Alexander Markus: „Deutsch-ukrainische Wirtschaftsbeziehungen entwickeln sich hervorragend”
Alexander Markus ist Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer. Im Interview mit „Ukraine verstehen” spricht er über Entwicklungen, Herausforderungen und Chancen des Wirtschaftsstandorts Ukraine.
Sie leben und arbeiten seit 2006 in der Ukraine und kamen nach einer Zwischenstation in Russland 2011 wieder in das Land. Was hat sich, insbesondere auch durch den Euromaidan, im Land verändert?
Der größte Unterschied besteht im gesellschaftlichen Diskurs. Ich war das erste Mal in den Jahren 2006–2007 in der Ukraine. Das war wenige Jahre nach der Orangen Revolution. Die Menschen waren einerseits davon enttäuscht, dass sich wenig geändert hatte. Gleichzeitig gab es aber eine ziemlich breite Diskussion darüber, wo man als Land und Bevölkerung eher hin wolle: Zurück in die Komfortzone nach Osten und damit tiefer in die Einflusssphäre Russlands oder sich auf den steinigen und schwierigen Weg nach Westen mit den dafür notwendigen Reformen machen?
Diese Diskussion gibt es heute nicht mehr. Die russische Führungsspitze hat darauf eine eigene Antwort gegeben, weil sie dachte, dass man die Ukraine vor eine Entweder-Oder Entscheidung stellen müsse, ein typisches Tertium-non-datur-Dilemma, welches hier von der russischen Seite aufgebaut wurde: Eine Annäherung an die EU und gleichzeitig gute Beziehungen zum großen Bruder im Osten zu erhalten – so eine Entwicklung konnte man sich in Russland für die Ukraine weder vorstellen noch zulassen.
Mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Osten der Ukraine erlebte die ukrainische Wirtschaft einen dramatischen Einbruch. Wie steht das Land vier Jahre nach dem Maidan derzeit wirtschaftlich da und mit welcher Entwicklung rechnen Sie im kommenden Jahr?
Den dramatischen wirtschaftlichen Einbruch erlebte die Ukraine nicht wegen der oben erwähnten Konflikte. Dieser entstand dadurch, dass Russland über in aller Regel vorgeschobene technische Barrieren den Import von ukrainischen Waren vielfach unterbunden hat und bis heute stark einschränkt. Gleichzeitig ist der Währungskurs von ursprünglich 11 Hrywnja pro einem Euro auf heute 31 gefallen. Diese Entwertung war notwendig gewesen, da die ukrainische Währung vorher durch die strikte Anbindung an den Dollar über Jahre hinweg deutlich über Wert gehandelt wurde. Das hat aber auch Aktiva und Gewinne von Unternehmen sowie Vermögen und Gehälter der Menschen auf ein Drittel des ursprünglichen Wertes schrumpfen lassen.
Trotz alledem ist Russland auch heute noch der größte Handelspartner der Ukraine – beim Import mit 13% ebenso wie beim Export mit 10%. Die Ukraine liefert und bezieht zwar inzwischen mehr aus der EU, aber wenn man die Länder isoliert betrachtet, steht Russland bis heute an der Spitze und China an der zweiten Stelle. Gleichzeitig ist der Umfang des Außenhandels zwischen beiden Ländern in den letzten Jahren um zwei Drittel geschrumpft. Übrigens bezieht die Ukraine auch kein Erdgas mehr direkt aus Russland.
Wie steht es um die deutsch-ukrainischen Wirtschaftsbeziehungen und wo sehen Sie Wachstumspotenzial? Was ist aus Ihrer Sicht eine typische deutsch-ukrainische Erfolgsstory?
Die deutsch-ukrainischen Wirtschaftsbeziehungen entwickeln sich hervorragend: Im letzten Jahr haben wir knapp 23% Zuwachs bei den deutschen Ausfuhren in die Ukraine verzeichnen können, in den ersten acht Monaten dieses Jahres noch einmal plus 26%. Ebenso entwickeln sich die Einfuhren aus der Ukraine nach Deutschland positiv: Im Jahr 2016 konnten wir ein plus von 7% und von Januar bis August dieses Jahres gar ein Wachstum von 16,5% verzeichnen.
Wachstumspotenziale sehen wir in erster Linie in der Leichtindustrie. Bei einem Stundenlohn in den ukrainischen Regionen von 2 Euro all inclusive kommen immer mehr deutsche Unternehmen in die Ukraine, die hier fertigen wollen. In der deutschen Automobilzulieferindustrie gibt es heute schon ca. 30.000 Arbeitsplätze in der Ukraine. Und das wäre auch eine typische success story: Gute Fertigungsqualität bei niedrigen Produktionskosten und dies an der EU Außengrenze. Die Ukraine macht heute schon Standorten wie Polen, Ungarn oder Tschechien Konkurrenz und dieser Trend wird sich noch deutlich verstärken.
