Ukraine unter Strom
Die russische Invasion hat weitgehende Folgen für den ukrainischen Energiesektor. Doch neben großen Herausforderungen bieten sich auch neue Chancen. Von Ruslan Kermach
Einige Tage vor dem offiziellen Einmarsch der russischen Armee bekam das ukrainische Energiesystem bereits einen ersten Schlag ab. Am 22. Februar 2022 geriet das Luhansker Kraftwerk, das sich in der Stadt Schtschastja in unmittelbarer Nähe der Demarkationslinie befindet, unter massiven Beschuss durch Kämpfer der selbsternannten “Volksrepublik Luhansk“ befand. Aufgrund der entstandenen Schäden stellte das Kraftwerk seinen Betrieb ein. Mit der Besetzung der Stadt Schtschastja ging die Kontrolle über das Kraftwerk vollständig verloren.
Kurz nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine folgten systematische Angriffe der russischen Besatzungstruppen auf eine Reihe weiterer Kraftwerke und Energieinfrastruktureinrichtungen. Infolge des umfassenden Vormarschs der russischen Truppen im Süden der Ukraine wurden ein Wasserkraftwerk und ein Kernkraftwerk in der Stadt Enerhodar besetzt. Der nächtliche Beschuss des Kernkraftwerks, das mit sechs Blöcken eines der größten in Europa ist, führte zu einem Brand. Eine von Menschen verursachten nuklearen Katastrophe drohte.
Außerdem wurde eine Eisenbahnbrücke in Wasyliwka unweit von Enerhodar gesprengt. Über sie wurde das große Kernkraftwerk Saporischschja mit Kohle versorgt. Die Versuche der russischen Besatzungstruppen, von Enerhodar aus weiter nach Westen in Richtung Krywyj Rih vorzudringen, stellen eine Bedrohung für das Wärmekraftwerk in der Stadt Selenodolsk dar.
Systematischer Beschuss
Nach Angaben des ukrainischen Energieministeriums wurde auch versucht, das Kernkraftwerk Trypillija in der Region Kyjiw zu beschießen. Granaten trafen auch das örtliche Kernkraftwerk Tschernihiw. Anfang März wurde ein Kraftwerk in der Region Sumy durch den Beschuss der russischen Luftwaffe vollständig zerstört, sodass ein Teil der Stadt Ochtyrka von Strom, Wärme und Wasser abgeschnitten ist.
Energieinfrastruktur wie Hochspannungsnetze, Transformatoren und Umspannwerke wurden seit den ersten Tagen des Kriegs systematisch beschossen und zerstört. Die Stromnetze entlang der Hauptvorstoßrichtungen der russischen Besatzungstruppen – in den Regionen Kyjiw, Tschernihiw, Sumy und Charkiw im Norden und Nordosten der Ukraine sowie im Süden und in der Region Donbas – wurden als erste beschädigt.
Dank des heldenhaften Einsatzes der Wartungsmannschaften konnten nach Angaben von Ukrenergo die Anlagen in sieben Umspannwerken und elf Hochspannungsleitungen wiederhergestellt werden, sodass die Stromversorgung von rund 2 Millionen Verbrauchern wieder gewährleistet werden konnte. Ein erheblicher Teil der ukrainischen Bevölkerung (etwa 760.000 Verbraucher) lebt jedoch nach wie vor ohne Stromanschluss.
Erneuerbare Energien getroffen
Auch der Sektor der erneuerbaren Energien, der sich bis vor Kurzem in der Ukraine recht dynamisch entwickelte und Mitte des Jahres 2021 eine Kapazität von etwa 15 Prozent des gesamten Energiesystems der Ukraine ausmachte, stand vor ernsten Herausforderungen.
Einigen Schätzungen zufolge waren infolge des russischen Einmarsches in der Ukraine etwa 30 bis 40 Prozent der industriellen Solaranlagen betroffen. Gleichzeitig wurden nach Angaben des ukrainischen Windenergieverbands mehr als Zweidrittel aller Windparks, die sich hauptsächlich in den südlichen Regionen Saporischschja, Mykolajiw und Cherson befinden, stillgelegt. Das brachte die Betreiber an den Rand des Bankrotts. Ein großer Teil dieser Gebiete wird von russischen Besatzungstruppen kontrolliert.
Der Gesamtverlust, den der ukrainische Energiesektor durch den Krieg erlitten hat, wird auf mehrere Milliarden Dollar geschätzt. Schon Ende März vermutete der ukrainische Minister für Energie, dass die Einbußen mehr als zwei Milliarden Dollar betrugen.
Chancen und Zukunft
Trotz aller Herausforderungen und Verluste, die der ukrainische Energiesektor aufgrund des Kriegs bereits hinnehmen musste und weiterhin hinnehmen muss, scheint die Zukunft nicht so düster zu sein. Es gibt zumindest einige Gründe, in dieser Hinsicht vorsichtig optimistisch zu sein.
