Warum wir ein anderes Holocaustgedenken für die Ukraine benötigen
Juden vor ihrer Hinrichtung durch die Deutschen bei Zdolbuniv
Am 27. Januar wird weltweit am Tag der Befreiung von Auschwitz den Opfern des Holocausts gedacht. Dieses Gedenken wird aber den Opfern in Osteuropa, die nicht in einem Konzentrationslager ermordet wurden, wenig gerecht. Denn eine große Zahl an Menschen fiel der verschleierten Gewalt zum Opfer. Ein Kommentar von Nikolai Klimeniouk
Es gibt viele Gründe dafür, warum das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zum wichtigsten Symbol des Holocaust wurde. Mit seinen Eisenbahnrampen, Gaskammern und Krematorien, mit den Bergen von Goldzähnen, Haaren und gut sortierten persönlichen Gegenständen der Opfer, mit den Säcken voller menschlicher Asche, mit den unvorstellbar grausamen medizinischen Experimenten von Josef Mengele – damit steht Auschwitz für die planmäßige, industriell geführte Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen, für den Massenmord mit minimalen Kosten und maximaler Effizienz. Diese Art zu Morden war umso schockierender, weil sie als etwas vollkommen Neues, nie Dagewesenes wirkte, als eine vollkommene Entgleisung der Menschheit.
Genozid durch Kugeln
Doch die Shoah verlief auch ganz anders, besonders auf dem Gebiet der damaligen UdSSR und teilweise in Polen, Ungarn und Rumänien – vor allem in den Gebieten, die die UdSSR nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939–1940 besetzt hatte. Dort wurde ein Großteil der europäischen Jüdinnen und Juden ermordet, fast eine Million von ihnen noch vor der Wannseekonferenz im Januar 1942. Wie viele genau es aber waren, ist bis heute nicht bekannt, die sowjetischen Opferstatistiken sind notorisch inakkurat. Schätzungen zufolge befanden sich auf den besetzten Gebieten der UdSSR bis zu fünf Millionen jüdische Menschen, sowohl sowjetische Bürger und Bürgerinnen, als auch geflüchtete und deportierte jüdische Bürger Polens und Ungarns; etwa die Hälfte von ihnen könnte den Krieg nicht überlebt haben. Die Sowjetunion hatte keine separate Statistik der jüdischen Opfer, es wurde immer nur von „Sowjetbürgern“ gesprochen. Die Besatzer haben die Statistiken zudem nicht immer exakt geführt.
Anders als in West- und Mitteleuropa folgte die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der UdSSR keinem Plan, die Kosten- und Effizienzüberlegungen spielten anfangs überhaupt keine Rolle. In der westukrainischen Kleinstadt Kamjanez-Podilskyj haben die deutschen Besatzer Ende August 1941 23.600 Juden erschossen, meistens mit Genickschuss. Diese Zahl nennt in seinen Berichten der SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, der als ranghöchster Polizeioffizier den Massenmord vor Ort organisierte. Das sogenannte Massaker von Kamenez-Podolsk gilt als die erste große Vernichtungsaktion des Holocaust. Einen Monat später wurden in der Schlucht Babyn Jar in Kyjiw fast 34.000 Juden an nur zwei Tagen erschossen. In Odesa haben die rumänischen Truppen weniger als eine Woche nach der Besatzung der Stadt circa 25.000 Juden bei lebendigem Leib in ehemaligen Munitionsdepots der Roten Armee verbrannt. Die letzten beiden Hinrichtungsstätten befanden sich im Stadtgebiet, die jüdischen Bürger und Bürgerinnen wurden vor den Augen ihrer Nachbarn ermordet.
Die Überlegung, das Morden zu verbergen, spielte anfangs überhaupt keine Rolle, daher auch die präzisen Zahlen. In den vielen kleinen Ghettos, wie in der damaligen rumänischen Provinz Transnistrien, ließ man die die jüdische Bevölkerung einfach verhungern. Allein auf den Gebieten der heutigen Ukraine befinden sich etwa 2000 Massengräber mit 500 bis zu 2000 Leichen, die allermeisten davon verwahrlost. Es werden bis heute immer wieder neue Gräber, die meistens auch Erschießungsstätten waren, entdeckt. Außer Juden wurden dort oft auch Roma, sowjetische Kriegsgefangene oder Patienten psychiatrischer Anstalten ermordet, was die statistische Erfassung einzelner Opfergruppen zusätzlich erschwert.
Der Holocaust bestand nicht nur aus industriell organisierter Massenvernichtung
Die sowjetische Geschichtsschreibung lenkte nicht nur von der gezielten Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ab, sondern spielte auch die Beteiligung der Zivilbevölkerung und der Armeen der späteren Satellitenstaaten der UdSSR bei diesen Verbrechen herunter. Es gab kaum Gedenkstätten für die jüdischen Opfer, die nichtdeutschen Täter wurden nach Möglichkeit gar nicht erwähnt. Diese Geschichtsklitterung grenzte fast schon an Holocaustleugnung und hallt bis heute nach. In der allgemeinen Wahrnehmung der Deutschen, nicht zuletzt vermittelt durch den Geschichtsunterricht, ist der Holocaust vor allem industriell organisierte und durchgeführte Massenvernichtung, der Haupttäter der nationalsozialistische Staat. Diese Optik lässt nicht so deutlich erkennen, welche Rolle bei der Shoah der Antisemitismus der Bevölkerung in fast allen europäischen Ländern spielte, der pure antisemitistische Hass oder einfach nur die lange zuvor verbreiteten Vorurteile, die die Nazis nur noch befeuerten.
