Das Leben geht weiter – der Krieg auch
Ein Reisebericht aus dem Donbas: Die ukrainisch-russische Frontlinie verläuft zwar durch den Donbas, aber die Auswirkungen des Konflikts sind im ganzen Land spürbar. Reisebeobachtungen aus der Ostukraine von Serhij Zhadan.
Wie viele Male sind wir diese Strecke in den letzten vier Jahren gefahren? Seit dem Beginn des ukrainisch-russischen Krieges sind diese Reisen in den Donbas zu etwas äußerst Wichtigem und äußerst Schmerzhaftem geworden. Ob wir zu Auftritten fahren oder mit Hilfsgütern kommen, wir haben uns an die Fahrten gewöhnt, wir können nicht anders. Ostoholiker nennt uns eine Bekannte. Vielleicht hat sie recht, denn wir erfahren den Krieg am eigenen Leib, auch wenn wir nicht kämpfen, auch wenn wir keine Waffe zur Hand nehmen. Der Krieg ist nicht reizvoll, er hat nichts, aber auch gar nichts Positives. Aber die Menschen, denen du in der grauen Zone begegnest – seien es Soldaten oder Zivilisten – kommen dir nahe, werden wichtig für dein Leben. Du möchtest immer wieder zu ihnen zurückkehren, ihnen beistehen. Und das machen wir.
Den meisten geht es nicht um konkrete Bedürfnisse – es geht ihnen um eine generelle Unterstützung, um Solidarität, um das Gefühl, dem Tod, dem Krieg nicht ausgeliefert zu sein
Wer ist eigentlich „wir“? An den Kontrollpunkten, an denen wir uns ausweisen müssen, bezeichnen wir uns als Freiwillige. Das stimmt vielleicht. Ist aber ungenau. Wir sind immer wieder in anderer Besetzung unterwegs – Autoren, Musiker, Journalisten. Wir fahren zu den Soldaten, die wir gut kennen, aber in der Hauptsache ist die Zivilbevölkerung unser Anlaufpunkt: Schulen, Kindergärten, Förderschulen. Die Menschen vor Ort warten auf uns, fragen, ob wir wiederkommen. Den meisten geht es nicht um konkrete Bedürfnisse, nicht um die Hilfe als solche, es geht ihnen um eine generelle Unterstützung, um Solidarität, um das Gefühl, dem Tod, dem Krieg nicht ausgeliefert zu sein, darum, dass es jemanden gibt, auf den sie sich verlassen, an den sie sich wenden können, dass es ihr Land im Rücken noch gibt, dass es sie nicht im Stich lässt, sie nicht für Verräter hält, dass es die Not, in die sie hier, in Frontnähe, geraten sind, nicht vergisst. Das ist manchmal wichtiger als irgendeine Hilfe. Obwohl normalerweise niemand mit leeren Händen kommt.
Meistens beginnt die Reise von Charkiw in den Donbas nachts. Unser Fahrer steuert durch die dunklen Straßen von Charkiw und holt einen nach dem anderen von zu Hause ab. Dann geht’s Richtung Vorstadt, auf die ehemalige Schnellstraße nach Rostow, weiter gen Osten. Im Sommer, wenn es zeitig hell wird, fährst du scheinbar mitten in die Sonne hinein, die auf dich zu rollt. Im Winter bleibt es lange dunkel, grau steht die Luft über den Feldern, lange fährst du durch das winterliche Dunkel, ehe dich der Morgen irgendwo bei Luhansk einholt. Nach und nach erkennst du jedes Verkehrszeichen, jede Kurve. Als ob du immer wieder an einen Ort zurückkehrst, an dem etwas äußerst Wichtiges und doch unsagbar Schreckliches passiert.
Schtschastja – Stadt des Glücks vom Glück verlassen?
Dieses Mal wollen wir zwei Orte anfahren: Schtschastja und Stanyzja Luhanska. Beide Städte liegen am linken Ufer des Siwerskyj Donez, der derzeit de facto die Frontlinie bildet. Drüben, auf der anderen Flussseite, stehen die Separatisten. Schtschastja (Dt. Glück) – das „unglückliche Schtschastja“, sagen die Separatisten in ihren Radiosendungen, lebt noch immer „unter der Ukraine“ und nicht unter der Kontrolle der Luhansker Volksrepublik – ist die letzte Bastion, im direkten und im übertragenen Sinn. Über den Fluss führt eine Brücke, die von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wird, am linken Ufer gibt es Befestigungsanlagen, „Fassade“ genannt, in den Unterständen treten wir hin und wieder auf. Im Sommer 2014 tobten hier die Kämpfe besonders heftig. Die ukrainische Armee stürmte Luhansk, die Truppen standen schon mitten in der Stadt, das Ende dieser blutigen Episode schien nur noch eine Sache von Tagen. Aber dann drangen reguläre russische Einheiten in die Ukraine ein, die ukrainischen Truppen zogen sich bis zum Fluss zurück. Seitdem ist die Lage in Schtschastja mehr oder weniger stabil, allerdings steht in der Stadt ein großes Wärmekraftwerk, das die gesamte Umgebung mit Heizwärme versorgt, daher ist die Situation bisweilen angespannt. Im vergangenen Jahr sind dort zwei russische Soldaten gefangen genommen worden.