Wie wirkt sich der Krieg im Osten des Landes auf die Business-Community aus?
Der Krieg im Osten ist in erster Linie eine humanitäre Katastrophe. Dort sterben bis heute Tag für Tag Menschen oder werden schwer verletzt. Das sind zwar immer nur geringe Zahlen im einstelligen Bereich, selten mal mehr als drei oder vier an einem Tag. Aber es herrscht Krieg in Europa, was man nie vergessen sollte.
Auf die deutsch-ukrainischen Wirtschaftsbeziehungen hat dieser Konflikt aber heute kaum noch Auswirkungen. Das ist inzwischen eher ein Problem der Wahrnehmung, da viele Medien nur noch über die Ukraine in Verbindung mit der Situation im Osten berichten, nicht jedoch über die vielen positiven Entwicklungen, die inzwischen auch im Osten des Landes ankommen. Dabei ist die beste Sache, die der Ukraine passieren konnte, die immer stärker werdende Dezentralisierung sowie der Aufbau einer starken kommunalen Selbstverwaltung.
Was bedeutet der Dezentralisierungsprozess für die Wirtschaft?
Der ist das Beste, was der Ukraine und den deutschen Unternehmen hier passieren kann. Heute geschieht mindestens so viel auf kommunaler und regionaler Ebene wie im Zentrum in Kyjiw, wenn nicht sogar noch mehr. Die wahren Reformen finden heute dort auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung statt. Das bestätigen auch deutsche Unternehmen vor Ort. Die sagen mir: „Herr Markus, wir bekommen inzwischen bei Investitionsprojekten fast alle für uns wichtigen Entscheidungen auf kommunaler oder regionaler Ebene. Was da in Kyjiw getrieben wird, interessiert uns daher immer weniger.“
Zu den drängendsten Problemen und Investitionshindernissen zählt neben dem Krieg vor allem die Korruption. Trotz Reformen kommt die Korruptionsbekämpfung nur schleppend voran. Der IWF schätzt die jährlichen Verluste durch Korruption auf 2% des BIP. Was wäre aus ihrer Sicht erforderlich, um die Korruption effektiv zurückzudrängen und das Investitionsklima zu verbessern?
Ja, Korruption ist in der Ukraine immer noch zu finden und man braucht nicht lange danach suchen, wenn man dafür Beispiele finden will. Aber sie hat sich doch gleichzeitig sehr verändert: Heute gibt es immer weniger strukturelle Korruption, die Teil des politischen Systems unter der vorigen Regierung war.
Was man machen muss: Nichts einfacher als das! Man muss einfach nur bei den Vertretern der Elite danach fragen, wo deren Reichtum herkommt. Heute gibt es in der Ukraine ein viel strengeres System als in Deutschland. Ich kann in Sekundenschnelle die Einkommens- und Vermögenserklärung jedes höheren Beamten in der Ukraine über das Internet einsehen. Wenn der oder die dann gleichzeitig eine Rolex trägt oder ein Kleid von Chanel, dies aber bei einem erklärten Jahreseinkommen eines stellvertretenden Ministers von 5 bis 7 Tausend Euro zumindest Fragen aufwirft, sollte jemand diese Fragen auch offiziell stellen, zum Beispiel die Staatsanwaltschaft. Das geschieht allerdings heute in der Ukraine noch nicht.
In diesem Jahr wurden die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine durch die EU-Visaliberalisierung und das Assoziierungsabkommen signifikant vertieft. Gibt es erste Schätzungen, wie sich das auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und der Ukraine ausgewirkt hat?
Das Assoziierungsabkommen wurde vorfristig schon mit dem 1.1.2016 aktiviert. Das war ein wichtiges politisches Signal. Die eigentlichen Folgen verstehen wir aber eher in fünf bis zehn Jahren. Dafür ist es noch zu früh.
Auf die Dynamik der Außenwirtschaftszahlen bin ich vorhin schon eingegangen. Dabei wird das Wachstum des Außenhandels aus der Ukraine in die EU aber eher davon getrieben, dass Russland enorme technische Barrieren für den Import ukrainischer Waren aufgebaut hat. In der Folge haben ukrainische Produzenten gar keine andere Wahl mehr, als sich neue Exportmärkte zu suchen. Dabei schauen diese gar nicht nur auf die EU, sondern auf die Mittelmeerregion, den Nahen und Fernen Osten sowie China. Dieser Sachverhalt entfaltet kurzfristig eine viel größere Wirkungskraft als das Freihandelsabkommen mit der EU.
