Präsidentschaftswahlen in der Ukraine: Der Verlierer steht schon fest
Noch bleiben fast drei Wochen bis zum ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. Der Verlierer der Wahlen steht bereits heute schon fest: die Maidan-Opposition. Über die Beharrlichkeit der alten Elite und das Versagen der liberalen Kräfte berichtet André Härtel.
Noch wissen wir nicht wer von den über 40 registrierten Kandidaten Ende April diesen Jahres zum ukrainischen Präsidenten gewählt werden wird. Eines scheint jedoch schon zum jetzigen Zeitpunkt klar: beim Gewinner der Wahl wird es sich wieder nicht um einen Vertreter der liberal-demokratischen Strömung des Maidans handeln, sondern entweder um einen Repräsentanten der «alten» Generation ukrainischer Politiker oder um einen politischen Novizen mit unklaren ideologischen Präferenzen. Warum ist die politische Elite der Ukraine auch nach mehreren revolutionären Schüben derart wandlungsresistent? Was verhindert den Durchbruch junger und im Sinne des Maidan agierender Politiker und Parteiformationen?
Die beharrliche ukrainische «Machtelite»
Heute wird oft vergessen, dass bereits die unabhängige Ukraine von 1991 weniger Folge einer Bewegung von «unten», als mehr ein wesentlich von Eliten gesteuertes Projekt gewesen ist. Die zu «Nationalkommunisten» gewandelten Parteieliten der Kommunistischen Partei der Ukraine waren es, die den Ablösungsprozess von Moskau vorrantrieben, um im neu gegründeten Staat dem von der sowjetischen Hauptstadt ausgehenden Reformeifer zu entgehen sowie Posten und Pfründe zu sichern. Der Großteil der «neuen» politische Elite der Ukraine war somit identisch mit der «Nomenklatura» der untergegangenen Sowjetukraine. Dies erklärt den geringen Demokratisierungs- und Reformeifer zu Beginn der 1990er Jahre sowie die Beharrlichkeit von patrimonialer Eliten- und obrigkeitshöriger politischer Kultur im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängkeit.
Seit Ende des letzten Jahrtausends kam es im Rahmen mehrerer Privatisierungswellen zu einer Ökonomisierung und Oligarchisierung der politischen Eliten, die deren Struktur bis heute charakterisiert. Am besten darstellen lässt sich dieses Elitensystem, wie in ukrainischen Publikationen üblich, als eine Ansammlung von Personennetzwerken – verschieden groß, sich nur selten überlappend, aber in jedem Fall auf eine persönliche Autorität oder Führungsfigur zugeschnitten. Diese haben oft eine regionale Prägung, verbinden politische, administrative, ökonomische als auch Akteure der Medienwelt und weisen vor allem eine hohe Kontinuität und Abgeschlossenheit, allerdings weit weniger starke ideologische Unterschiede auf. Der Zusammenhalt der einzelnen Netzwerke bzw. die Loyalität zur Führungsfigur wird in der Regel durch die Einbindung in weitverzweigte, intransparente ökonomische Strukturen gewährleistet, die sich nicht selten am Staatseigentum selbst bereichern. Trotzdem die einzelnen Netzwerke oft scharf miteinander konkurrieren, sind Koalitionen vor allem zum Systemerhalt alles andere als unüblich.
Die Tragik der Maidan-Bewegung
Die Tragik der bisherigen «partiell revolutionären» Bewegungen in der post-sowjetischen Ukraine liegt darin begründet, dass keine von ihnen auch nur annähernd in der Lage gewesen ist die gegenwärtige Elitenstruktur aufzubrechen. Die Gründe für diese Problematik sind mannigfaltig und auf mehreren Ebenen zu suchen, wobei drei Faktoren herausstechen:
- Zum Einen ist unterschätzt worden, wie sehr die oben charakterisierte «alte Elite» in der Ukraine parallel zu autoritären Elitennetzwerken in den Nachbarländern, insbesondere in und nach der Zeit der s.g. «Farbenrevolutionen» (grob 2003–2012) aus Fehlern gelernt, und neue Methoden zur Sicherung des politischen Status-quo eingeübt hat. In der Ukraine sind neben den regional üblichen Formen der «virtual politics» (Gründung von fake-Parteien, Simulation demokratischer Prozesse etc.) und deren Verfeinerung hier v.a. das geschickte politische Marketing hervorzuheben, mit dem große Teile der gegenwärtigen Elite seit 2014 Begrifflichkeiten und Wertvorstellungen der Maidan-Bewegung für sich reklamieren.
