Selenskyjs Regierungskurs- Drei Szenarien
Die Ukraine hat einen neuen Präsidenten gewählt. Viele Osteuropaexperten und Journalisten mutmaßen über den zukünftigen Kurs Wolodymyr Selenskyjs. Wer wird Schlüsselpositionen in seiner Administration besetzen? Wird er die europäische Integration seines Landes fortsetzen? Kann er die Situation auf dem Donbas befrieden? Schafft er vor allem die Oligarchie zu schwächen, wenn nicht zu zerstören und die ökonomische Situation des Landes maßgeblich zu verbessern? Oder macht die Ukraine unter dem neuen Präsidenten Rückschritte und kehrt in den russischen Einflussbereich zurück?
Jeder der heute behauptet, er würde wissen, wohin der Regierungskurs von Selenskyj führt, lügt oder täuscht bewusst, denn der bekannte Showmaster und erfolgreiche Unternehmer ist für die Regierenden und Ukraine-Experten dieser Welt noch immer nahezu eine Black Box. Darin liegen sein Fluch und Segen zu gleich, vor allem in Hinblick auf die komplizierten Beziehungen zu Russland und der EU.
Auch innerhalb des ukrainischen Parlaments muss Selenskyj Verbündete suchen. Aktuell ist er ein Präsident ohne eigene Partei und Machtbasis. Es ist heute schwer zu sagen, welche Koalitionen sich im Parlament vor den im Herbst anstehenden Parlamentswahlen herausbilden werden, dennoch hat der jetzige Ministerpräsident Hrojsman dem neuen Präsidenten seine Kooperation angeboten, was entweder als eine rhetorische Finte oder als Zeichen der Schwäche des Poroschenko Lager zu verstehen ist.
Ich halte die drei folgenden Szenarien Selenskyjs zukünftigen Regierungskurses denkbar.
(Zu) langsamer Fortschritt
Als plausibel gilt zum einen die Kontinuität des von Poroschenko angestoßenen Kurs der euroatlatischen Integration, also die Möglichkeit, dass Selenskyj einen EU sowie NATO-Beitritt vorantreibt. Dies bedeutet im Umkehrschluss wahrscheinlich auch, dass die Situation im Donbas im brüchigen Minsker Format bleibt und sich faktisch am Krieg im Donbas kaum etwas ändert.
Die seit 2014 laufenden Reformen setzen sich schleppend fort und die ökonomische Situation wird nur bedingt verbessert, da sich wichtige Faktoren, wie ausländische Direktinvestitionen, sich nur schleppend verbessern. Mit Selenskyj als Präsidenten könnte es also lediglich eine professionellere Medienpräsenz und verbesserte Kommunikation mit den Bürgern sowie einen anderen politischen und rhetorischen Stil geben.
Dieses Szenario gilt mir als wahrscheinlich, da die Ukraine nach wie vor, enorme systemmische Probleme in der politischen Steuerung hat. Begründet ist dies vor allem mit der Korruption und der Vetternwirtschaft. Selenskyjs Visionen könnten also schlichtweg an der Realität scheitern.
Des Weiteren kann heute kaum jemand den wirklichen Einfluss des umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomojskyj auf den Präsidenten einschätzen. Diesem wird nachgesagt, großen Einfluss auf Selenskyj seinen Geschäftspartner zu haben. Kolomojskyj und Selenskyj verneinen dies beide vehement, was Experten der ukrainischen Politik jedoch nicht beruhigt. Zeigen wird sich das vor allem im Umgang mit der PrivatBank. Das wichtigste Geldinstitut der Ukraine war eines von Kolomojskyjs wichtigsten Unternehmen. 2016 ließ Poroschenko die Bank verstaatlichen.
Russlandfreundlichkeit?
Das zweite Szenario beinhaltet die Perspektive, dass Selenskyj einen pro-russischen Kurs einschlagen könnte. Damit hat Poroschenko erfolglos im Wahlkampf gespielt und Selenskyj als fünfte Kolonne Moskaus dargestellt. Zwar hatte Selenskyj in der Zeit während und nach dem Majdan eindeutige pro-ukrainische Positionen vertreten, hatte aber in der Vergangenheit durchaus enge Geschäftsbeziehungen nach Russland und ist dort nicht weniger bekannt als in der Heimat.
Selbst wenn man dies komplett ausblendet, ist es politisch denkbar, dass der erfahrene russische Präsident Putin und sein gerissener Außenminister Sergey Lawrow, Selenskyj in eine gefährliche politische Falle locken könnten. Ob nun bewusst oder unbewusst könnte also Selenskyj in Moskaus Interesse handeln. Entscheidend wird sein, mit welchen Beratern Selenskyj sich umringt und ob er auch in der Außen- und Sicherheitspolitik auf erfahrene Leute setzt, um genau dies zu vermeiden.
Dennoch scheint das Szenario einer absoluten Annährung an Russland als wenig wahrscheinlich, da die Zivilbevölkerung und vor allem die vielen Angehörigen der Armee einen neuen Kuschelkurs nicht hinnehmen werden. Der Krieg beider Länder hat einen sehr tiefen Riss zwischen der Ukraine und Russland geschaffen. Dessen ist sich der russische Staat auch fünf Jahre später nicht ganz bewusst.
Balance im Interessenskonflikt
Das letzte Szenario wäre im Prinzip das, was die Ukrainer von Selenskyj erwarten. Sie wollen einen unkonventionellen Politiker, der in der neuen Ukraine sozialisiert ist und keinen sowjetischen Charme hat, jedoch dem blutigen Krieg ein Ende setzen kann. In diesem Szenario bekämpft er die Korruption, indem er die Arbeit der ermittelnden Behörden nicht einschränkt und einen guten Generalstaatsanwaltschaft sowie einen fähigen Chef des Inhaltsgeheimdienstes benennt. Wie im Wahlkampf angekündigt, schränkt Selenskyj die Korruption ein, um die Rechtsstaatlichkeit im Land und damit die heimische Wirtschaft zu stärken sowie ausländische Investoren anzulocken. Größere ausländische Investitionen sind jedoch erst nach der Beilegung des Krieges im Osten zu erwarten.
Der Ball zur Beendigung dieses Krieges liegt jedoch in Moskau. Der ukrainische Präsident muss in der Lage sein einen Kompromiss zu finden, ohne die Interessen der Ukraine zu opfern. Selenskyj könnte durch neue Initiativen mit den westlichen Bündnispartnern neue politische Realitäten schaffen und den Status Quo ändern. Es wäre ein Balanceakt der Ukraine, welcher ihre politische und ökonomische Unabhängigkeit immer wieder gegenüber Russland behaupten muss.
Zusammengefasst kann man schon jetzt getrost sagen: Die Zukunft der Ukraine liegt nicht nur in den Händen des ukrainischen Volkes und eines 41-jährigen Mannes allein, sondern auch Moskau, Brüssel und vor allem Berlin. Die Ukraine zählt auf unsere Unterstützung. Wir sollten um den Friedenswillen alles Mögliche unternehmen, die Europäisierung und Demokratisierung des Landes voranzutreiben.
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