Kümmert sich Kyjiw genug um die Krim?
Die kühle Reaktion der ukrainischen Staatsführung auf den Massenmord in einer Berufsschule auf der Krim vor einem Monat zeigt: Kiew hätte die Halbinsel als Territorium zwar gerne zurück, aber nicht unbedingt die Menschen. Dabei muss die Ukraine immer stärker aufpassen, dass sie den Kontakt zu den Krim-Bewohnern nicht komplett verliert.
21 Menschen, darunter sowohl Lehrer als auch Schüler, sind vor einem Monat am 17. Oktober in Kertsch, der östlichsten Großstadt der derzeit von Russland annektierten Krim-Halbinsel, an der Technischen Fachoberschule ermordet worden. Bis heute bleiben Zweifel, ob der 18-jährige Täter Wladislaw Rosljakow, der sich im Anschluss erschossen hat, allein handelte, obwohl die Ermittler derzeit fest davon ausgehen. Auch seine Motive sind immer noch nicht ganz geklärt, auch wenn gewisse Analogien zum Massenmord an der Columbine High School vor 19 Jahren in den USA, das zum Musterbeispiel für mehrere Taten solcher Art wurde, nicht zu übersehen waren.
Ukrainische Reaktion bleibt aus
Doch unabhängig davon, was den Chemie-Schüler Rosljakow dazu bewegte, ein Massenmord in seiner eigenen Schule zu veranstalten, war die kühle Reaktion aus der Ukraine auf die Tragödie von Kertsch – auch und vor allem von offizieller Seite – kaum zu übersehen. Der ukrainische Präsident Poroschenko äußerte zwar sein Beileid, jedoch explizit mit Ukrainern, die seine Kinder und Angehörige verloren haben. Und Außenminister Klimkin fragte sich auf Twitter, ob ein solcher Massenmord ohne die giftige Atmosphäre in Russland überhaupt möglich wäre. Und obwohl die Krim aus Kiewer und völkerrechtlicher Sicht unumstrittener Teil der Ukraine ist – was wiederum bedeutet, dass die Opfer auch ukrainische Staatsbürger sind – gab es auf staatlicher Ebene keine Diskussion über die Verkündung einer Trauer.
Ob diese aus ukrainischer Sicht notwendig gewesen wäre, sei dahin gestellt. Russischen Gesetzesvorschriften zufolge war die Tragödie von Kertsch opfermäßig zu klein für eine föderale Trauer, auf der Krim dauerte die regionale Trauer jedoch drei Tage. Dennoch ist die Reaktion Kiews sowie die der ukrainischen Zivilgesellschaft bezeichnend. Denn: Klar hätte Präsident Poroschenko bei der relativ geringer Anzahl der Binnenflüchtlinge von der Krim von einer richtigen Solidaritätserklärung mit den Angehörigen der Opfer von Kertsch politisch angesichts der Präsidentschaftswahl im nächsten Frühjahr nur wenig profitieren können. Doch nicht nur für Poroschenko persönlich, sondern und vor allem für den ukrainischen Staat geht es 4,5 Jahre nach der russischen Annexion der Schwarzmeerhalbinsel um etwas Wichtigeres und Anderes – nämlich darum, den Kontakt zur Krim soweit es geht zu halten, damit die Rückkehr der Region in die Ukraine überhaupt möglich bleibt.
Ungenutztes Potential
Zwar ließ die Begeisterung über die russische Annexion auf der Krim selbst stark nach. Die internationale Isolation unter anderem durch westliche Wirtschaftssanktionen ist vor allem für jüngere Menschen spürbar, viele Stellen im öffentlichen Dienst werden durch Menschen aus Kontinentalrussland besetzt, auch dominieren langsam russische Firmen den Lokalmarkt und treiben die Preise nach oben. Außerdem vermisst der ein oder andere bereits die deutlich größere Meinungsfreiheit, die zu „ukrainischen Zeiten“ – wie man es oft auf der Halbinsel formuliert – herrschte. Es gäbe also durchaus das Potenzial, zumindest einige von einstigen Befürwortern der Krim-Annexion auf die Seite der Ukraine zurückzugewinnen. Doch das Problem ist, dass die unausgesprochene Strategie Kiews nicht vorsieht, die „Hearts and Minds“ zurückzugewinnen.
Territorium wichtiger als Menschen?
Wenn Präsident Poroschenko in seinem Statement zu Kertsch lediglich Ukrainer erwähnt, ist es ein deutliches Zeichen für die Linie, die die ukrainische Staatsführung derzeit fährt. Und sie lautet: Kiew hätte die Krim gerne als Territorium zurück – auch wenn eine Rückkehr der Region jetzt und heute unwahrscheinlich erscheint – aber nicht unbedingt die Menschen. Dies wiederum könnte damit zu tun haben, dass die Wählerinnen und Wähler von der Krim wohl nicht in ihrer Mehrheit für die sogenannten Pro-Maidan-Kräfte abstimmen würden, die heute an der Macht sind. Auf der Halbinsel leben etwa anderthalb Millionen Wahlberechtigte, die tatsächlich gewissen Einfluss auf die Wahlen haben könnten. Kiew sendete bereits Ende 2015 ein fatales Signal an die Krim-Bevölkerung, als es Aktivisten der krimtatarischen Volksversammlung Medschlis zusammen mit einigen Nationalistischen erlaubte, die Strommasten an der Krim-Grenze zu sprengen. In Folge dieser Aktion musste die Halbinsel mehrere Monate mit einer Stromkrise kämpfen.