Laut der im Jahr 2018 veröffentlichten Leipziger Autoritarismus-Studie stimmen über 30 Prozent der Deutschen voll oder teilweise der Behauptung zu, auch heute noch sei der Einfluss der Juden viel zu groß, 29 Prozent der Befragten fanden, die jüdischen Menschen arbeiteten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks um zu das erreichen, was sie wollen. Die Massenverbreitung solcher Vorurteile trug zur Krise des europäischen Judentums nicht weniger bei als die Vernichtungspolitik der NS-Führung.
Die Deutungshoheit über Opfer und Täter
Die heutige russische Geschichtspolitik neigt hingegen dazu, die Kollaboration der ukrainischen oder polnischen Bevölkerung an den Nazi-Verbrechen über jedes Maß hinaus hervorzuheben. Die Ukraine und Polen werden bis in liberale Kreise hinein weniger als Opfer, sondern mehr als Mittäter der deutschen Nazi-Verbrechen dargestellt. Sehr symptomatisch dafür war die Empörungskampagne, die der Kreml am Vorabend des Jahrestages der Auschwitz-Befreiung 2015 inszenierte. Polen, behauptete man im Kreml, habe den russischen Präsidenten Wladimir Putin aus purer „Russophobie“ nicht eingeladen, dabei sei Russland doch der rechtmäßige Repräsentant der Sowjetunion, die Auschwitz befreit habe. Diese Behauptung enthielt gleich mehrere Unwahrheiten: Die Gedenkfeier war kein Staatsakt; der Veranstalter, die Gedenkstätte Auschwitz, verschickte keine Einladungen zur Teilnahme, sondern nahm Anmeldungen an, auch von Staatschefs.
Die Sowjetunion hat zwar in der Tat Auschwitz befreit, doch war die Befreiung nicht wirklich geplant. Der Kommandant der Einheit, die als erste zum KZ vorgestoßen war, Major Anatolij Schapiro, wusste seinen späteren Erinnerungen zufolge nicht einmal von der Existenz des Lagers: Auf den sowjetischen Karten war an jener Stelle nur Wald eingezeichnet. Die Person des Kommandanten sorgte ebenfalls für wilde Spekulationen. Der jüdische Offizier wurde in der Ukraine geboren und verbrachte dort fast sein ganzes Leben, bis er 1992 in die USA auswanderte. Die Ukraine war bei der Gedenkfeier vertreten. In der Ukraine wird Schapiro als Held gefeiert, so zeichnete ihn der damalige Präsident Wiktor Juschtschenko 2006 posthum mit dem höchsten Orden des Landes aus. In Russland unterstellte man der Ukraine, sie wolle die Leistung der gesamten UdSSR für sich reklamieren und so von den Verbrechen der ukrainischen Nationalisten (im russischen offiziellen Sprachgebrauch „Bandera-Faschisten“) ablenken. Auch war aus Russland zu vernehmen, der Staat Polen habe das KZ Auschwitz gebaut und erniedrige nun Russland durch die Nichteinladung des Staatsoberhauptes.
In den nachfolgenden Jahren wurde diese Rhetorik noch intensiviert. Ganz in diesem Sinne klangen auch die beiden Reden Wladimir Putins, die er am 23. Januar 2020 in Jerusalem gehalten hat, eine bei der Gedenkfeier in Yad Vashem und die andere bei der Eröffnung der Gedenkstätte für die Opfer der Leningrad-Blockade: Die Kollaborateure aus der Ukraine, Polen, Litauen und Lettland seien noch schlimmer, noch grausamer gewesen als ihre „deutschen Herren“, und die wiederum hätten das gleiche Schicksal, die Vernichtung, für die Russen und andere slawische Völker geplant.
Diese Auseinandersetzungen machen deutlich, dass der Zweite Weltkrieg offenbar kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte ist. Seine Schrecken werden heute immer öfter für aktuelle politische Zwecke instrumentalisiert. Wenn wir der Opfer des Holocaust gedenken, dürfen wir auch jene von ihnen nicht aus den Augen verlieren, die in Osteuropa unverschleierter Gewalt zum Opfer fielen. Es waren Menschen und nicht der seelen- und gesichtslose Staat, die ihre jüdischen Mitmenschen ermordeten. Der Antisemitismus der Europäer war für die Shoah ebenso verantwortlich wie die Politik der Nazis. Und dieser europäische Antisemitismus ist alles andere als tot.
Dieser Text ist im Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ im November 2020 erschienen, welcher durch das Lysiak-Rudnytsky Ukrainian Studies Programme des Ukrainian Institute gefördert wurde. Für den Sammelband wurde der bereits 2019 bei uns publizierte Text aktualisiert.
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