlossen habe. Ich habe gelernt, nach Misserfolgen und tiefen Stürzen die Verantwortung wieder an mich zu reißen, für das Leben der Enkelkinder und der eigenen unschuldigen Söhne, und den Kampf für ihre Freiheit aufzunehmen.
Ich habe zwei höhere Abschlüsse und eine Doktorarbeit zum Thema „Mikroelemente und Vitamine“ in der Tasche. Meine Arbeitserfahrung ist vielfältig. Aber mittlerweile habe ich das Leben unter anderen Bedingungen studiert, unter jenen, in denen meine unschuldigen Söhne in russischen Kerkern sitzen. Ich habe gelernt, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Das Schicksal meiner Söhne schmerzt mich sehr. Die Zeit heilt diese Wunden nicht. Du lernst lediglich mit ihnen zu leben. Wie soll man lernen, mit dieser Situation fertig zu werden und wie weit ist es noch bis zur Gerechtigkeit? Wo ist die Wahrheit zu suchen? Was ist die Wahrheit?
Unschuldig verurteilt zu langjähriger Haft
Ich sagte bereits, dass ich auf der Krim lebe. Die Krim ist momentan im Fokus der Ereignisse. Sie sind heute die am meisten diskutierten Nachrichten in den Medien rund um den Globus. Die Krim ist ein einziger großer Truppenübungsplatz, auf dem die Krimtataren mit Repressionen und Massenverhaftungen überzogen werden. Seit jeher begannen die Repressionen bei den Gläubigen. Die Blüte des krimtatarischen Volkes, seine Jugend, unsere geliebten und ehrenwerten Söhne sind weggesperrt worden. Dutzende unschuldig Verurteilte. Die Halbinsel, deren „Anschluss an die Russische Föderation“ von der internationalen Gemeinschaft und den Vereinten Nationen nicht anerkannt wird, bleibt russisch besetztes Territorium. Seit dem Moment der Besetzung erlebt die Krim die gröbsten Menschenrechtsverstöße. Es sind hunderte Fälle politischer Verfolgung, fabrizierter Strafprozesse und tödlicher Urteile, denn Haftstrafen von 17 Jahren bedeuten den Tod. Hunderte Fälle, in denen unsere Söhne von der Krim zum Absitzen ihrer „Strafe“ auf das Territorium Russlands verbracht wurden.
Immer habe ich dieses schreckliche Bild vor Augen, wie sie meine Söhne abführten – nein, nicht abführten, sondern mit Säcken über dem Kopf und in Handschellen von mir wegzerrten. Und all das vor den Augen ihrer kleinen Kinder, meiner Enkelkinder. Sie sind Zeugen echten Terrors geworden.
Man brach in ihr Haus ein, als sie gerade schliefen. Nachdem sie die Türen und Fenster aufgebrochen hatten, schrien die maskierten, mit kugelsicheren Westen und Sturmgewehren ausgerüsteten Männer: „Sofort einfrieren! Wir sind berechtigt zu schießen!“.
Auf wen hätten sie schießen sollen, frage ich mich. Auf die Kinder? Bei meinem älteren Sohn waren lediglich er, seine Frau und vier kleine Kinder zuhause. Bei meinem jüngeren Sohn waren es er, seine Frau und fünf Kinder, das kleinste gerade drei Monate alt. Meine Kinder wohnen ihn einem Doppelhaus, das sie selbst gebaut haben. Die gezielten Repressionen gegen bestimmte Familien auf der Krim begannen bei meiner eigenen, als man meine Brüder und meine Söhne abholte, und mich mit meinen Schwägerinnen und ohne Versorger zurückließ.
Diljara Abdullajewa ist Bürgerrechtlerin bei „Krimskaja Solidarnost“.
Aus dem Russischen von Dario Planert.
Die Essayreihe „Solange ich atme, hoffe ich – Fünf Lebensgeschichten von der Krim“ macht auf die Menschenrechtssituation auf der besetzten Krim aufmerksam. Diese ist durch schwere Verletzungen der Meinungs- und Religionsfreiheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit, auf ein faires Verfahren sowie des Verbots von Folter gekennzeichnet. Durch die Essays stellen wir die persönlichen Schicksale Betroffener von Menschenrechtsverletzungen dar. Die politischen Ziele dieser Menschen oder der ihnen nahestehenden Organisationen und religiösen Gruppen machen wir uns nicht zu eigen.
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