Deutsche Spuren in sowjetischen Geheimarchiven
Viele Ukrainer*inner kämpfen in der Corona-Quarantäne gegen Langeweile an. So aber nicht der Historiker Oleksii Köhler aus Odesa. Er hat alle Hände voll zu tun und erforscht in den sowjetischen Geheimarchiven die Geschichte der deutschen Aussiedler. Von Oksana Hrytsenko
In seiner Wohnung in Odesa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer, untersucht Oleksii Köhler Dokumente über deutsche Aussiedler, die er in örtlichen Archiven findet. Auch unterstützt er Bürger, die nach Informationen über ihre deutschen Vorfahren suchen.
„Manchmal stoße ich auf eine Karteikarte im Archiv, mit der ein anderer seine eigene Familiengeschichte über fünf bis sieben Generationen zurückverfolgen kann“, sagt Köhler. „Manche Leute finden dadurch zum Beispiel Namen in Kirchenbüchern und können so ihre deutsche Abstammung beweisen“, erklärt der Historiker.
Er habe genug Material für drei Wochen Arbeit, ohne sein Haus verlassen zu müssen, sagt Köhler. Der Wissenschaftler will herausfinden, welche Informationen in den Archiven in Odesa stecken und wie er sie für seine Forschung nutzen kann.
„Bisher wissen wir nicht, was genau wir dort noch finden werden“, sagt er.
Im Jahr 2015 öffnete die Ukraine alle Archive des KGB, des sowjetischen Geheimdienstes. Später gewährten die Behörden auch Einblick in die Archive der sowjetischen Polizei, der Gefängnisse und Staatsanwaltschaften und machten einen Großteil der sowjetischen Militärarchive der Öffentlichkeit zugänglich.
Die Archive in der Ukraine sollen den größten Datensatz an frei zugänglichen Informationen über die sowjetische Geheimpolizei in Europa enthalten, sagen örtliche Historiker. Das Problem sei jedoch, dass die Daten nur in Papierform vorliegen und dass es Jahrzehnte dauern könne, bis alle Informationen digitalisiert seien. Hinzu kommt, dass die Regierung im April das Budget für den Ausbau der Archive gekürzt hatte, weil das Geld im Kampf gegen das Corona-Virus gebraucht werde.
Die Deutschen vom Schwarzen Meer
Als ausgebildeter Mathematiker untersucht Köhler die Archive seit den Neunzigerjahren. Damals leitete er einen Verein zur Aufarbeitung der Geschichte deutscher Aussiedler. Mit Hilfe der Archive erforschte Köhler auch die Geschichte seiner eigenen Familie. Seine Vorfahren waren deutsche Kolonisten, die aus dem Gebiet des heutigen Baden-Württembergs in das Russische Reich auswanderten.
„Vor ein paar Jahren habe ich die Ausweisnummer meines Urgroßvaters Carl Köhler gefunden. Er kam 1809 in die Ukraine und lebte in einer Kolonie namens Sulz im heutigen Oblast Mykolajiw“, berichtet Köhler. „Heute befindet sich dort ein militärisches Trainingszentrum.“
Auf Einladung russischer Zaren ließen sich Deutsche in der spärlich-besiedelten Schwarzmeer-Region nieder. Dort erhielten sie kostenlos Land und kamen in den Genuss von Religionsfreiheit und Steuervorteilen. Im Gebiet zwischen den Flüssen Dnister und dem Südlichen Bug, wo sich heute die Bezirke Odesa und Mykolajiw befinden, gab es mehr als 400 deutsche Siedlungen, berichtet Köhler. Mit dem Untergang des Zarenreiches und der Gründung der Sowjetunion kam es ständig zu Übergriffen der Behörden auf die gut-situierten deutschen Siedler. Sein Großvater sei 1937, während des „Großen Terrors“ unter Diktator Josef Stalin, ins Gefängnis gesteckt worden, berichtet Köhler.
Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die meisten so genannten „Volksdeutschen“ von der Wehrmacht aus der Südukraine nach Polen verbracht. Nach dem Krieg holte die Sowjetunion die Deutschen wieder zurück und deportierte sie anschließend nach Sibirien oder Zentralasien.