Die damalige Stromblockade erwies sich gleich aus zwei Gründen als strategisch unklug. Einerseits stellte die Ukraine Russland von der Notwendigkeit, die Krim so schnell wie möglich vom ukrainischen Strom unabhängig zu machen. Moskau hat innerhalb eines halben Jahres ein Unterseekabel unter der Straße von Kertsch verlegt, das das Stromproblem größtenteils löste. Dadurch ist Kiew eine der letzten Druckmittel auf Russland bezüglich der Krim verloren gegangen. Doch viel wichtiger ist: Es wäre naiv zu glauben, die Menschen auf der Halbinsel würden es gut finden, wenn das aus Kiewer Sicht eigene Land denen den Strom abschaltet. Selbst unter den Krimtataren, die der ukrainische Staat versucht, immer rhetorisch zu unterstützen, sorgte die Blockade für gespaltene Meinungen. Bei weitem nicht alle, für die Medschlis früher eine unumstrittene Institution war, unterstützten den Schritt, was zur öffentlichen Kritik von mehreren renommierten Personen wie zum Beispiel der Journalistin und Schriftstellerin Lilja Budschurowa, einer moralischen Autorität in der krimtatarischen Szene, führte.
Kritische Krim-Bewohner vermissen Zugehörigkeitsgefühl
Deswegen ist es nicht besonders überraschend, dass man auf der Krim schon längst das Gefühl kriegt: Auch die Menschen, die früher die Ukraine unterstützten und sicher immer noch keine Freunde der russischen Annexion sind, haben sich zum Teil Kiew abgewandt und schauen nicht mehr Richtung ukrainisches Festland. Es ist eine katastrophale Entwicklung, die auch durch Dinge wie die Kiewer Reaktion auf den Massenmord in Kertsch stark befördert wird. Denn: Was diese Menschen vor allem bräuchten, wäre das Gefühl der Zugehörigkeit. Wenige glauben tatsächlich daran, dass die Krim bald wieder der Ukraine übergeben wird. Doch sie würden eben gerne spüren, dass man sie nicht vergessen hat. Derzeit erinnert sich Kiew allerdings meist nur an den Teil der Krimtataren, die voll die Linie der ukrainischen Regierung unterstützen und schon lange die Halbinsel verlassen haben.
Kampf um Schulabsolventen und Vermarktung der Visafreiheit als notwendige Schritte
Dabei muss Kiew derzeit mehr denn je aufpassen, dass die Verbindung mit den Menschen auf der Krim nicht verloren geht. Die Schulabsolventen von diesem Jahr haben zum Beispiel bereits einige Jahre im russischen Schulsystem verbracht und verlieren langsam die Erinnerungen an die ukrainische Schule. Es wäre von daher extrem wichtig, sie davon zu überzeugen, das Studium nicht in Russland, sondern in der Ukraine fortzusetzen; sonst könnte Kiew möglicherweise ganze Generationen verlieren. Zwar gibt es auch jetzt Programme und Quoten, die es Krim-Bewohner ermöglichen, ohne dem ukrainischen Schulabschluss an den Universitäten zu studieren – und doch sind sie zum einen kompliziert, zum anderen wird für sie bei weitem nicht entsprechend ihrer Bedeutung geworben.
Was die Ukraine außerdem deutlich besser hätte vermarkten können, ist das Thema Visafreiheit mit dem Schengen-Raum. Viele Krim-Bewohner fahren derzeit in das Grenzgebiet Cherson, um dort den biometrischen Reisepass zu beantragen, der visafreies Reisen unter anderem nach Deutschland ermöglicht. In der Ukraine wird diese Entwicklung aber eher mit Skepsis wahrgenommen: Nach dem Motto, erst haben sie die Annexion der Krim begrüßt, nun fahren sie zu uns, um mit unseren Pässen in die EU zu reisen. Anstatt das zu kritisieren, sollte der ukrainische Staat die Krim-Bewohner selbst aktiv einzuladen, den biometrischen Pass zu bekommen. Dadurch würden die Bewohner weiter an die Ukraine gebunden. Georgien Vorgehen mit Abchasien kann hier als Beispiel dienen.
Nicht jeder wird – auch wegen der massiven Propaganda in russischen Medien – zum Ukraine-Fan, doch es wäre der deutlich effektivere Weg, um mittel- und langfristig Sympathien zurückzugewinnen. Solche Schritte würden es nicht mal eine minimale Garantie dafür geben, dass die Rückkehr der Krim in die Ukraine in absehbarer Zeit möglich sein wird. Und dennoch: Wenn Kiew an jeder möglichen Stelle erwähnt, dass die Krim ein Teil der Ukraine ist, sollte es auch um seine Bewohner bemühen.
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