Frieden um welchen Preis?
Fünf Thesen zu Russlands Krieg in der Ukraine von Jakob Hauter, Doktorand an der School of Slavonic and East European Studies (SSEES) des University College London.
Russlands Überfall auf die Ukraine verursacht weiterhin unermessliches Leid. Die Bilder und Nachrichten, die uns täglich aus den betroffenen Gebieten erreichen, sind nur schwer zu ertragen. Gleichzeitig schüren sie Angst vor einer Eskalation über die Grenzen der Ukraine hinaus. Vor diesem Hintergrund ist Sehnsucht nach einem schnellen Ende des Krieges absolut verständlich. Diese Sehnsucht darf jedoch nicht den Blick darauf vernebeln, dass der Krieg auf sehr unterschiedliche Weise enden könnte.
Möglich wären: Russlands Rückzug, die Kapitulation der Ukraine oder das „Einfrieren“ der Kampfhandlungen entlang einer Waffenstillstandslinie. Alle Szenarien beenden die Kriegshandlungen, aber sie garantieren nicht zwangsläufig einen dauerhaften Frieden. Und ihre Auswirkungen unterscheiden sich fundamental. Eine differenzierte Debatte darüber, auf welche Weise und um welchen Preis der Krieg beendet werden kann und wie Deutschland zu seiner Beendigung beitragen sollte, ist somit dringend notwendig. Zu dieser Debatte möchte ich mit fünf Thesen beitragen.
- Russland ist nicht unbesiegbar. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass der Kampf der Ukraine alles andere als aussichtslos ist. Die russischen Streitkräfte haben sich als deutlich weniger effektiv und schlagfertig entpuppt als von vielen erwartet. Das bedeutet nicht, dass Russland den Krieg nicht doch noch gewinnen kann. Es bedeutet auch nicht, dass die Ukraine in der Lage sein wird, alle besetzten Gebiete zurückzuerobern. Doch es zeigt, dass die Vorstellung eines aussichtslosen Widerstands der Ukrainer*innen ein gefährlicher Mythos ist. Und dieser Mythos läuft Gefahr, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Er könnte den Westen dazu verleiten, die Ukraine zu unzumutbaren Zugeständnissen gegenüber Russland zu drängen – anstatt ihr zu helfen, sich zu verteidigen.
- Die russische Besatzung ist nicht friedlich. Russland wird seine Kontrolle über ukrainisches Territorium nur mit Gewalt konsolidieren können. Gelingt es Russland, weitere Teile der Ukraine dauerhaft zu besetzen, wird es dort zu einer brutalen Repressionskampagne kommen. In den Städten nordwestlich von Kyjiw hat sich bereits gezeigt, dass das russische Militär auch vor Massakern an der Zivilbevölkerung nicht zurückschreckt. Jeder Waffenstillstand, der nicht mit einem vollständigen russischen Truppenabzug einhergeht, überlässt viele Ukrainer*innen der Willkür eines skrupellosen autoritären Regimes.
- Waffen können schützen. Waffenlieferungen an die Ukraine erhöhen nicht zwangsläufig die Zahl der Kriegsopfer. Im Gegenteil, sie können der Ukraine dabei helfen, ihre Zivilbevölkerung zu schützen. Gehen der Ukraine die schweren Waffensysteme aus, kann Russland noch ungestörter zivile Infrastruktur bombardieren. Gleichzeitig drängt materielle Unterlegenheit die ukrainischen Streitkräfte in urbane Gebiete und erhöht damit das Risiko für die Zivilbevölkerung. Schweres Gerät hat hingegen das Potenzial, russische Artillerie und strategische Bomber von Städten fernzuhalten.
- Militärischer Druck hilft der Diplomatie. Putins Ziel war und ist die Vernichtung der Ukraine als eigenständiger, freiheitlicher Staat. Ein Verfehlen dieses Ziels ist unweigerlich eine Demütigung, auf die sich das russische Regime nur unter maximalem Druck einlassen wird. Wirtschaftssanktionen sind dabei ein wichtiger Aspekt, aber sie wirken verhältnismäßig langsam und wurden von Russland zu einem großen Teil bereits eingepreist. Der zentrale Faktor bleibt die militärische Lage: Solange Putin den Eindruck hat, den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen zu können, bleiben die Chancen einer diplomatischen Lösung gering.
- Eine kurzsichtige Deeskalation ist nicht nachhaltig. Eine Politik der Deeskalation um jeden Preis läuft Gefahr, das genaue Gegenteil zu bewirken. Ein zögerlich und schwach wirkender Westen erhöht das Risiko einer weiteren Eskalation von russischer Seite – in der Ukraine und über sie hinaus. Käme das russische Regime zu dem Schluss, dass der Westen aus Angst vor dem russischen Atomwaffenarsenal bei jeder Eskalation automatisch nachgibt, hätte das fatale Folgen für die Glaubwürdigkeit westlicher Beistandsverpflichtungen. Dies würde nicht nur potenzielle internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine unterwandern, sondern auch die Sicherheit Deutschlands östlicher NATO-Verbündeter gefährden.
Den Druck auf Russland maximieren
Aus den ersten zwei Thesen folgt, dass wir die Abwägung von Kosten und Nutzen eines Waffenstillstands der Ukraine überlassen müssen. Die Ukraine ist das Opfer dieses Überfalls. Die Entscheidung, ob sich das Weiterkämpfen lohnt oder ob man eine russische Besatzung in weiteren Teilen des Landes zumindest temporär akzeptieren muss, kann nur dort getroffen werden.
Thesen drei und vier legen nahe, dass Deutschland und seine Verbündeten die Ukraine nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch weiterhin militärisch unterstützen müssen. Natürlich sollte der direkte Eingriff von NATO-Truppen in die aktuellen Kampfhandlungen vermieden werden. Die Bereitstellung relevanter Waffensysteme ist aber nicht nur legitim, sondern auch dringend geboten, denn sie hat das Potenzial, die ukrainische Zivilbevölkerung zu schützen und Russland zu Zugeständnissen zu zwingen. Die schnellstmögliche Reduktion von Öl- und Gasimporten ist keine Alternative zu Waffenlieferungen. Sie muss zusätzlich erfolgen, um den Druck auf Russland zu maximieren.
Die Freiheit verteidigen
Die fünfte These unterstreicht die Bedeutung militärischer Unterstützung über die aktuelle Situation hinaus. Waffenlieferungen erhöhen die Glaubwürdigkeit des Westens und damit die Chancen auf langfristigen Frieden. Wir müssen anerkennen, dass die Ukrainer*innen letztendlich auch unsere eigene Freiheit gegen einen autoritären, imperialistischen Aggressor verteidigen. Sähe sich die Ukraine gezwungen, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, den der Kreml als Sieg über den Westen versteht, wäre dies eine Katastrophe.
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