Kriegsrecht in der Ukraine: Der große Game Changer?
Für einen durchschnittlichen Ukrainer hat sich durch die Ausrufung des Kriegsrechts in zehn Regionen wenig verändert. Doch trotzdem ändert der erste Kriegszustand in der Geschichte des Landes einiges – angefangen bei der Absage der Kommunalwahlen in betroffenen Regierungsbezirken. Für die ukrainische Politik ist sogar eine völlig neue Ausgangslage entstanden. Zugunsten von Präsident Poroschenko?
„Anfang der Woche herrschte hier richtige Panik. Ältere Menschen rennten in Supermärkten gegeneinander, die Nachfrage war viel größer als sonst“, erzählt Andrij, ein Bewohner der Stadt Charkiw, das zu zehn ukrainischen Regionen gehört, in denen ab dieser Woche und bis Ende Dezember das Kriegsrecht gilt. Doch nicht nur die Menschen in betroffenen Regionen, sondern auch in der Hauptstadt Kiew fühlten sich beunruhigt – sogar bei den Behörden herrschte vorerst Verunsicherung und Chaos. So wusste zum Beispiel lange niemand, wann der Kriegszustand denn wirklich in Kraft tritt. Letztlich haben der Parlamentsvorsitzender Parubij und Präsident Poroschenko das entsprechende Gesetz erst früh am Mittwoch, den 28. November, unterschrieben, doch das Kriegsrecht soll früher angefangen haben. Laut veröffentlichen Gesetzestext dauert es vom 26. November bis zum 26. Dezember 2018.
„Für ukrainische Staatsbürger wird es keine Einschränkungen geben“, versprach Petro Poroschenko via Twitter. Das vom ukrainischen Parlament nach einer hitzigen Debatte verabschiedete Kriegsrechtsgesetz behält sich die Möglichkeit der Einschränkung der Bürgerfreiheiten trotz großer öffentlicher Kritik zwar explizit vor, dies soll laut Poroschenko allerdings nur im Falle der Ausweitung der russischen Annexion erfolgen. Stimmt das in der Praxis wirklich?
„Die Menschen wirken angespannt, aber sonst läuft es meinst genauso wie bisher“, meint Andrij. Die 22-jährige Studentin Wiktorija aus Winnyzja, ebenfalls vom Kriegsrecht betroffen, erlebt Ähnliches wie in Charkiw: „Nun gibt es nun improvisierte Checkpoints, außerdem ist die verstärkte Präsenz der Polizei sowie der Nationalgarde spürbar. Man merkt, dass vor allem Waffengeschäfte aufmerksam bewacht werden. Sonst bleibt alles bei Altem, ohne Sperrstunden und Veranstaltungsverbote.“
Kommunalwahl im Kriegsrechtsgebiet vorerst abgesagt
Auch organisatorisch sind Veränderungen in betroffenen Regierungsbezirken noch nicht zu spüren. Denn Kiew sieht derzeit noch keine Gründe, die durch das Kriegsrecht vorgeschriebenen militärisch-zivilistischen Bezirksverwaltungen einzuführen – außer in den von der Ukraine kontrollierten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk, wo diese ohnehin seit 2015 existieren. Während der emotional geführten Parlamentsdebatte ringen die Parlamentarier mit dem Vorschlag des Präsidenten das Kriegsrecht für zwei Monate zu verhängen. Letztendlich wurde mit der örtlichen Begrenzung und der einmonatigen Dauer ein Kompromiss errungen. Noch während der fast sechsstündigen Debatte fürchteten viele Parlamentarier sowie zahlreiche Beobachter, dass der offiziell am 31. Dezember 2018 beginnende Präsidentschaftswahlkampf betroffen sein könnte. Jetzt zeigte sich jedoch, dass das Kriegsrecht tatsächlich die Austragung der Wahlen betrifft, auch wenn es vorerst nur für eine für den 23. Dezember angelegte Reihe der Kommunalwahlen geht.
Diese wurden in den zehn Kriegsrechtsregionen, wo insgesamt in 45 Gemeinden gewählt werden sollte, am von der Zentralwahlkommission mit dem Hinweis auf den Kriegszustand abgesagt. Überraschend ist das an sich nicht, schließlich dürfen die Wahlen laut Gesetz während der Einsetzung des Kriegsrechts nicht durchgeführt werden. Weil dieses bisher nur sehr selektiv eingesetzt wird, ist dies eine wichtige Bestätigung dafür, dass die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen im Falle der Verlängerung des Kriegsrechts eine reale Gefahr darstellt. Aber auch die vorläufige Absage der Kommunalwahlen gehört angesichts der laufenden Dezentralisierungsreform für die betroffenen Regionen zu den mit Abstand wichtigsten Folgen des Kriegszustandes – auf jeden Fall wirkt dies entscheidender als zum Beispiel das Verbot, die Bewegungen der ukrainischen Streitkräfte sowie deren Militärtechnik zu filmen. Die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen im Falle einer Verlängerung des Kriegsrechts könnte wiederum für die ukrainische Demokratie eine Gefahr darstellen.
