Die Steinmeier-Formel: Worauf sich die Ukraine einlässt
Eine Friedenslösung für den Donbas wäre relativ leicht herbeizuführen, wenn die Ukraine den Bedingungen Putins zustimmen würde. Das ist selbstverständlich nicht im ukrainischen Interesse. Deswegen sollte die Ukraine ihre eigenen Interessen klar definieren und selber Bedingungen stellen. Ein Kommentar von Oleksij Haran
Im Grunde genommen herrscht bei der sogenannten Steinmeier-Formel nur in einem Punkt Konsens: dass die gesetzmäßige Einführung eines Sonderstatus für die unkontrollierten Gebiete an die Durchführung von Kommunalwahlen gebunden ist. Alles Weitere wird unterschiedlich interpretiert.
Es ist kein Geheimnis, dass Russland die Frage nach den Wahlen losgelöst von sicherheitspolitischen Fragen entscheiden will, während die Ukraine die Notwendigkeit betont, eine ganze Reihe von Voraussetzungen zu erfüllen. Diese sind gesetzlich festgeschrieben und bestehen im Abzug russischer Truppen sowie zumindest einer internationalen Überwachung der im Augenblick unkontrollierten ukrainisch-russischen Kontaktlinie. Darüber hinaus sollen bestimmte Absprachen den freien und demokratischen Ablauf solcher Wahlen ermöglichen. Die Absprachen umfassen die freie Betätigung ukrainischer Massenmedien, der zentralen Wahlkommission, ukrainischer politischer Parteien und eine ungehinderte Wahlkampftätigkeit ihrer Vertreter auf diesen Territorien. Es versteht sich von selbst, dass derzeit niemand für ihre Sicherheit garantieren kann. All diese Probleme müssen bis zu den Wahlen gelöst werden.
Problem der Steinmeier-Formel
Die Krux an der Sache ist, dass in der Steinmeier-Formel überhaupt keine Anhaltspunkte für einen Truppenabzug enthalten sind, was ebenfalls einen Spielraum für Interpretationen bietet. Alles hängt davon ab, zu welcher Entscheidung die hochrangigen Vertreter der vier Mitglieder des Normandie-Formats kommen.
Soweit ich das verstehe, sieht die Position der ukrainischen Seite derzeit wie folgt aus: Ihr wollt die Steinmeier-Formel dazu nutzen, die Frage der Wahlen mit der Frage nach dem Sonderstatus zu verknüpfen? Kein Problem. Aber dann lasst uns zunächst die Vereinbarungen erfüllen, die in den Minsker Abkommen festgelegt wurden. Falls die russische Seite nicht mitgeht, kann die ukrainische Diplomatie sagen: Nun, wir wollten zu einer Lösung kommen, aber ihr kommt uns nicht entgegen. Auf diese Weise liegt die Verantwortung für den Abbruch der nächsten Verhandlungsrunde auf der russischen Seite.
Liegt darin eine Gefahr für uns? Das wird davon abhängen, inwieweit Kyjiw, Präsident Selenskyj und die ukrainische Diplomatie dem russischen Druck standhalten können, denn der Kreml setzt offensichtlich auf die Karte, dass Frieden zu schaffen ein zentrales Wahlversprechen von Selenskyj gewesen ist. Dies erzeugt hohe Erwartungen bei den ukrainischen Bürgern, was wiederum dem Kreml in die Hände spielt. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Selenskyj selbst bewusst ist.
Übrigens, wenn Ukrainer ganz konkret danach gefragt werden, ob sie bereit seien, einen Sonderstatus für die besetzten Gebiete in der Verfassung zu verankern, Wahlen zu den Bedingungen der Separatisten abzuhalten und eine sogenannte „Volksmiliz“ zu gründen, dann ist nicht nur landesweit die Mehrheit dagegen, sondern sogar die Mehrheit im Osten sowie die Mehrheit der Wähler der „Diener des Volkes“. Selbst die Mehrheit – wenn auch eine relative – der Wählerschaft der „Oppositionsplattform – Für das Leben“ spricht sich dagegen aus. Fragt man die ukrainischen Bürger, zu welchen Bedingungen die besetzten Gebiete wieder in die Ukraine zurückkehren sollen, so geben 54 Prozent an (und diese Zahl erweist sich als recht stabil), dass dies nur auf eine Rückkehr zum Status quo ante hinauslaufen könne. Dies geht aus einer Umfrage hervor, die im Juni vom „Fonds für demokratische Initiativen“ und dem Razumkow Zentrum durchgeführt wurde.
Sonderstatus als Zankapfel
Außenminister Wadim Pristajko hat auf einer Pressekonferenz im Rahmen der YES-Konferenz mehr als deutlich gemacht, dass es keine Kodifizierung des Sonderstatus in der Verfassung geben werde. In den Minsker Abkommen ist die Rede davon, dass der Status dauerhaft festgeschrieben sein müsse. Doch was genau ist unter „dauerhaft“ zu verstehen? Dies kann auch im Rahmen des bestehenden Gesetzes über den Sonderstatus der lokalen Selbstverwaltung geschehen – auch wenn die russische Seite auf der verfassungsrechtlichen Verankerung besteht.