Wir kommen jedenfalls mit einer ganz konkreten Absicht. Am hiesigen Kulturhaus gibt es eine Rockband. Die Musiker sind von hier, sie spielen Coverversionen internationaler Hits. Sie haben um Unterstützung gebeten: Sie brauchen Equipment. Wir haben ihnen Becken und Schlagfelle für die Trommeln mitgebracht. Nichts Besonderes. Wir wollen die Musiker kennenlernen, um dann weiter mit ihnen in Kontakt zu bleiben.
Am frühen Morgen kommen wir nach Schtschastja. Die tiefblaue Winterdämmerung weicht, von Osten, von der russischen Grenze her, steigt die Sonne auf. Hier und da sind ein paar Menschen unterwegs. Wir finden das Kulturhaus. Nebenan stehen Rentner Schlange: Sie warten auf Rinat Achmetows Hilfsgüter. Achmetow saniert auch das hiesige Kulturhaus. Mit unseren gespendeten Schlagzeugutensilien wirken wir da etwas deplatziert. Achmetow versorge die Stadt, erzählen die Einwohner. Hier baut er einen Sportplatz, da verteilt er an Rentner Hilfsgüter. Deswegen ist er natürlich populär. Wann immer wir auf seine politische Einstellung und seine Verbindung zu den Separatisten anspielen, werden wir auf einen neuen Sportplatz verwiesen, den er hingesetzt hat. Der Populismus behält wie immer die Oberhand. Na, sei’s drum. Wir liefern die Becken und Schlagfelle ab und verabreden mit den Musikern ein gemeinsames Konzert nach den Feiertagen zum Jahreswechsel. Über dem Kraftwerk steht Rauch – die Stadt lebt ihr relativ friedliches Leben.
Stanyzja Luhanska: Alltag am Rande der Front
Unsere nächste Station ist Stanyzja Luhanska. An der Stadt hat Achmetow kein strategisches Interesse, deswegen ist die Lage hier etwas anders. Hier versuchen die Stadträte, das örtliche Kulturhaus selbst instand zu setzen. Und das schaffen sie auch. Wir steuern für die Bühne die Beleuchtung und ein Mischpult bei, ein Geschenk von uns. Wir kennen Stanyzja gut, pflegen seit langem gute Kontakte. Dutzende Male sind wir in den letzten drei Jahren hier gewesen und haben alles Mögliche mitgebracht: von Waschmaschinen für die Kindergärten bis zu neuen Büchern für die Bibliotheken. In der letzten Zeit sind wir intensiv mit den hiesigen Lehrkräften im Gespräch. Durch die Entfernung und die schlechten Straßen ist der Ort praktisch vom übrigen Land abgeschnitten, die Kleinstadt liegt unmittelbar an der Frontlinie. Für die hiesigen Lehrer und Schüler ist eine Reise ins Hinterland nach Charkiw nicht bloß ein Ausflug, es ist die Möglichkeit, wenigstens für ein paar Tage eine ganz andere Wirklichkeit zu erleben: eine Wirklichkeit ohne Krieg, eine Wirklichkeit ohne ständigen Beschuss. In diesem Jahr haben wir eine ganze Schulklasse aus Stanyzja zu einer großen Bildungskonferenz nach Charkiw gebracht. Lehrkräfte aus der ganzen Ukraine haben zwei Tage lang mit den Kindern gearbeitet. Nachdem wir die Reaktionen der Kinder und den Enthusiasmus der Lehrer gesehen haben, können wir sie nicht im Stich lassen, wir machen weiter, entwickeln neue Projekte. So wollen wir zum Beispiel zu Weihnachten Kinder aus dem Chor einladen und für sie eine Reise nach Lwiw organisieren, damit sie mit Gleichaltrigen dort gemeinsam Weihnachtslieder einüben und vortragen können. Es gibt also viel zu tun. Wir laden die Pakete mit der Bühnentechnik aus und tragen sie ins Kulturhaus.