- Zum Anderen hat es die ukrainische Zivilgesellschaft, deren Erwachen bzw. Erstarken seit 2013 ja unverkennbar sind, nicht geschafft, sich auch politisch so zu organisieren, dass der Maidan in die Institutionen «wandern» und so eine echte Gegenelite hätte entstehen können. Vielmehr haben sich erneut viele Vertreter der Zivilgesellschaft von nur oberflächlich «neuen» Formationen der «alten Elite» kooptieren lassen (siehe die erst kürzlich aus Poroschenkos Block ausgetretenen S. Leschenko, M. Nayem und S. Salischtschuk) oder sich in kaum verbundenen und zu kleinen Parteien und Initiativen (siehe die elektoral kaum erwähnenswerten «Demokraticheskij Allianc» oder «Sila Ludeij») zusammengeschlossen und an dieser abgearbeitet. Der Vorwurf an den liberalen Teil der Maidan-Bewegung wiegt umso schwerer, als man die Jahre zwischen ca. 2014 und 2017 angesichts fehlender (oder strukturell unmöglicher) Repressionen als vllt. größtes Gelegenheitsfenster zur politischen Selbstorganisation begreifen muss.
- Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass sich die gegenwärtige Elitenstruktur der Ukraine in ihren zentralen Charakteristika – Patrimonialismus, gesellschaftspolitischer Konservativismus, und sozialpolitischer Etatismus – immer noch mit der politischen Mehrheitskultur des Landes deckt. Trotz des Maidans und neuer Wertvorstellungen, insbesondere bei der jüngeren Generation, bleiben liberal-demokratische und politisch progressive Gruppen ein marginales Phänomen Kiews und der großen Städte. Dies gilt im übrigen auch für Teile der ukrainischen Zivilgesellschaft, in der hinter westlich-liberal anmutendenden Fassaden und Rhetorik oft auch illiberale Ansichten anzutreffen sind.
Wie echter Pluralismus entstehen kann
Was muss geschehen, damit in einem Land wie der Ukraine echter politischer Pluralismus – und nicht nur der vom Politologen Lucan Way derzeit diagnostizierte «zufällige Pluralismus» miteinander konkurrierender regionaler Elitennetzwerke – entsteht? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Gerade die auf externen «Demokratieimport» bzw. «Demokratieunterstützung» zielenden Maßnahmen sind in der jüngsten Vergangenheit in Kritik geraten und machen nun einer nüchternen Einschätzung der lokalen Gegebenheiten Platz. In der Ukraine schien der Maidan im Gegensatz zu vielen anderen Systemen der Region bereits eine neue Form der Beziehung zwischen politischen Eliten, Zivil- und Restgesellschaft erkämpft zu haben. Die entscheidende Schwelle der politischen Repräsentation blieb dem liberal-progressiven Lager und auch anderen alternativen Strömungen aber verwehrt. Um das zu ändern bedarf es vor allem einer stärkeren Politisierung und politischen Organisation von zumindest Teilen der aktiven Zivilgesellschaft. Hier geht es um das Schaffen einer verbands- und parteimässig effektiv organisierten Gegenelite, die in der Bevölkerung auch als echte Alternative wahrgenommen wird. Diese muss, um die Institutionen zu erreichen, aber auch faire Wettbewerbungsbedingungen, etwa bei der Parteienfinanzierung, im Wahlsystem und beim Zugang zu den Medien vorfinden. Dabei kann dann auch der Druck der internationalen Gemeinschaft tatsächlich helfen.
Vor dem aktuellen Hintergrund ist es allerdings nicht schwer zu verstehen, warum sich unter den aussichtsreichen Kandidaten für die anstehende Präsidentschaftswahl vor allem schon in der Kutschma-Ära (1994–2004) aktive und bekannte Politiker, wie Poroschenko und Tymoschenko, wiederfinden. Auch das Phänomen Selenskij fällt wie wir wissen nicht völlig aus dem hier verwendeten Rahmen elitärer Erklärungen: einerseits spiegelt die bisherige Popularität des politisch erfahrungslosen Komikers eben den offensichtlichen Protest gegen das sonst alternativlose Angebot an alteingesessenen Kräften wider, andererseits wird auch Selenskijs Kampagne erheblich durch einen allseits bekannten Oligarchen gefördert. Unter diesen Umständen ist kaum zu erwarten, dass sich an den verkrusteten Machtstrukturen in der Ukraine in den nächsten Jahren etwas wesentliches ändern wird. Das liberal-demokratische und progressive Lager, und mit ihm die Hoffnungen vieler ukrainischer Bürger auf eine schnelleres Vorrantreiben der Reformprozesse und echte Erfolge im Kampf gegen die Korruption, wird daher der erste Verlierer dieser Wahl sein.
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