Die Ukraine nach dem Majdan: Vier Jahre Hoffen

© flickr /​ djan­dyw­dot­com (CC BY-SA 2.0)

Ralf Haska erlebte als Pfarrer der Kirche St. Katha­rina im Kyjiwer Zentrum die blu­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen auf dem Majdan hautnah mit. In seinem per­sön­li­chen Rück­blick schil­dert er ent­täuschte Hoff­nun­gen – und blickt dennoch mit Zuver­sicht nach vorne.

Wer immer auch krank war, bekam medi­zi­ni­sche Hilfe. Kos­ten­los. Ärzte küm­mer­ten sich um Junge wie Alte. Um Pro­tes­tie­rende wie Woh­nungs­lose. Ohne nach Bezah­lung zu fragen. Wer immer auch hungrig war, fand irgendwo ein Feuer, an dem gekocht wurde und an dem er in der Runde der Spei­sen­den herz­lich will­kom­men war. Wer immer auch hungrig nach Wissen war, durfte sich kos­ten­los in der Biblio­thek bedie­nen.  Oder den Vor­le­sun­gen lau­schen, die für alle offen waren.

Wer immer ein Problem hatte, das er selbst nicht lösen konnte, fand jeman­den, der sich seiner annahm. Selbst Anwälte boten kos­ten­los ihre Dienste an. Wer immer einfach jeman­den zum Reden brauchte, fand einen, der ihm gerne zuhörte unter den Tau­sen­den, die singend und tanzend vor der Bühne standen oder in den Zelten zusam­men­ka­men. Wer immer auch ein Gebet spre­chen wollte, fand Mög­lich­keit in den pro­vi­so­ri­schen Kapellen.

Hoff­nung auf Recht und Gerechtigkeit

„Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerech­tig­keit wie ein nie ver­sie­gen­der Bach.“ So hat der alt­tes­ta­ment­li­che Prophet Amos die Worte und den Willen Gottes einmal vor vielen tausend Jahren aus­ge­spro­chen. Und wir spürten diese flie­ßende Gerech­tig­keit, den anschwel­len­den Bach von Recht. Wir alle hofften, dass er sich über das ganze Land ergieße.

Doch die Mäch­ti­gen ließen vorerst Blut fließen. Vor vier Jahren schos­sen sie in die unbe­waff­nete Menge. Gezielte Morde. Sie wollten, dass es aufhört. Dass die Hoff­nung aufhört. Dass der Glaube an die eigene Kraft ver­siegt. Dass die Freude über die wie­der­ge­won­nene Würde ver­san­det. Dass der Mut wieder sinkt. Dass der Gerech­tig­keit und dem Recht dort auf dem Majdan wieder das Wasser abge­dreht würde. Blut. So viel Blut floss.

Aber die Hoff­nung auf die flie­ßen­den Bäche von Recht und die anschwel­len­den Flüsse der Gerech­tig­keit ließ sich nicht mehr auf­hal­ten. Hin­weg­ge­spült wurden die, die meinten, mit Mord sich an der Macht halten zu können. Und man hoffte, dass viele Hand­lan­ger im Hin­ter­grund das gleiche Schick­sal erlei­den: Hin­weg­ge­tra­gen auf den Wellen von Recht und Gerech­tig­keit. Ver­sin­ken in der Bedeutungslosigkeit.

Das Bild einer hellen Zukunft ist trüb geworden

Vier Jahre nach der Revo­lu­tion der Würde in der Ukraine ist das helle Bild, das sich viele für die Zukunft aus­mal­ten, trübe gewor­den. Hier und da spürt man manch­mal einen Sprit­zer aus dem Bach der Gerech­tig­keit. Und manch­mal auch einen Tropfen von Recht. Eine unserer Ärz­tin­nen aus dem Laza­rett unserer Kirche St. Katha­rina [die Kirche befin­det sich unweit der Insti­tutka-Straße, auf der es zu den größten Aus­ein­an­der­set­zun­gen kam, Anm. d. Red.] wurde stell­ver­tre­tende Gesund­heits­mi­nis­te­rin. Doch auch sie ver­mochte wenig von der zemen­tier­ten Kor­rup­tion und Feig­heit und vom Ego­is­mus einzureißen.

Recht und Gerech­tig­keit wird wei­ter­hin behin­dert, umge­lei­tet oder bleibt den Reichen vor­be­hal­ten. Und viele, die an den Quellen des schmut­zi­gen Geldes sitzen, das das schöne Land ver­un­rei­nigt, hoffen, dass diese dunklen Quellen wei­ter­hin spru­deln. Wenig wurde vom Wasser des Rechts hin­weg­ge­spült. Viel von dem man hoffte, es los­zu­wer­den, ist wei­ter­hin da.

Sank­tio­nen ver­min­dern das Blutvergießen

Dazu bot der große Bruder-Nachbar nicht etwa seine Hilfe an, damit Recht und Gerech­tig­keit das Land bewäs­sern könne. Er setzte auf Blut und Krieg und Mord. Angst hat er vor dem Recht und der Gerech­tig­keit. Angst davor, dass diese Bäche von Recht und Gerech­tig­keit auch ins Nach­bar­land durch­si­ckern könnten. Und so ergos­sen und ergie­ßen sich Bäche von unschul­di­gem Blut über die Ukraine.

Manch einer ver­steht nicht, dass Dämme der Sank­tio­nen gegen den großen Nach­barn not­wen­dig sind. Diese Sank­ti­ons­dämme ver­min­dern das Blut­ver­gie­ßen. Und sie helfen dabei einen kleinen Frei­raum zu bilden, damit das Wasser von Recht und Gerech­tig­keit seinen Lauf findet. Wer diese Dämme vor­schnell abbauen will, wäscht seine Hände sicher nicht in Recht und Gerech­tig­keit, sondern hat ganz schnell selbst Blut an den Händen.

Recht und Gerech­tig­keit lassen sich nicht aufhalten

Bleibt nur die Resi­gna­tion? Mit­nich­ten! Das sicher noch kleine Rinnsal von Recht und Gerech­tig­keit findet seine Wege. Das Wasser lässt sich nicht auf­hal­ten. Freunde von überall auf der Welt helfen, die Dämme des Unrechts ein­zu­rei­ßen. Freunde helfen, den Sumpf der Kor­rup­tion tro­cken­zu­le­gen. Und es kommt die Zeit, da immer mehr und mehr Unrecht ver­sin­ken wird im sau­be­ren und lebens­not­wen­di­gen Wasser von Recht und Gerechtigkeit.

Die Hymne, die auf dem Maidan tau­sende Male zum Mut­ma­chen, zum Trotz, für den Zusam­men­halt, für die Liebe und zur Stär­kung gesun­gen wurde, gilt auch heute:

Ще не вмерла України і слава, і воля. /​ Noch sind der Ukraine Ruhm und Frei­heit nicht gestorben.

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