Die ukrainische Präsidentschaft: Was steht bei den Wahlen auf dem Spiel?
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine hatte das Präsidentenamt eine große Bedeutung. Mit welcher Machtfülle ist das Amt heute ausgestattet und welcher Preis steht für die Präsidentschaftskandidaten auf dem Spiel? Eine Analyse von André Härtel
Auch nach der sukzessiven Öffnung durch der «Orangene Revolution» (2004) und die «Revolution der Würde» (2014) gelten Wahlen in der Ukraine immer noch als Sollbruchstellen. Es lohnt sich daher zu fragen mit welcher Machtfülle das Präsidentenamt heute ausgestattet ist und wie es durch den derzeitigen Präsidenten, Petro Poroschenko, geprägt wurde. Kurz gesagt: welcher Preis steht für die Kandidaten im März und April diesen Jahres auf dem Spiel und was erwartet sie bei einem möglichen Sieg?
Regionale Präsidialisierungstendenz
Das Präsidentenamt ist ein für die post-sowjetischen Staaten, sieht man einmal von den kurzlebigen Republiken zu Beginn des 20. Jahrhundert und der Einführung des Amtes in der (sehr) späten Sowjetunion unter Michail Gorbatschow (1990) ab, grundsätzlich neues Phänomen. Der Semipräsidentialismus eröffnete zunächst die Möglichkeit einer Machtteilung zwischen neuen bzw. reformorientierten sowie Vertretern des alten Regimes und sollte angesichts fehlender echter parlamentarischer Erfahrungen stabilisierend auf das Gesamtsystem wirken. Wie in vielen anderen Staaten der Region kam es allerdings auch in der Ukraine schnell zu einer Exekutivierung des politischen Systems bzw. einem Ausbau präsidentieller Macht. Anders als in Russland und Belarus verlief dieser Prozess jedoch nicht störungsfrei. Vielmehr entwickelte sich gerade die Präsidentschaft zur Projektionsfläche eines seit dem Beginn der 2000er Jahre anhaltenden Ringens der ukrainischen Gesellschaft mit ihrer politischen Elite. Neben dieser Tatsache haben auf den derzeitigen Zustand bzw. die Machtfülle des Amtes das sehr unterschiedliche persönliche Handeln der bisher fünf Amtsinhaber sowie Ukraine-spezifische strukturelle Faktoren einen erheblichen Einfluss.
Die Verfassungswirklichkeit in der Ukraine
Nach einem Zwischenspiel unter Wiktor Janukowitsch kehrte die Ukraine 2014 wieder zur 2004 vereinbarten parlamentarisch-präsidentiellen Variante des Semi-Präsidentialismus zurück. Trotzdem ist die Werchowna Rada heute keineswegs die in der Verfassung vorgesehene «erste», und damit für den politischen Entscheidungsprozess wichtigste Institution. Dass die Verfassungswirklichkeit der Ukraine eine andere ist, hat insbesondere mit drei Faktoren zu tun: 1) der präsidentiell-parlamentarischen Prägung der Verfassung bis 2004 bzw. der unter Leonid Kutschma seit 1996 durch Klientelismus, Patronage, administrative Ressourcen und «Schattenkabinette» aufgebauten faktischen Vorherrschaft des Präsidenten insbesondere gegenüber dem Parlament; 2) dem bis heute unterentwickelten Parteiensystem und Parlamentarismus, der bisher nur sehr instabile Regierungskoalitionen produziert hat und mit der ukrainischen Gesellschaft organisatorisch nur schwach verbunden ist; sowie 3) der weiterhin stark von informellen Praktiken geprägten politischen Kultur, die für viele Ukrainer eben immer noch einen «starken Mann» (seltener Frau) an der Spitze des Staates bedeutet. Das so entstandene, deutliche Übergewicht des Präsidenten im politischen System wurde seit Kutschma im Grunde von allen Amtsnachfolgern nachgeahmt und, noch wichtiger, von den meisten anderen Akteuren sowie einem Großteil der Bevölkerung internalisiert.
Es ist allerdings nicht so, dass das Amt des Präsidenten nicht auch mit spezifischen Herausforderungen für dessen Inhaber aufwarten würde. Die mit Abstand wichtigste Aufgabe ergibt sich tradititionell aus der unterentwickelten Staatlichkeit bzw. der Tatsache, dass die Macht im nur rein formal «starken» Zentralstaat Ukraine zum Großteil bei regional basierten, politik-ökonomischen Elitennetzwerken liegt. Diese Fragmentierung haben ukrainische Präsidenten stets mit mehr oder weniger großem Erfolg in der Bildung von so genannten «Parteien der Macht» aufzufangen versucht. Während Leonid Kutschma und Petro Poroschenko dieses machiavellistische Spiel der Kooptation, des Gegeneinander-Ausspielens und Balancierens der unterschiedlichen Interessen gut verstanden und dementsprechende Systemstabilität erzeugen konnten, führten die fehlende Hausmacht Viktor Juschtschenkos sowie die einseitige Klientelpolitik Viktor Janukowitschs zu schnellem Machtverlust und sogar zur Revolution.