Was unter „Sonderstatus“ zu verstehen ist, lässt sich dem Anhang ebenjener Minsker Vereinbarungen entnehmen. Demzufolge soll eine „Volksmiliz“ gegründet werden, Gerichte und Staatsanwaltschaft werden mit Zustimmung der Vertreter der nicht kontrollierten Gebiete ernannt, für die russische Sprache ist ein Sonderstatus vorgesehen sowie eine Sonderbehandlung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Russischen Föderation. Das sind ziemlich unangenehme Punkte für uns; dieser Teil der Minsker Abkommen kommt uns nicht zupass. Doch wir betrachten es im allgemeinen Kontext unseres Bedürfnisses nach Sicherheit und der Umsetzung freier Wahlen. Wird es dazu kommen?
Offensichtlich ist es bis dahin noch ein langer Weg. Die Russen wollen alles schnell und sofort umsetzen. Ihre Hauptidee basiert darauf, den derzeit besetzten Teil des Donbas als ukrainisches Territorium anzuerkennen und weiterhin einen Einflusshebel auf den Gebieten zu behalten. Die ukrainische Position ist anders. Davon abgesehen möchte ich darauf hinweisen, dass in den Minsker Abkommen weder von einer „Volksrepublik Luhansk“ noch von einer „Volksrepublik Donezk“ die Rede ist, und es hier somit nicht um „republikanische Parlamente“ geht, sondern lediglich um Wahlen zu kommunalen Vertretungskörperschaften.
Waffenstillstand als Bedingungen für weitere Schritte
Rund um diese Fragen findet eine sehr harte Auseinandersetzung statt, und das nicht nur auf diplomatischer Ebene. Putin bedient sich eindeutig sowohl des Mittels der wirtschaftlichen Erpressung als auch der bewaffneten Aggression. Der jüngste Beschuss soll Druck auf die ukrainische Seite im Zuge der Verhandlungen ausüben. Doch dies erlaubt es uns zu sagen: Entschuldigung, aber schon der erste Punkt des Minsker Abkommens über einen stabilen Waffenstillstand ist nicht erfüllt. Und dies macht es uns möglich, die Verlängerung der Sanktionen zu fordern. Denn in den Beschlüssen – insbesondere der EU – ist festgelegt, dass die Sanktionen gegen Russland solange wirksam bleiben, bis das Minsker Abkommen vollständig umgesetzt ist. Das sind unsere diplomatischen Trümpfe.
Über einige Punkte lässt es sich weiterhin vortrefflich streiten. Nehmen wir den Truppenabzug, der so nicht im Minsker Abkommen vorgesehen ist. Dort ist lediglich die Rede von einem Waffenstillstand und dem Abzug schwerer Waffen. Dieser letzte Punkt gilt auf dem Papier als erfüllt, obwohl die Kombattanten und Russland ihn de facto weiterhin brechen und nach wie vor schwere Waffen einsetzen. Somit ist der Vorschlag des Truppenabzugs ein Novum und nicht im Minsker Abkommen vorgesehen. Die Vorgängerregierung hat beschlossen, an drei Abschnitten einen Abzug der Truppen auszuprobieren: in Stantsiya Luhanska, in Solote und Petriwske. Doch wurde auch festgelegt, dass dies nur unter der Voraussetzung eines dauerhaften Waffenstillstandes geschehen könne. Dies ist nicht gegeben, der Beschuss dauert an. Dessen ungeachtet machte sich Selenskyj an den Truppenabzug in Stantsiya Luhanska, und ließ verlauten, dass wir dies als Nächstes in Solote und Petriwske tun können, und anschließend entlang der gesamten Kontaktlinie. Dabei wurden auf russischer Seite faktisch keine angemessenen Schritte ergriffen. Weder sind die Kombattanten vollständig aus Stantsiya Luhanska und vom Siwerskij Donez abgezogen, noch haben sie ihre Befestigungsanlagen abgebaut. Daher können die ukrainischen Diplomaten dem Westen – wo sowohl Macron und Trump, als auch (in geringerem Maße) Merkel es darauf anlegen, einen Durchbruch auf Kosten der Ukraine zu erzielen – nun zu verstehen geben: wir halten uns an die Abmachungen, doch die Russen weigern sich.
Umgang mit der Grauzone
Noch einige andere Punkte gilt es zu beachten. Da die Kontaktlinie in Stantsiya Luhanska unmittelbar dem Verlauf des Flusses Siwerskij Donez folgt, hat der Truppenabzug zur Folge, dass ein Teil der Siedlung in eine Grauzone gerät. Eine solche Situation wird es auch an anderen Ortschaften geben, an denen ein Truppenabzug stattfinden wird. Es drängt sich die Frage auf, wie wir gedenken, die Sicherheit der ukrainischen Staatsbürger in solchen Grauzonen zu gewährleisten. Etwa durch die Stationierung von ukrainischen Polizeipatrouillen? Das sind schließlich keine Streitkräfte. Doch zumindest darauf kann die ukrainische Seite bestehen; dies ist unser Ass im Ärmel.