Sein Vater sei mit 7 Jahren in das Gebiet Iwanowo nach Zentralrussland in ein Internierungslager für Kinder verschleppt worden, berichtet Historiker Köhler. Dort wurde sein Vater bestraft, weil er außerhalb der Schule deutsch sprach oder seinen Deutschlehrer korrigierte. Später sei sein Vater unauffällig in die Ukraine zurückgekommen und habe sich bei Odesa niedergelassen. Jahrelang habe seine Familie aus Angst vor Repressalien ihre deutsche Abstammung verborgen. „Mein Vater hat sich bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 gefürchtet, deutsch zu sprechen“, sagt Köhler.
Verborgene Schätze
Lange glaubte man, dass die Daten über deutsche Aussiedler zwischen 1920 und 1940 verloren gegangen seien. Die Informationen seien von den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges gestohlen oder vom KGB vernichtet worden, vermutete man. Nach dem Zerfall der Sowjetunion spürten Historiker den „Datenschatz“ in den ukrainischen Archiven jedoch wieder auf.
1992 führte Köhler seinen deutschen Kollegen Alfred Eisfeld in das Archiv des Oblasts Odesa. Eisfeld war erstaunt, als er dort rund 200.000 Dokumente über die Schwarzmeer-Deutschen fand.
Eisfeld, der heute das Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises leitet, habe in Odesa Daten über Aussiedler gefunden, die vom 19. bis Anfang des 20. Jahrhundert zurückreichen, sagt er. Er sei fortan immer wieder in die Ukraine gefahren und habe in den Archiven in Dnipro, Cherson, Mykolajiw und Simferopol weitere interessante Spuren gefunden. „Wir haben einige Seiten der multinationalen Geschichte der Ukraine entdeckt, die lange vergessen und unerforscht waren“, sagt Eisfeld.
Genau wie Köhler interessiert sich Eisfeld für die Aussiedler in der Ukraine wegen seiner eigenen Familiengeschichte. Im späten 18. Jahrhundert siedelten seine Vorfahren von Deutschland in das Gouvernement Jekaterinoslaw über, das sich heute im Gebiet Dnipropetrowsk befindet. Einige Aussiedler ließen sich in der Kolonie Josefstal nieder, die heute in einem Außenbezirk der Stadt Dnipro liegt.
Im Jahr 1943 brachten die Nationalsozialisten die Vorfahren von Eisfeld in das heutige Polen. 1945 deportierten die Sowjets die Familie in die Republik Udmurtien nach Russland, wo auch Alfred Eisfeld geboren wurde. „Meine Eltern waren dort in der Holzverarbeitung tätig. Andere Deutsche aus der Ukraine haben im Torf-Abbau oder in der Bauwirtschaft gearbeitet“, berichtet er. 1956 durften die Deutschen die Gebiete, in die sie umgesiedelt worden waren, wieder verlassen. Eine Rückkehr in die Ukraine hatten die sowjetischen Behörden jedoch verboten. Deshalb zog die Familie von Alfred Eisfeld nach Kasachstan und emigrierte schließlich 1973 nach Deutschland.
Seit den Neunzigerjahren sammeln und veröffentlichen ukrainische Historiker Daten aus den KGB-Archiven über Opfer des Stalin-Regimes. Die Wissenschaftler hätten freien Zugang zu fast allen Dokumenten, einschließlich der Befehle der Geheimpolizei während des „Großen Terrors“, sagt Eisfeld.
„In Deutschland haben wir so einen Zugang nur beim Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes“, sagt er. Mit ukrainischen Kollegen veröffentlichte der Historiker 2018 ein Buch über Deutsche in der Ukraine, insbesondere in den Jahren 1937 und 1938.
Historiker Köhler merkt an, dass es in einem Archiv normalerweise nicht erlaubt sei, Dokumente mit Blitzlicht zu fotografieren. Deshalb habe er, so erinnert er sich, einmal mit Hilfe einer LED-Lampe Dokumente abfotografiert, bis seine Hand schmerzte. Als die Ukraine 2015 die KGB-Archive öffnete seien ausländische Wissenschaftler massenweise in die Ukraine geströmt.