Wie wirkt denn die Ausrufung des Kriegsrechts konkret auf den nun besonders geforderte Militärbereich aus? Laut Petro Poroschenko ist der Kriegszustand als reine Verteidigungsmaßnahme zu verstehen, was auch klar ist, denn militärisch kann die Ukraine mit oder ohne Kriegsrecht Russland nur wenig entgegensetzen – was Poroschenko selbst indirekt ansprach. Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin meinte seinerseits, der Kriegszustand solle es der Armee erlauben, das Land besser zu verteidigen. Doch wie soll das gehen, während eine weitere Mobilmachung zunächst ausbleibt? „Die konkreten Maßnahmen sollen geheim bleiben“, sagt Mychajlo Samus vom Zentrum der Armeeforschung gegenüber der Tageszeitung Segodnja. „Die Reserve der ersten Reihe wird auf jeden Fall geprüft, das Gleiche gilt für die Mobilisierungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte. Natürlich ist dieser Kriegszustand zum Teil eine Übung, um die notwendigen Schritte für den Ernstfall zu lernen. Deswegen ist er auch komplett an der Zeit.“
Nicht alle Experten sind mit dieser Einschätzung einverstanden. Es gebe nichts, was man auch ohne Kriegsrecht nicht verbessert hätte können, so die Kritiker der Entscheidung wie zum Beispiel Militärexperte Oleh Starikow. Daher sei die Verhängung des Kriegszustandes unnötig gewesen.
Einreiseverbote für russische Staatsbürger
Währenddessen diskutiert man in der Ukraine aktiv über eine andere Maßnahme: Bereits Anfang der Woche kündigte Poroschenko an, es werde Einreiseeinschränkungen für Russen für die Dauer des Kriegsrechts geben. Ab Freitag ist nun klar: Damit sind in erster Linie Einreiseverbote für russische Männer im Alter zwischen 16 und 60 Jahre gemeint. Zwar werde nach Angaben des ukrainischen Grenzschutz jeder Einzelfall konkret geprüft, grundsätzlich dürfen aber nur die Russen aus diesem Bereich einreisen, die eine Aufenthaltsgenehmigung haben oder als Diplomaten unterwegs sind. Eine Beerdigung oder eine schwere Krankheit von Verwandten soll ebenfalls als akzeptabler Einreisegrund gelten, ebenfalls sollen LKW-Fahrer unterwegs auf internationalen Routen die Möglichkeit behalten, die die Ukraine zu durchqueren.
Mit dieser Entscheidung will Kiew, laut Poroschenko, vor allem der Aufbau der russischen Privatarmeen verhindern. Bemerkenswert ist dabei, dass russische Staatsbürger theoretisch bereits seit Anfang des Jahres ihre Reisen in die Ukraine über das Internet voranmelden sollen. Das entsprechende System wurde bis heute jedoch nicht entwickelt. Zusammen mit der Sammlung der Fingerabdrücke der Einreisenden, die ab dem 1. Januar in der Tat erfolgte, galt das eine Art Alternative zur vom patriotischem Flügel der ukrainischen Politik geforderten Einführung einer generellen Visapflicht für Russen. Mit dieser umfassenden Option hadert allerdings vor allem das ukrainische Außenministerium, weil mehrere Millionen Ukrainer, etwa drei Angaben des ukrainischen Außenministers Klimkin zufolge, im Nachbarland leben und arbeiten. Moskau kündigte bereits vor eine Weil an, im Falle der Einführung einer mit der gleichen Maßnahme gegen Ukrainer zu antworten. Auf das derzeitige Einreiseverbot will Russland aber vorerst nicht reagieren.
Wechsel der politischen Agenda
Noch vor zwei Wochen war es eher unwahrscheinlich, dass die aktuelle politische Agenda in der Ukraine von all diesen Fragen dominiert würde. Dass die Lage sich nun so gedreht hat, sollte durchaus im Sinne des Präsidenten Poroschenko sein. Die Armee, sein wichtigstes Wahlkampfthema, wird mittlerweile überall diskutiert – und es ist gut möglich, dass die Vereinigung einer gemeinsamen und von Konstantinopel anerkannten Ukrainisch-orthodoxen Kirche noch vor dem Jahresende erfolgt. Poroschenko sieht man also derzeit überall. Gleichzeitig versucht der in Umfragen weit zurückliegende ukrainische Präsident mit aller Kraft während des Kriegsrechts die Rolle eines äußerst seriösen Staatsanführers einzunehmen. Die favorisierte Julia Timoschenko sowie andere Kandidaten sind derzeit dagegen nicht mehr zu hören. Es ist aber noch viel zu früh, um zu sagen, ob Poroschenko wirklich politisches Kapital aus dieser angespannten Lage ziehen kann. Es bleibt beispielsweise unklar, ob es dem Präsidenten in diesem Monat des Kriegsrechts gelingt, verloren gegangene Sympathien der Wähler zurückzugewinnen. Die politische Agenda jedenfalls hat sich zugunsten des amtierenden Präsidenten verändert. Aktuell reden wenige über die andauernden Reformen, wie die Besetzung des wichtigen Antikorruptionsgerichts. Es ist also vollkommen offen, ob sich das Ganze zu einem politischen Erfolg oder zu einer spektakulären Niederlage des Präsidenten entwickelt. Sicher ist nur, dass nun ein völlig anderes Spiel gespielt wird.
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