Noch eine Sache, die wir ebenfalls als Trumpf ausspielen können, ist die Forderung, dass Debaltsewo in ukrainischer Hand liegen sollte. Dort haben die Russen Minsk II von Anfang an verletzt. Mit einem Wort: wir können einiges an den Verhandlungstisch bringen.
Selenskyjs politisches Mandat ermöglicht Handlungsspielraum
Auf uns kommen schwierige Verhandlungen zu. Um es klar auszudrücken: Jedes Zugeständnis muss hart erkämpft werden. Es ist sehr wichtig, dass Präsident Selenskiy das versteht, denn der politische Wille steht hinter ihm. Früher konnte Petro Poroschenko seinen westlichen Partnern sagen: „Ich bin dafür – doch über das Parlament habe ich keine Kontrolle.“ Zu dem Zeitpunkt hat das funktioniert – mehr noch, 2015/16 hat uns der Westen unter Druck gesetzt, damit wir möglichst schnell einen Sonderstatus in die Verfassung einschrieben und zu den Wahlen schreiten. Das war nicht nur die sogenannte Steinmeier-Formel, sondern auch der Maurel-Plan, für den die Abgeordneten nicht stimmen würden.
Selenskyj wird es in dieser Hinsicht schwerer haben: Er kann das Parlament nicht als Vorwand nutzen, da jeder weiß, dass er dort bis auf Weiteres eine gefügige Mehrheit hat. Er kann sich jedoch auf die öffentliche Meinung berufen, die solchen Kompromissen ablehnend gegenübersteht. Im Übrigen kann er auf den aktiven Teil der ukrainischen Gesellschaft, die ATO-Veteranen und die Expertengemeinschaft zählen, die sich gegen ungerechtfertigte Zugeständnisse aussprechen. Das sind gute Argumente, die Selenskyj ins Feld führen kann. Wenn er will.
Im Augenblick stimmen wir der Formel de jure zu, doch im selben Atemzug sagen wir, dass ohne ein Entgegenkommen zu unseren Bedingungen bei den Wahlen und dem Sonderstatus keine Bewegung in die Sache kommen wird. Die Frage ist, ob es Russland und dem Westen gelingt, Selenskyj gemeinsam einige Zugeständnisse abzuringen – oder ob er entschiedenen Widerstand wird leisten können gegen alles, was unseren Interessen zuwiderläuft.
Welche Kompromisse sind möglich?
Theoretisch können wir bestimmte Zugeständnisse machen. Beispielsweise lehnt die Mehrheit der ukrainischen Bürger eine vollständige Amnestie für die Kombattanten ab, gleichzeitig befürworten sie eine Amnestie für diejenigen, die keine schweren Verbrechen begangen haben. Dann wäre da die Lustration. Angenommen, die Reintegration der Gebiete würde beginnen: Was sollen wir mit den Leuten anstellen, die in den „staatlichen Strukturen“ der beiden „Volksrepubliken“ gearbeitet haben? Hier sind Kompromisse möglich, etwa gegenüber denjenigen, die im sozialstaatlichen Bereich tätig waren, in der Gesundheitsfürsorge, beim Brandschutz oder im kommunalen Wohnungsbau. Solche Kompromisse sind möglich und nötig – für den Fall, dass Putin doch auf unsere Bedingungen eingeht und dann auf eine gesichtswahrende Lösung vor seinen Wählern angewiesen sein wird.
Welchen Nutzen könnte Putin daraus ziehen, Konzessionen zuzustimmen? Die schwierige Situation in Russland hält bis heute an, und die sektoralen Wirtschaftssanktionen bereiten nach wie vor großes Kopfzerbrechen. Die Mitgliedschaft Russlands in der G8 ist suspendiert. Obendrein ist der Krieg im Donbas für Russland ein kostspieliges Unterfangen. Doch sollte man diese Faktoren nicht überbewerten.
Auch unsere Situation hat sich nicht geändert. Unsere Leute sterben nach wie vor. Wir wollen, dass der Beschuss aufhört. Wir können den Beschuss leicht beenden, indem wir den Bedingungen Putins zustimmen. Doch ist das in unserem Interesse? Natürlich nicht. Also sollten wir wir unsere eigenen Interessen genau definieren und unsere Bedingungen stellen.
Die Formel, die in Kyjiw anscheinend Zustimmung zu finden scheint, lässt sich der Auslegung des Außenministers zufolge nicht als „Verrat“ bezeichnen. Die Frage ist, ob es uns gelingt, unsere Forderungen durchzusetzen. Und ob sich Präsident Selenskyj der Bedeutung dessen ausreichend bewusst ist. Denn mit solch einem guten Rating wäre es ihm ein Leichtes, vor die Wähler zu treten und zu verkünden: Ich habe euch Frieden gebracht. Die Frage wäre nur, zu welchen Bedingungen?
Der Artikel ist eine autorisierte Übersetzung. Das Original erschien bei Novoe Vremja.
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