Warum das neue Sprachengesetz eine gute Sache ist
Das neue Sprachengesetz ist ein Meilenstein für die Förderung der ukrainischen Sprache und die Überwindung des postkoloniales Erbes des Landes. Von Wolodymyr Jermolenko
Meine älteste Tochter besucht eine Schule in Brovary, einer am Rande Kyjiws gelegenen Stadt. Die dortige Unterrichtssprache ist Ukrainisch, wobei meine Tochter eines von drei oder vier Kindern in ihrer Klasse ist, in deren Familien ukrainisch gesprochen wird. In einem Online-Elternforum bin ich einer der wenigen, die ihre Nachrichten auf Ukrainisch verfassen. Die übrigen etwa 90 Prozent schreiben hauptsächlich russisch.
In meiner Wohngegend ist das Russische außerdem die Lingua franca für Privatgespräche zwischen Kindern. Im Unterricht sprechen sie ukrainisch – die offizielle Schulsprache –, untereinander aber russisch. Spricht meine Tochter ein gleichaltriges Kind an, tut sie dies meist auf Russisch: Sie glaubt vielleicht, Russisch wäre die Kindersprache. Die Tochter eines meiner ukrainischsprachigen Freunde geht in Kyjiw zur Schule, wo sie in ihrer Klasse das einzige ukrainischsprachige Kind ist.
Diese Situation ist typisch für Kyjiw, seine Vororte und viele andere große Städte, vor allem im Osten und Süden der Ukraine. Fünf Jahre nach dem Euromaidan – in der russischen Propaganda ein „faschistischer“ Aufstand, der unter anderem die russische Sprache „verbannen“ sollte – zeigt sich auf ironische Weise, dass das Russische in der Ukraine nach wie vor die dominierende Sprache ist. Und daran lässt sich nicht so leicht rütteln.
Kyjiw ist die Hauptstadt der Ukraine und die dortige Stimmung entscheidet häufig über die Entwicklung des Landes. Zwei Revolutionen der jüngeren Zeit (die Orangene Revolution und der Euromaidan) waren beide motiviert durch einen Mix aus liberalen und patriotischen Gefühlen. In diesem Sinne ist Kyjiw ein paradoxer Ort: Das Russische ist hier nach wie vor dominant, gleichzeitig ist die Stadt der oppositionelle Motor gegen russische Expansionsbestrebungen. Das lässt auch die Ukraine insgesamt als so paradox erscheinen, wie sie ist: Es gibt hier russischsprachige ukrainische Patrioten (oder gar Nationalisten) sowie zahlreiche russischsprachige Menschen, die sich aktiv am Maidan-Aufstand beteiligt haben und später als Freiwillige zur Armee gingen. Russischsprachige Ukrainer haben also viel getan, um die Unabhängigkeit der Ukraine zu vereidigen.
Diese Dominanz der russischen Sprache in einem Land, das gegen die russische Aggression kämpft und von einer ganz anderen – pluralistischeren und demokratischeren – politischen Kultur geprägt ist, ist ein postkoloniales Erbe. Das Russische Reich versuchte systematisch, die ukrainische Sprache auszulöschen, und es hat ihre Verwendung im öffentlichen Leben verboten. 1863 verfasste der russische Innenminister ein Schreiben, das den öffentlichen Gebrauch des Ukrainischen auf „belles lettres“ – also belletristische Literatur – beschränkte und die Sprache damit aus Schulen und Hochschulen sowie der religiösen Praxis verbannte. Etwas später – 1876 – erließ der „liberale“ Zar Alexander II. den sogenannten „Emser Erlass“, der das Verbot des Ukrainischen auf Literatur, Theater und öffentlichen Gesang und damit auf sämtliche kulturellen Aktivitäten erweiterte.
Die Beschränkungen waren bis 1905 in Kraft; in diesen Jahren konnte man nur in Österreich-Ungarn auf Ukrainisch studieren oder Bücher und Zeitschriften publizieren, nicht jedoch im Russischen Reich. Diese missliche Situation bewirkte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Verschiebung des Zentrums der ukrainischen Kultur ins österreichische Galizien, die sich auch langfristig als folgenreich erwies.