Poroschenko – Abnahme politischer, Zunahme ideologischer Macht?
Der derzeitige Präsident der Ukraine, der «politische Unternehmer» Petro Poroschenko, war bei Amtsantritt mit einer für ukrainische Präsidenten neuartigen Konstellation konfrontiert: dem Verlust von Staatsterritorium auf der Krim und alsbald auch im Donbas bzw. einem anhaltenden faktischen Kriegszustand. Hinzu kam, dass die Präsidentschaft ähnlich wie bei Juschtschenko 2004 auf einer «revolutionären Plattform» gewonnen wurde und daher hohe Reform- und Demokratisierungserwartungen vorherrschten. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu beobachten, wie es dem derzeitigen Präsidenten gelang die große Bedeutung des Präsidentenamtes zu wahren.
Zwar musste seit 2014, sichtbar vor allem an der Einrichtung eines Antikorruptionssystems, der Dezentralisierung und der verbreiteten Einbindung der Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozesse, ein Verlust an «politischer Macht» hingenommen werden. Hinzu kam, dass die Gebietsverluste und die mit dem Krieg verbundene anhaltend schlechte wirtschaftliche Lage auch die Möglichkeit des Präsidenten zur Ressourcenverteilung und Patronage einschränkten. Allerdings erwies sich Poroschenko, ähnlich wie einst der «schlaue Fuchs» Kutschma, von Beginn an als smarter Machtpolitiker, der weder vor der Einbindung ehemaliger Janukowitsch-Getreuer in sein Netzwerk noch vor wenig verdeckten Intrigen gegen Antikorruptions-NGOs und Aktivisten zurückschreckte. Seit Mitte 2016 gelang so die Herstellung einer relativ stabilen, am status-quo orientierten «Partei der Macht», mit deren Hilfe Poroschenko eine progressive Demokratisierung verhindern und das «alte System» in seinen Grundzügen erhalten konnte.
Wichtiger ist aber noch, wie Poroschenko die veränderte Ausgangslage nach der Revolution geschickt nutzte, um ein bisher in der Ukraine ungekanntes Maß an «ideologischer Macht» aufzubauen. So ermöglichten der Krieg gegen Russland bzw. der Verlust eines Großteils russischsprachiger Wähler auf der Krim und im Donbas die Konstruktion und Verbreitung eines nationalukrainischen Narrativs, das von der Präsidialadministration seit den De-Kommunisierungsgesetzen vom April 2015 über eine einseitige Geschichts- und Sprachenpolitik gezielt gesteuert und von einem Großteil der Bevölkerung angenommen wird. So konnte und kann der Oberbefehlshaber Petro Poroschenko, trotz lange sehr niedriger Umfragewerte und einer wirtschaftspolitisch bescheidenen Bilanz, den politischen Diskurs in Richtung identitärer und sicherheitspolitischer Fragen lenken und sich eine Wiederwahlchance erhalten.
Schluss – in Zukunft ohne Präsident?
In der Ukraine ist der Präsident selbst angesichts der sehr dynamischen politischen Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte die zentrale politische Figur geblieben. Trotz der Ankündigung Tymoschenkos, das politische System des Landes grundlegend in Richtung einer parlamentarischen Kanzlerdemokratie reformieren zu wollen, spricht wenig dafür, dass das Amt grundlegend entmachtet wird. Der anhaltende Kriegszustand stärkt die Rolle des Oberbefehlshabers und spricht gegen Systemexperimente. Die Werchowna Rada hat sich ungeachtet des Maidans und einer graduellen Professionalisierung nicht zu einer echten Volksvertretung entwickelt. Ihre machtpolitische Aufwertung würde daher kaum mit einer echten Demokratisierung einhergehen und könnte aufgrund stark divergierender Programmatiken der zahlreichen politischen Formationen sogar die Existenz des Landes gefährden. Bei den Wahlen im Frühjahr steht daher einiges auf dem Spiel: jeder neue Präsident oder Präsidentin «gewinnt» eine erhebliche politische und ideologische Machtfülle, ist aber zugleich unmittelbar verantwortlich für den Erhalt der so fragilen politischen und territorialen Stabilität der Ukraine.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.