Dem ukrainischen Energiesystem ist es gelungen, unter den Kriegsbedingungen und trotz des Verlusts eines Teils seiner Erzeugungskapazitäten ein Gleichgewicht zwischen Stromerzeugung und ‑verbrauch aufrechtzuerhalten. Die zurzeit ausreichenden Kohlereserven in den Lagern der Kraftwerke, der kriegsbedingte Rückgang der Industrie sowie das Ende der Herbst-Winter-Periode mit erhöhtem Energieverbrauch werden in absehbarer Zukunft weiter zur Stabilität des ukrainischen Energiesystems beitragen.
Zweitens: Da eine Reihe von Stromerzeugungsanlagen, die sich nun in den besetzten Gebieten der Ukraine befinden, nicht schwer beschädigt oder zerstört wurden (wie zum Beispiel das Kernkraftwerk Luhanska oder die Windparks in der Südukraine), sondern nur stillgelegt wurden, besteht die Aussicht, dass sie im Zuge der Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität über die betreffenden Gebiete wieder unter die Kontrolle der Ukraine und der ukrainischen Unternehmenseigentümer zurückkehren können.
Drittens hat die Energiegemeinschaft kürzlich den rechtlichen Rahmen für den “Ukraine Energy Support Fund” geschaffen, der dem ukrainischen Energiesektor mit finanziellen Soforthilfen beistehen soll. Zu den Geldgebern werden voraussichtlich EU-Mitgliedstaaten sowie internationale Finanzinstitutionen und Unternehmen gehören. Das ukrainische Energieministerium erklärte, dass die gesammelten Mittel „für die Wiederherstellung der Energieinfrastruktur verwendet werden, die infolge der Feindseligkeiten auf dem Territorium der Ukraine beschädigt oder zerstört wurde.“
Anschluss ans ENTSO-E-Netz
Nicht zuletzt hat der Krieg in der Ukraine auch einen wichtigen Prozess der Integration der Ukraine in den europäischen Energieraum in Gang gesetzt. Im Februar 2022 musste sich das Vereinigte Energiesystem (UES) der Ukraine einem dreitägigen Test unterziehen, bei dem es vollständig vom gemeinsamen Energiesystem mit Russland und Belarus abgekoppelt wurde. Der entsprechende Test war eine der Voraussetzungen für die Vorbereitung des ukrainischen Energiesystems auf die Synchronisierung mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz ENTSO‑E, die bis 2023 abgeschlossen sein sollte.
Die umfassende Aggression Russlands gegen die Ukraine, die nur wenige Stunden nach Beginn des Tests startete, machte es jedoch praktisch unmöglich, nach Abschluss der Testphase zum gemeinsamen Stromnetz mit dem Aggressorstaat zurückzukehren. Diese außergewöhnliche Situation, die durch die mit dem Ausbruch des Krieges verbundenen Herausforderungen für den ukrainischen Energiesektor noch verschärft wurde, trug dazu bei, dass die Integration des ukrainischen Energiesystems in das ENTSO-E-Netz vorzeitig erfolgte. So wurde bereits am 16. März 2022 der physische Anschluss der synchronisierten Stromsysteme der Ukraine und der Republik Moldau an das kontinentaleuropäische Netzwerk vollzogen.
Die Bedeutung der Integration in das ENTSO-E-Netz kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, da sie eine entscheidende Etappe bei der Vollendung des langwierigen postsowjetischen Transits der Ukraine im Energiesektor darstellt. Von nun an kann das ukrainische Energiesystem Notstromlieferungen aus einem großen europäischen Verbund von EU-Ländern erhalten, der über große Reservekapazitäten verfügt und in vielerlei Hinsicht zuverlässiger ist als Notstromlieferungen aus dem gemeinsamen Stromnetz mit Russland und Belarus. Bekanntlich ist die Frage der Stromlieferungen aus den letztgenannten Ländern häufig Gegenstand von Spekulationen und Energieerpressung durch Russland und gleichzeitig ein Faktor, der in der Ukraine immer wieder zu innenpolitischen Spannungen geführt hat.
In Zukunft eröffnet ENTSO‑E der Ukraine auch die Möglichkeit, vollwertige kommerzielle Export-Import-Geschäfte in die EU-Länder durchzuführen, was für die Bereitstellung zusätzlicher Liquidität für den kriegsgeschädigten ukrainischen Energiesektor wichtig ist.
Die ukrainische Energiewirtschaft besteht also den derzeitigen Kriegstest mit Bravour und hat wahrscheinlich alle Chancen, diese Herausforderung nicht nur zu überstehen, sondern sogar gestärkt und stabiler aus ihnen hervorzugehen, wenn es ihr gelingt, das Potenzial der sich ihr jetzt bietenden Möglichkeiten voll auszuschöpfen.
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