Länderpositionen zum Kandidatenstatus der Ukraine
Wie sehen die EU-Mitgliedsstaaten die Bewerbung der Ukraine als Beitrittskandidat? Wir haben sechs Expertinnen und Experten nach ihrer Einschätzung gefragt.
Im Vorfeld des EU-Gipfels, bei dem die Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten hofft, haben wir Expertinnen und Experten aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten zu den Positionen ihrer Länder befragt. Wir haben sie auch nach ihrer Einschätzung der Auswirkungen der Entscheidung für oder gegen den Kandidatenstatus gefragt. Es wird erwartet, dass die Europäische Kommission in den nächsten Tagen ihre Stellungnahme abgibt und dass sie dort empfiehlt, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen. Letztendlich werden aber die EU-Mitgliedstaaten die Entscheidung treffen. Für die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine ist ein einstimmiger Beschluss erforderlich.
Estland
Die europäischen Bestrebungen der Ukrainer haben in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im ganzen Land erhebliche Unterstützung hervorgerufen. Das ist ein zuversichtliches Signal an das In- und Ausland, um laufende und künftige Reformen in der Ukraine voranzutreiben, die das Land sowohl in technischer Hinsicht als auch in Bezug auf die Werte näher an die EU-Mitgliedschaft heranführen. Darüber hinaus ist die europäische Integration als strategisches Ziel sehr wichtig für die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Ukraine, da sie ein solides Credo haben muss – eine inspirierende Perspektive für eine bessere, hellere und wohlhabendere Zukunft für kommende Generationen. Eine widerstandsfähige Ukraine innerhalb der Europäischen Union bedeutet ein sichereres Europa im Allgemeinen. Die EU-Mitgliedstaaten teilen diese Verantwortung jetzt und investieren in unsere gemeinsame Zukunft.
Dmitri Teperik, Geschäftsführer International Centre for Defence and Security (ICDS), Tallinn.
Frankreich
Während Frankreich versichert, dass die Ukraine Teil der EU sein wird, scheint die Diskussion über den Kandidatenstatus und erst recht über eine mögliche EU-Mitgliedschaft ein heikles Thema zu sein; zumal euroskeptische Parteien in der ersten Runde der Parlamentswahlen gute Ergebnisse erzielt haben. Wenn man jedoch strategisch denkt und weiß, dass die französische Rhetorik, Russland nicht zu demütigen, die Ukraine und viele andere osteuropäische Länder beunruhigt, würde die Unterstützung des Kandidatenstatus für die Ukraine ein wichtiges politisches Signal über die Absichten und die Unterstützung der EU gegenüber der Ukraine aussenden. Eine zu vorsichtige Unterstützung hingegen könnte von Russland als Zeichen von Schwäche in Bezug auf die Fähigkeit Frankreichs gewertet werden, die politische und militärische Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten sowie als Zeichen einer risikoaversen politischen Entscheidungsfindung. Dies ist besonders wichtig, da Frankreich seit 2014 durch die Treffen im Normandie-Format und das Minsker Protokoll in den Ukraine-Krieg involviert ist.
Christine Dugoin-Clément, Wissenschaftlerin am Lehrstuhl „Risiken“ an der IAE Sorbonne Business School, University of Paris 1 Panthéon-Sorbonne.
Polen
Polen unterstützt den Kandidatenstatus im Vorfeld der Tagung der Europäischen Kommission nachdrücklich und hat sich bereits Jahre vor Beginn der russischen Invasion für die europäische Integration der Ukraine eingesetzt. Warschau ist ein Befürworter einer modernisierten, demokratischen und marktwirtschaftlichen Ukraine, während eine Beitrittsperspektive für die ukrainische Gesellschaft und Führung einen nachhaltigen Anreiz zur Durchführung von Strukturreformen schafft, die das Land so dringend benötigt. Ein westlich orientierter Nachbar, bestenfalls ein EU-Mitglied, bringt mehr Berechenbarkeit und Wohlstand in die Region und beseitigt eine Grauzone der Instabilität, die Russland als Instrument zur Destabilisierung der EU und der NATO einsetzt. Polen unterstützt den EU-Beitritt der Ukraine aus den gleichen Gründen, aus denen sich Deutschland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für den Beitritt Polens zur EU ausgesprochen hat.