In der Sowjetunion schien sich die Lage ab 1920 vorerst zu entspannen: Während einer kurzen kulturellen Renaissance in den 1920er Jahren kehrte das Ukrainische in Büchern, Theaterstücken, Kinofilmen, der Werbung und auch in Straßennamen und in die Bürokratie zurück. Diese Entwicklung wurde jedoch zur Falle: Stalins „großer Wendepunkt“ von 1929 beendete die Präsenz des Ukrainischen brutal und zwang Hunderte ukrainische Künstler vorerst, der „offiziellen Linie“ zu folgen (dies schon in den 1920er Jahren). Später wurden sie verhaftet, in Lager verbracht, ermordet oder zum Suizid gezwungen. Ideologische Unterschiede spielten dabei keine große Rolle: Zuerst vernichtete das Sowjetregime die Nationaldemokraten der ehemaligen Ukrainischen Volksrepublik (im sogenannten SUV-Prozess, der 1930 in Charkiw gegen die Union für die Befreiung der Ukraine geführt wurde); dann war die Zeit für alle anderen gekommen: Dissidenten der „proletarischen Kunst“ (Chwylowyi und sein Umfeld), Künstler mit klassischer Ausbildung und klassischer Ausrichtung (Zerow und die „Neoklassiker“), bäuerliche Autoren (Pylypenko und sein Umfeld) und schließlich auch die „wahrhaft“ proletarischen Autoren. Ihre Hauptschuld war, dass sie allesamt auf Ukrainisch schrieben. Später, im Jahr 1959, veröffentlichte der ukrainische Emigrant Juriy Lawrinenko, gemeinsam mit und angeregt durch den polnischen Emigranten Jerzy Giedroyc, die Anthologie „Exekutierte Renaissance“. Hier sind die Werke Dutzender ukrainischer Schriftsteller versammelt (die Zahl der getöteten Künstler ist natürlich viel höher). Das zeigt die Dimension des Verlustes für unsere Kultur.
Parallel zur Auslöschung der Intelligenzija fügte das Regime den Bauern, der wichtigsten sozialen Klasse, die ukrainisch sprach, einen schweren Schlag zu. Durch die 1932/33 künstlich erzeugte Hungersnot (den Holodomor) ließ es mindestens vier Millionen ukrainische Bauern verhungern – indem sämtliches Getreide enteignet und die Bauern von den Feldern verbannt wurden, damit sie dort verbliebene Nahrungsmittel nicht aufsammeln konnten, und indem ihnen verboten wurde, in die Städte zu reisen und dort bezahlte Jobs anzunehmen. Nach dem Krieg ließ das Regime eine solche Hungersnot erneut stattfinden, diesmal fielen ihr etwa eine Million Menschen zum Opfer.
Eine Nation mit zum damaligen Zeitpunkt rund 30 Millionen Einwohnern verlor also mindestens fünf Millionen Menschen durch Hungertod. Bis zu neun Millionen Menschen starben im Zweiten Weltkrieg, emigrierten oder wurden deportiert, Millionen wurden in Lager verschickt. Nach dem Krieg, nachdem so viele ukrainischsprachige Menschen „ausradiert“ worden waren, behaupteten die sowjetischen Machthaber, dass der ukrainischen Sprache und ihrer Kultur nichts wahrhaft Eigenes anhafte und sie vielmehr „niedrigere“ Versionen des Russischen und seiner Kultur seien. Beide Sprachen würden sich schon bald zu einer sowjetischen Sprache „vereinen“, vermutlich dem Russischen, der Sprache des neuen Homo sovieticus.
Dieser Prozess der künstlichen Annäherung des Russischen ans Ukrainische stellte eine Fortführung des zaristischen „Linguizids“ in abgeschwächter Form dar: Authentische ukrainische Literatur (nicht ihr sowjetisches Abbild im Agitprop) wurde verboten oder zensiert und war nur dank des samvydav (der ukrainischen Version des samizdat, also „illegaler“ Literatur, die mithilfe von Schreibmaschinen produziert und verbreitet wurde) oder im grenzüberschreitenden Schmuggel erhältlich; dissidente Schriftsteller wie Stus, Swerstiuk, Rudenko, Chornowil, Marynowytsch und viele andere wurden in Gulags geschickt; auch Übersetzer wurden verfolgt (Lukash, Kochur und andere); in Lexika wurden der ukrainische Wortschatz und die ukrainische Grammatik dem Russischen künstlich angenähert.
Die Jahrhunderte des Linguizids sind nicht spurlos vergangen. Das Ukrainische hat das Verbot der Sprache, die Auslöschung der Renaissance der 1920er Jahre, den Holodomor der 1930er und 1940er Jahre, den Zweiten Weltkrieg und den stalinistischen Terror jedoch überlebt. Und dieses Überleben ist ein Wunder.