Mittel- und langfristig sieht das allerdings anders aus. Durch die Anpassung von technischen Standards wird die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der EU in den nächsten Jahren enorm erleichtert werden.
Was tut sich in der Ukraine in Richtung Klimaschutz und ökologischer Innovation? Sind dies Themen für ein Land, dessen Wirtschaft traditionell von Schwerindustrie geprägt war? Und welche Rolle könnten deutsche Unternehmen bei der ökologischen Modernisierung der Ukraine spielen?
Natürlich sind dies Themen für das Land. Es gibt ein großes GIZ-Projekt zum Thema „Ökologische Modernisierung der Ukraine“. Das Projektteam arbeitet mit der Regierung an einer Strategie zur Industrieentwicklung in der Ukraine.
Ja, die Schwerindustrie hat das Land viele Jahrzehnte stark geprägt, im Grunde sogar mehr als hundert Jahre lang, denn die ersten Industrieansiedlungen kamen von englischen und belgischen Industriellen noch in der Zarenzeit. Donezk hieß in seiner Anfangszeit „Jusovka“ – benannt nach John James Hughes, der die Stahl- und Kohleindustrie im Donbas mit aufgebaut hat. „Hughes“ war im Russischen kaum richtig auszusprechen. So wurde daraus „Jus“ und der Ort zu „Jusovka“.
Inzwischen sehen wir aber einen sehr dynamischen Shift: die Schwerindustrie verliert ihre Pole-Position und die Leichtindustrie tritt an deren Stelle. Im Jahr 2012 bestand der ukrainische Import nach Deutschland zu 29% aus metallurgischen Produkten wie Rohstahl, der dann in Deutschland weiter verarbeitet wurde. Im Jahr 2016 machte diese Warengruppe weniger als 10% aus.
Welche Rolle spielte die Wirtschaft bei der ökologischen Modernisierung? Internationale Unternehmen denken viel eher in ökologischen Maßstäben, weil inzwischen Share- und Stakeholder international danach fragen, wie sich Unternehmen zu dem Thema positionieren. Zum Beispiel sind es AHK-Mitglieder, die für ein großes Handelshaus das erste Niedrigenergielagerhaus geplant und gebaut haben. Da werden technische Standards angelegt, die die ukrainische Bauordnung gar nicht kennt.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie haben viele Jahre in Kyijw und Moskau verbracht. Wo gefällt es Ihnen besser – und weshalb?
Ich bin schon seit sechs Jahren weg aus Moskau und nur noch sporadisch dort. Von daher kann ich diese Frage nur aus der Erinnerung an jene Zeit beantworten. Im Grunde sind Kyjiw und Moskau beides ganz tolle Städte mit wahnsinnig interessanten Menschen – hier und dort. Natürlich gibt es auch überall Menschen, denen die Politik den Blick für die wichtigen Dinge im Leben verschließt. Aber bei den meisten Menschen, die ich kenne, ist das nicht der Fall und diese haben den Diskurs miteinander aufgrund der aktuellen Situation nicht eingestellt.
Moskau ist ein Moloch und man kann, wenn man dort lebt oder zu Gast ist, fast alles haben – außer Zeit. Allein für die Bewegung von Punkt A zum Punkt B benötigt man dort so viel Zeit, dass man pro Tag nicht mehr als drei Treffen planen kann.
Kyjiw – und ich spreche und schreibe diese Stadt mit „yjiw“ nach dem „K“ und nicht in der Transkription aus dem Russischen als „Kiew“ – ist viel gemütlicher als Moskau. Das ist ungefähr so ein Verhältnis wie Berlin und Wien.
Ich liebe die ukrainische Hauptstadt dafür, dass man im Zentrum fast alle Ziele zu Fuß erreichen kann. Die Menschen sind hier in der Regel höflich und zuvorkommend, was ich ebenso sehr schätze.
Alexander Markus ist Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer, die im Oktober 2016 in der Hauptstadt der Ukraine eröffnet wurde. Der gelernte Slawist und Betriebswirt war vorher als Delegierter der Deutschen Wirtschaft in der Ukraine tätig und davor als Mitglied der Geschäftsführung bei der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer in Moskau. 2006–2007 beriet er im Auftrag der Europäischen Kommission die Regierung der Ukraine in den Bereichen Private Business Development und Regulative Impact Assessment.
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