Nachts ist es hier unruhig, in den Randgebieten wird geschossen, die Frontlinie ist zu nah, als dass man ruhig und unbekümmert schlafen könnte
Tief hängt der Winterhimmel über der Kleinstadt. Ein Stück weiter, direkt gegenüber dem Kulturhaus, ist der Fluss und drüben Wald. Was dort passiert, ist schwer zu sagen. Auf die andere Seite können wir nicht, der Fluss ist die Grenze. Der Siwerskyj Donez – der Fluss, der hier fließt – ist so eine Art natürliches Hindernis. Auf dieser Seite steht die ukrainische Armee, drüben die Separatisten. Die Fußgängerbrücke wird als Passierstelle genutzt. Jeden Morgen kommen von drüben, aus dem besetzten Luhansk, Zivilisten über die Brücke auf das unter ukrainischer Kontrolle stehende Gebiet. Der eine deckt sich mit billigen ukrainischen Lebensmitteln ein, der andere will von hier aus weiter ins ukrainische „Kernland“ – schließlich sind sie alle noch immer ukrainische Staatsbürger, die meisten haben noch ihre ukrainischen Pässe, ungeachtet ihrer politischen Einstellung können sie sich im Land frei bewegen. Viele kommen mit einem Bündel Scheckkarten in der Tasche auf die „ukrainische“ Seite. An den Geldautomaten heben sie Renten und staatliche Beihilfen für sich und andere ab, das ist ein richtiges Geschäft. Am Morgen stehen die Leute von drüben aus Luhansk an der Bank an, sie wollen Geld abheben. Den Hiesigen, denjenigen, die in Stanyzja leben, begegnen sie argwöhnisch, in den Schlangen sind sie nicht gern gesehen – aus Angst, das Geld könnte nicht für alle reichen. Die Hiesigen wiederum sind ihnen gegenüber auch misstrauisch, obwohl sie, falls nötig, Zimmer für eine Übernachtung vermieten. Die Passierstelle schließt nämlich früh, und nicht alle „Luhansker“ schaffen es, ihre Angelegenheiten rechtzeitig zu erledigen, manch einer übernachtet dann. Nachts ist es hier unruhig, in den Randgebieten wird geschossen, die Frontlinie ist zu nah, als dass man ruhig und unbekümmert schlafen könnte.
Kulturelle Frontlinien
Die Gefechte sind allerdings kein Grund, um den Unterricht einzustellen und die Schulen zu schließen. Geschlossene Schulen, Bibliotheken und Theater sind in gewisser Weise schon ein Eingeständnis der militärischen Niederlage. In der Ukraine verstehen das viele, glaube ich. Obwohl es vor drei Jahren, im Sommer 2014, intensive Auseinandersetzungen darüber gab, ob es angemessen ist, in Kriegszeiten Musikfestivals und Buchpräsentationen zu veranstalten. Irgendwann verebbten diese Gespräche – es war klar geworden, dass der Krieg lange dauern würde, dass man auf längere Zeit mit ihm würde leben müssen.
Damit lässt es sich schwer leben, aber gelebt werden muss
Klar war auch geworden, dass, selbst wenn die Kriegshandlungen morgen endgültig vorbei wären und die Ukraine die Kontrolle über ihre Grenze zurückerlangt hätte, der Krieg trotzdem nicht ein für alle Mal vorbei wäre. Der Konflikt, der im Frühjahr 2014 vom Kreml geschürt worden war, zieht tausende ukrainische Familien, hunderttausende Menschen in Mitleidenschaft. Damit lässt es sich schwer leben, aber gelebt werden muss.
Mit der Kultur verhält es sich ähnlich: Für manche ukrainischen Schriftsteller und Musiker ist der Krieg zu einer echten Bewährungsprobe geworden, zum schwersten und schmerzhaftesten, was sich ereignen kann. Andere hingegen fahren weiter auf Gastspielreise nach Russland oder schieben die Verantwortung für alles, was im Osten passiert, den Ukrainern zu. Das Gewissen und das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen hat eigene Grenzen: Die einen würden gern ins Vorkriegsjahr 2013 zurückkehren, damit alles wieder wie früher wird – ohne Revolution, ohne Abkehr vom kommunistischen Erbe und ohne europäische Integration. Die anderen kommen immer wieder in den Donbas, weil sie begreifen, dass dort heute über die Zukunft des Landes entschieden wird.
