Selen­skyjs Regie­rungs­kurs- Drei Szenarien

Die Ukraine hat einen neuen Prä­si­den­ten gewählt. Viele Ost­eu­ro­pa­ex­per­ten und Jour­na­lis­ten mut­ma­ßen über den zukünf­ti­gen Kurs Wolo­dymyr Selen­skyjs. Wer wird Schlüs­sel­po­si­tio­nen in seiner Admi­nis­tra­tion beset­zen? Wird er die euro­päi­sche Inte­gra­tion seines Landes fort­set­zen? Kann er die Situa­tion auf dem Donbas befrie­den? Schafft er vor allem die Olig­ar­chie zu schwä­chen, wenn nicht zu zer­stö­ren und die öko­no­mi­sche Situa­tion des Landes maß­geb­lich zu ver­bes­sern? Oder macht die Ukraine unter dem neuen Prä­si­den­ten Rück­schritte und kehrt in den rus­si­schen Ein­fluss­be­reich zurück?

Jeder der heute behaup­tet, er würde wissen, wohin der Regie­rungs­kurs von Selen­skyj führt, lügt oder täuscht bewusst, denn der bekannte Show­mas­ter und erfolg­rei­che Unter­neh­mer ist für die Regie­ren­den und Ukraine-Exper­ten dieser Welt noch immer nahezu eine Black Box. Darin liegen sein Fluch und Segen zu gleich, vor allem in Hin­blick auf die kom­pli­zier­ten Bezie­hun­gen zu Russ­land und der EU.

Portrait von Michael Groys

Michael Groys arbei­tet als poli­ti­scher Berater, ist Mit­glied der SPD und Schreibt für Tages­spie­gel Causa zu Außen- und Sicherheitspolitik

Auch inner­halb des ukrai­ni­schen Par­la­ments muss Selen­skyj Ver­bün­dete suchen. Aktuell ist er ein Prä­si­dent ohne eigene Partei und Macht­ba­sis. Es ist heute schwer zu sagen, welche Koali­tio­nen sich im Par­la­ment vor den im Herbst anste­hen­den Par­la­ments­wah­len her­aus­bil­den werden, dennoch hat der jetzige Minis­ter­prä­si­dent Hro­js­man dem neuen Prä­si­den­ten seine Koope­ra­tion ange­bo­ten, was ent­we­der als eine rhe­to­ri­sche Finte oder als Zeichen der Schwä­che des Poro­schenko Lager zu ver­ste­hen ist.

Ich halte die drei fol­gen­den Sze­na­rien Selen­skyjs zukünf­ti­gen Regie­rungs­kur­ses denkbar.

(Zu) lang­sa­mer Fortschritt

Als plau­si­bel gilt zum einen die Kon­ti­nui­tät des von Poro­schenko ange­sto­ße­nen Kurs der euroat­la­ti­schen Inte­gra­tion, also die Mög­lich­keit, dass Selen­skyj einen EU sowie NATO-Bei­tritt vor­an­treibt. Dies bedeu­tet im Umkehr­schluss wahr­schein­lich auch, dass die Situa­tion im Donbas im brü­chi­gen Minsker Format bleibt und sich fak­tisch am Krieg im Donbas kaum etwas ändert.

Die seit 2014 lau­fen­den Refor­men setzen sich schlep­pend fort und die öko­no­mi­sche Situa­tion wird nur bedingt ver­bes­sert, da sich wich­tige Fak­to­ren, wie aus­län­di­sche Direkt­in­ves­ti­tio­nen, sich nur schlep­pend ver­bes­sern. Mit Selen­skyj als Prä­si­den­ten könnte es also ledig­lich eine pro­fes­sio­nel­lere Medi­en­prä­senz und ver­bes­serte Kom­mu­ni­ka­tion mit den Bürgern sowie einen anderen poli­ti­schen und rhe­to­ri­schen Stil geben.

Dieses Sze­na­rio gilt mir als wahr­schein­lich, da die Ukraine nach wie vor, enorme sys­tem­mi­sche Pro­bleme in der poli­ti­schen Steue­rung hat. Begrün­det ist dies vor allem mit der Kor­rup­tion und der Vet­tern­wirt­schaft. Selen­skyjs Visio­nen könnten also schlicht­weg an der Rea­li­tät scheitern.

Des Wei­te­ren kann heute kaum jemand den wirk­li­chen Ein­fluss des umstrit­te­nen Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj auf den Prä­si­den­ten ein­schät­zen. Diesem wird nach­ge­sagt, großen Ein­fluss auf Selen­skyj seinen Geschäfts­part­ner zu haben. Kolo­mo­js­kyj und Selen­skyj ver­nei­nen dies beide vehe­ment, was Exper­ten der ukrai­ni­schen Politik jedoch nicht beru­higt. Zeigen wird sich das vor allem im Umgang mit der Pri­vat­Bank. Das wich­tigste Geld­in­sti­tut der Ukraine war eines von Kolo­mo­js­kyjs wich­tigs­ten Unter­neh­men. 2016 ließ Poro­schenko die Bank verstaatlichen.