Tadeusz Iwański, Abteilungsleiter für Ukraine, Belarus und Moldawien am Centre for Eastern Studies, Warschau.
Italien
Die bedingungslose Unterstützung der italienischen Regierung für die Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine ist Ausdruck eines bedeutenden außenpolitischen Kurswechsels auf dem Apennin unter der Führung von Premierminister Draghi nach dem umfassenden Einmarsch Russlands in die Ukraine. Neben der Verleihung des Kandidatenstatus sprach sich Premierminister Draghi öffentlich für die Wiederaufnahme der EU-Erweiterungspolitik aus und betonte, wie wichtig es sei, einen schnellen Weg für den Beitritt der Ukraine zu finden. Draghi, ein überzeugter Euro-Atlantiker und Befürworter einer liberalen multilateralen Ordnung, hat es nicht nur geschafft, die historische Haltung seines Landes gegenüber Russland und der Östlichen Partnerschaft trotz des starken Drucks der pazifistischen öffentlichen Meinung zu ändern, sondern Italien auch als Verfechter der Erweiterung des „alten Europas“ zu positionieren. Angesichts des möglichen gemeinsamen Besuchs der Staats- und Regierungschefs der drei größten europäischen Volkswirtschaften in Kyjiw könnte die Rolle des italienischen Ministerpräsidenten bei der Überzeugung seiner eher zögerlichen Kollegen von der Bedeutung der Gewährung des Kandidatenstatus für die Ukraine entscheidend sein.
Alisa Muzergues ist Research Fellow und European Neighbourhood Programme Manager at GLOBSEC Policy Institute.
Tschechien
Die Tschechische Republik vertritt den Standpunkt, dass es zur Stärkung der Ukraine und der regionalen Sicherheit von größtem Interesse für die EU (und die Region) ist, der Ukraine jetzt den Kandidatenstatus zu verleihen. Ein solcher Schritt würde die Ukraine im europäischen Raum verankern und die Reformagenda der Ukraine weiter vorantreiben. Er würde auch ein starkes Signal senden, insbesondere an die ukrainischen Bürger, dass die EU fest an der Seite der Ukraine steht. Die Ukraine hat bei ihren Bemühungen um eine Annäherung an die EU-Standards und an die EU selbst Fortschritte gemacht und zahlt einen hohen Preis für dieses Streben. Jetzt ist es an den führenden Politikern der EU, mutig zu sein und strategisch zu denken. Wenn die Entscheidung über den „vollen“ Kandidatenstatus nicht jetzt, am 23. und 24. Juni, getroffen wird, dann würde die tschechische Präsidentschaft ihr Bestes tun, um in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 daran zu arbeiten, damit der Schwung nicht verloren geht.
David Stulík, Leiter des Eastern European Program, European Values Center for Security Policy, Prag.
Schweden
Vor der Erklärung der Europäischen Kommission am 17. Juni sagte die schwedische Außenministerin Ann Linde offen die Unterstützung der schwedischen Regierung für die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine zu. Gleichzeitig unterstrich sie die Erwartung, dass sich Verbesserungen in bestimmten Bereichen wie der Korruptionsbekämpfung oder der Medienfreiheit fortsetzen. Dies beendet eine Phase des Zögerns der schwedischen Regierung in der Angelegenheit, steht aber im Einklang mit der langjährigen Unterstützung Schwedens für den Reformprozess in der Ukraine. Schweden ist seit 2014 einer der größten bilateralen Geldgeber für die Kooperation bei der Reformdurchsetzung. Die Entscheidung spiegelt auch die Unterstützung Schwedens für eine Wiederaufnahme der EU-Erweiterung wider – unter der Voraussetzung, dass die Kandidatenländer, unter anderem im Westbalkan, erfolgreich Strukturreformen durchführen. Auch im schwedischen Parlament war die Angelegenheit unumstritten: Alle acht Parteien haben die Verleihung des Kandidatenstatus an Ukraine unterstützt.
Henrik Hallgren ist Verwaltungsdirektor am International Council of Swedish Industry.
Wir danken den Expertinnen und Experten für ihre Einschätzung.
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