Die ukrainisch-russische Frontlinie verläuft im Donbas, aber zu spüren bekommt sie jeder, egal, wo er lebt und was er über den bewaffneten Konflikt denkt
Dieser Bruch führt auch weiter zu Konflikten und Skandalen: Aktivisten blockieren Konzerte prorussischer Interpreten, prorussische Intellektuelle beklagen die Zensur und die fehlende Meinungsfreiheit, die Stimmung heizt sich auf, Diskussionen gipfeln in Streit und Drohungen. Im vierten Kriegsjahr ist die Ukraine noch immer großen Turbulenzen ausgesetzt, das Land versucht, innere Widersprüche zu meistern und der äußeren Bedrohung zu widerstehen. Die ukrainisch-russische Frontlinie verläuft im Donbas, aber zu spüren bekommt sie jeder, egal, wo er lebt und was er über den bewaffneten Konflikt denkt. Im Donbas ist der Bruch natürlich keine Metapher – hier ist er physisch spürbar, man braucht nur aus dem Kulturhaus zu treten und die Einschussstellen an den Wänden zu sehen – von der anderen Seite der Bruchlinie, von drüben, schießt manchmal ein Scharfschütze, und das Feuer kann jeden Moment von neuem aufflammen.
So leben hier eigentlich auch alle – in der Erwartung, dass das Feuer wieder eröffnet wird, und in der Hoffnung, dass das nicht passiert. Die Verwaltungsmitarbeiter, die Lehrer und Erzieher reden im Grunde über nichts anderes: Was wäre, wenn wieder geschossen würde, was wäre, wenn sich die ukrainische Armee zurückzöge? Ganz schlecht wäre das, das wissen alle. Weil sie seinerzeit die ukrainische Seite gewählt haben, sind sie jetzt quasi Feinde der Separatisten, sie gehören zur Ukraine, zu ihrer Wirklichkeit, zu den Veränderungen, die hier passieren. De facto sind sie Teil dieser Veränderungen. Deswegen haben sie auch etwas zu verlieren, und es lohnt sich für sie zu kämpfen. Mit diesem Gefühl, sich entschieden zu haben, leben sie. Ob es sich damit angenehm lebt, weiß ich nicht, aber verloren sehen sie nicht aus. Ich beobachte Wachsamkeit, Anspannung, Kriegsmüdigkeit. Aber keine Angst. Im Krieg ist das sehr wichtig.
Die Arbeit muss also weitergehen. Wir verabreden mit ihnen unseren nächsten Besuch, verabschieden uns, fahren zurück – auf derselben Strecke, über dieselbe holprige Piste.
Das Leben geht weiter – der Krieg auch
Manchmal hört man die Frage: Und was hat sich nun eigentlich in den letzten dreieinhalb Jahren im Donbas verändert? Was ist mit den Menschen passiert? Die Frage ist einfach, die Antwort ganz und gar nicht. Was ändert sich hier äußerlich? Die von den Separatisten zerstörten Schulen und anderen Gebäude werden wieder aufgebaut, manches wird neu gemacht, anderes saniert, Straßen werden gebaut, Brücken wiedererrichtet. Obwohl der Donbas nach wie vor nicht besonders anziehend wirkt und unklar ist, wie viel Zeit, Geld und gemeinsame Anstrengungen es braucht, damit die Infrastruktur weniger deprimierend aussieht. Der Zustand lässt sich dem Krieg nicht anlasten – auch vor dem Krieg sahen die Kleinstädte hier wenig attraktiv aus. Das ist die äußere Seite. Viel schwieriger (aber auch viel wichtiger) ist indessen, was mit den Menschen passiert. Inwieweit ändern sie sich? Inwieweit sind sie überhaupt bereit für Veränderungen? Pauschal lässt sich das nicht beurteilen. Ich kann nur sagen, dass sich diese Veränderungen – wesentliche, tiefgreifende Veränderungen – häufig beobachten lassen, man braucht nur mit Lehrern, Studenten, Beamten und Polizisten zu sprechen. Sie sind alle sehr verschieden. Jeder hat seine eigene Sicht und Interpretation der Lage. Es ist schwer, die individuellen schmerzhaften Wahrheiten zu irgendwelchen Tendenzen zusammenzufassen. Und vielleicht muss man an lebenden Menschen auch keine Tendenzen ablesen. Es genügt, diejenigen zu unterstützen, die Unterstützung brauchen. Und sich keinen Illusionen darüber hinzugeben, dass sich alles von allein ändert. Von allein ändert sich nichts. Aber deswegen leben wir auch hier, deswegen kommen wir immer wieder hierher zurück.
Auf dem Rückweg fahren wir durch Schtschastja. In der Dämmerung leuchten die Fenster der Wohnungen. Das Leben auf den Straßen erlischt, es ist fast niemand unterwegs. Aber das Wärmekraftwerk ist in Betrieb, das Leben geht weiter. Der Krieg auch.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.
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