Russ­land­freund­lich­keit?

Das zweite Sze­na­rio beinhal­tet die Per­spek­tive, dass Selen­skyj einen pro-rus­si­schen Kurs ein­schla­gen könnte. Damit hat Poro­schenko erfolg­los im Wahl­kampf gespielt und Selen­skyj als fünfte Kolonne Moskaus dar­ge­stellt. Zwar hatte Selen­skyj in der Zeit während und nach dem Majdan ein­deu­tige pro-ukrai­ni­sche Posi­tio­nen ver­tre­ten, hatte aber in der Ver­gan­gen­heit durch­aus enge Geschäfts­be­zie­hun­gen nach Russ­land und ist dort nicht weniger bekannt als in der Heimat.

Selbst wenn man dies kom­plett aus­blen­det, ist es poli­tisch denkbar, dass der erfah­rene rus­si­sche Prä­si­dent Putin und sein geris­se­ner Außen­mi­nis­ter Sergey Lawrow, Selen­skyj in eine gefähr­li­che poli­ti­sche Falle locken könnten. Ob nun bewusst oder unbe­wusst könnte also Selen­skyj in Moskaus Inter­esse handeln. Ent­schei­dend wird sein, mit welchen Bera­tern Selen­skyj sich umringt und ob er auch in der Außen- und Sicher­heits­po­li­tik auf erfah­rene Leute setzt, um genau dies zu vermeiden.

Dennoch scheint das Sze­na­rio einer abso­lu­ten Annäh­rung an Russ­land als wenig wahr­schein­lich, da die Zivil­be­völ­ke­rung und vor allem die vielen Ange­hö­ri­gen der Armee einen neuen Kuschel­kurs nicht hin­neh­men werden. Der Krieg beider Länder hat einen sehr tiefen Riss zwi­schen der Ukraine und Russ­land geschaf­fen. Dessen ist sich der rus­si­sche Staat auch fünf Jahre später nicht ganz bewusst.

Balance im Interessenskonflikt

Das letzte Sze­na­rio wäre im Prinzip das, was die Ukrai­ner von Selen­skyj erwar­ten. Sie wollen einen unkon­ven­tio­nel­len Poli­ti­ker, der in der neuen Ukraine sozia­li­siert ist und keinen sowje­ti­schen Charme hat, jedoch dem blu­ti­gen Krieg ein Ende setzen kann. In diesem Sze­na­rio bekämpft er die Kor­rup­tion, indem er die Arbeit der ermit­teln­den Behör­den nicht ein­schränkt und einen guten Gene­ral­staats­an­walt­schaft sowie einen fähigen Chef des Inhalts­ge­heim­diens­tes benennt. Wie im Wahl­kampf ange­kün­digt, schränkt Selen­skyj die Kor­rup­tion ein, um die Rechts­staat­lich­keit im Land und damit die hei­mi­sche Wirt­schaft zu stärken sowie aus­län­di­sche Inves­to­ren anzu­lo­cken. Größere aus­län­di­sche Inves­ti­tio­nen sind jedoch erst nach der Bei­le­gung des Krieges im Osten zu erwarten.

Der Ball zur Been­di­gung dieses Krieges liegt jedoch in Moskau. Der ukrai­ni­sche Prä­si­dent muss in der Lage sein einen Kom­pro­miss zu finden, ohne die Inter­es­sen der Ukraine zu opfern. Selen­skyj könnte durch neue Initia­ti­ven mit den west­li­chen Bünd­nis­part­nern neue poli­ti­sche Rea­li­tä­ten schaf­fen und den Status Quo ändern. Es wäre ein Balan­ce­akt der Ukraine, welcher ihre poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Unab­hän­gig­keit immer wieder gegen­über Russ­land behaup­ten muss.

Zusam­men­ge­fasst kann man schon jetzt getrost sagen: Die Zukunft der Ukraine liegt nicht nur in den Händen des ukrai­ni­schen Volkes und eines 41-jäh­ri­gen Mannes allein, sondern auch Moskau, Brüssel und vor allem Berlin. Die Ukraine zählt auf unsere Unter­stüt­zung. Wir sollten um den Frie­dens­wil­len alles Mög­li­che unter­neh­men, die Euro­päi­sie­rung und Demo­kra­ti­sie­rung des Landes voranzutreiben.

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