Pläne für ein Zentralarchiv in Kyjiw
Eigentlich wollte die Regierung ein Zentralarchiv in Kyjiw bauen, das die Archive des KGB, der sowjetischen Grenztruppen, der Staatsanwaltschaft, des Justizvollzuges und Teile des Militärarchivs von 1917 bis 1991 zusammenführen sollte.
Das Gebäude sollte auf dem Gelände von Almaz, einer ehemaligen Rüstungsfabrik, stehen und war als „Nationales Gedenkarchiv“ geplant, berichtet Ihor Kulyk, der als Leiter des Archives vorgesehen war.
Doch die Bauarbeiten, die 2023 abgeschlossen sein sollten, wurden gestoppt nachdem die Regierung 58 Millionen Hrywna (rund 1,9 Millionen Euro) zurückgezogen hatte. Kulyk hofft, dass Finanzierung und Bauarbeiten wenigstens teilweise bis Ende des Jahres wieder in Angriff genommen werden. „Allerdings ist es schwer, in der Ukraine irgendetwas zu planen, besonders in Zeiten der Quarantäne“, sagt er.
Weder Kulyk noch die Angestellten in anderen Archiven wüssten genau, wie viel Material im Zentralarchiv zusammenkommen würde. Kulyk rechnet aber mit 4 Millionen Fällen, was deutlich mehr Material wäre als zum Beispiel in den Archiven in Deutschland oder Polen.
In der Ukraine lagerten zahllose Dokumente, die zu Sowjetzeiten von der Regierung in Moskau in die Ukraine transferiert worden waren, erläutert Kulyk. Deshalb hätten Historiker in der Ukraine Zugang zu Informationen, die in Russland vielleicht als geheim gelten.
„Die gesamte Sowjetgeschichte kann anhand unserer Dokumente hier erforscht werden“, meint Kulyk.
Wer sich für die Geschichte der Deutschen in der Ukraine interessiere, könne auch das Archiv des SBU, dem Nachfolger des KGB in der Ukraine, einsehen, rät Kulyk. Dort würden zum Beispiel Informationen über die Deportationen von 1945 lagern und über deutsche Kriegsgefangene, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Bauarbeiter in der Ukraine eingesetzt wurden. Auch das „Ukrainische Martyrologium des 20. Jahrhunderts“, ein Digitalarchiv mit Dokumenten über die Opfer des Sowjetregimes, enthalte wertvolle Daten für die historische Forschung.
Vergessene Welt
In Regionalarchiven wie etwa dem im Oblast Odesa würden zahlreiche Informationen lagern, die noch komplett unerforscht seien, fügt Kulyk hinzu. Auch Historiker Köhler merkt an, dass sich in ukrainischen Online-Datenbanken zahlreiche Daten über deutsche Aussiedler befänden. In einem Verzeichnis habe Köhler Informationen über deutsche Kolonisten im heutigen Rozdilniansky-Bezirk in Odesa gefunden. „Ich habe in dem Archiv mehr 1500 Fälle entdeckt, die nur diesen Bezirk betreffen“, sagt er.
Laut einer Volkszählung lebten 1989 noch fast 38.000 Deutsche in der Ukraine. Die meisten wanderten in den darauffolgenden Jahren nach Deutschland aus, darunter Köhlers Vater.
Heute ist von den Spuren der deutschen Aussiedler kaum etwas übriggeblieben. Nur alte Gräber, verfallene Häuser und die Überlieferungen der Einwohner, die heute noch in den Siedlungen leben, erinnern an die ehemaligen Siedler. In der Stadt Lymanske, wo sich früher die Kolonie Selz befand, erinnert heute ein Museum an deutsche Kolonisten in der Südukraine. Eigentümerin Liudmyla Risling errichtete die Ausstellung im ehemaligen Arbeitsraum ihres Vaters, der in Folge des Stalin-Terrors 1937 starb. Der Rest des Anwesens der Familie Risling beherbergt heute ein Berufskolleg für Landwirtschaft.
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