Als die Ukraine dieser Tage ein Sprachengesetz verabschiedete, um „das Funktionieren des Ukrainischen als Staatssprache“ sicherzustellen, war dies ein sehr milder Versuch, die Verletzungen des Kolonialismus zu lindern und eine Sprache zu stärken, die schon längst hätte ausgestorben sein können. Das Ukrainische ist noch immer schwächer als das Russische; im freien Wettbewerb kann es gegen die Sprache des größeren Reichs nicht bestehen, die nach wie vor nicht nur in Russland, sondern auch in vielen anderen postsowjetischen Ländern gesprochen wird. Außerdem verfügt das Russische über viel größere personelle, finanzielle und institutionelle Entwicklungsressourcen. Das Gesetz stellt in diesem Sinne den Versuch dar, Wachstumsanreize für das Ukrainische zu schaffen – und ist der wohl erste systematische Versuch dieser Art in den gesamten 28 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit. Europa weiß noch immer sehr wenig über die ukrainische Kultur – die derzeit sehr dynamisch, interessant, intelligent und überraschend ist; eine Unterstützung dieser (in Europa) nahezu unbekannten Sprache wird die kulturelle Diversität Europas also durchaus bereichern.
Das Gesetz verbietet das Russische nicht – dazu wäre es auch gar nicht in der Lage. Russisch wird genauso frei gesprochen werden wie bisher. Meine Tochter wird mit ihren Freunden höchstwahrscheinlich weiterhin russisch sprechen. In den Buchhandlungen wird es Bücher auf Russisch geben: Nur 50 Prozent der Bücher müssen künftig ukrainisch sein. Auch Zeitungen auf Russisch können gekauft werden: Nur 50 Prozent der im Einzelhandel angebotenen Presse muss auf Ukrainisch erscheinen. Ebenso wird es weiterhin russische Zeitungen und Websites geben: Sie müssen lediglich ergänzend ukrainische Versionen anbieten. Ausnahmen gibt es für Veröffentlichungen in EU- und autochthonen Sprachen: Für sie entfällt die Notwendigkeit einer ukrainischen Version.
Im Dienstleistungssektor ist die Standardsprache Ukrainisch. Es kann jedoch auch jede beliebige andere Sprache gesprochen werden, sofern sich beide Seiten auf sie einigen.
Der Anteil des Ukrainischen im Fernsehen wird sukzessive auf 90 Prozent anwachsen; dies schränkt die Sprachwahl von Gästen oder Interviewpartnern jedoch nicht ein, die in vielen Fällen weiterhin russisch sprechen werden.
Einige Gesetzesteile unterstütze ich persönlich nicht. So wäre ich für eine Erweiterung der Möglichkeiten, Filme in ihrer Originalversion mit ukrainischen Untertiteln zu senden (etwa russische, aber auch englische, französische, deutsche usw.) – das Gesetz aber sieht vor, sie hauptsächlich per ukrainischem Voice-over synchronisiert auszustrahlen. Dies ist keine fortschrittliche Regelung.
Außerdem bin ich dafür, dass in der Ukraine mehr Filme in anderen Sprachen produziert werden (laut Gesetz liegt der Anteil solcher Filme bei nur zehn Prozent, was zu wenig ist). Und ich befürworte Zielquoten zugunsten des russischsprachigen Fernseh- und Kinopublikums.
Zudem unterstütze ich Ausnahmen für auf Russisch produzierte Inhalte, mittels derer die Ukrainer die besetzten Gebiete im Donbass und die Krim ansprechen sollten.
Grundsätzlich weist das Gesetz aber in die richtige Richtung: Indem es schwächere Sprachen stärkt (dies sind – auf den ersten Blick überraschend – die Nationalsprache sowie autochthone Sprachen), hilft es der Ukraine, sich von ihrer kolonialen Vergangenheit zu befreien. Gleichzeitig lässt es Raum für andere Sprachen, die lebendig im Einsatz sein, gesprochen und studiert werden sollen.
Ich habe drei Töchter und hoffe, dass das Ukrainische in ihrem Leben mehr Raum einnehmen wird. Dabei bin ich sicher, dass sie so multilingual sein werden, wie ich es bin: Ukrainisch und Russisch sind meine Muttersprachen, Englisch und Französisch spreche ich fließend, ich kann Deutsch lesen und Polnisch, Belarussisch und etwas Italienisch verstehen. Meine Töchter werden sogar sicherlich noch mehr Sprachen können als ich, in einem multilingualen Land mit einer Nationalsprache, die sich vielfältig entwickelt statt zu verkümmern.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position Redaktion von Ukraine verstehen bzw. dem Zentrum Liberale Moderne.
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