Erfolge und Probleme der Polizeireform in der Ukraine
Die Polizeireform in der Ukraine war eine der ersten Reformen nach dem Zusammenbruch des Janukowytsch-Regimes. Sie ist ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Schaffung einer Rechtsordnung nach europäischem Vorbild, verläuft aber nicht unproblematisch. Von Tetiana Goncharuk
Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Sowjetunion 1991 aufgelöst hatte, wurde die Miliz als Institution ohne Veränderungen und Reformen von der unabhängigen Ukraine übernommen. Die Miliz war ein Straforgan, dessen Hauptfunktion darin bestand, Straftaten zu ahnden und zu unterbinden. In den vergangenen 25 Jahren war in der Ukraine das „Gesetz über die Miliz“ in Kraft, das eine einfache Nachahmung des entsprechenden sowjetischen Gesetzes war. Nach Meinung des Direktors des Charkiwer Instituts für Sozialforschung Denis Kobsin war die Miliz in der postsowjetischen Ukraine ein korrumpiertes und bürokratisches Organ, das zu einer großen Geldeintreibungsmaschinerie geworden war. Sie war fest in die Machtvertikale integriert, stark zentralisiert und von der Gesellschaft abgeriegelt.
Jedweder Versuch, durch eine Reform Veränderungen herbeizuführen, scheiterte an der Gleichgültigkeit und Korrumpiertheit der Führungsriege. Jeder neue Innenminister begann seine Amtszeit mit einer so genannten „Reformierung“ des Rechtssystems, die jedoch keine realen Veränderungen brachten. Es wurden Umstrukturierungen angeordnet; demonstrativ wurden Personen entlassen, die sich geringer Vergehen schuldig gemacht hatten; die Türschilder an den Büros wurden geändert, die Namen, Dienstbezeichnungen und Behörden. Das war’s. Da eine wirkliche Reform für die herrschende politische Spitze nicht von Vorteil war, setzte die Staatsführung stets ihre Leute ein, die vor der Bestechlichkeit innerhalb des Systems die Augen verschlossen.
Der Majdan brachte den Stein ins Rollen
Ein Bewusstsein dafür, dass sich im Rechtssystem wirklich etwas ändern müsse, entwickelte sich erst nach den tragischen Ereignissen während der Proteste auf dem Majdan im Winter 2013/14 gegen das Regime des damaligen Präsidenten Janukowytsch. Die Miliz, die eigentlich die friedlichen Demonstranten hätte schützen sollen, folgte im Gegenteil dem Befehl der kriminellen Regierung, die Protestanten unter Anwendung von Waffengewalt auseinanderzutreiben.
Es wurde offensichtlich, dass Veränderungen unvermeidlich sind. Das ukrainische Volk wollte in einem Rechtsstaat leben. Die Polizeireform startete offiziell am 07. November 2015, als das neue Gesetz „Über die Nationalpolizei“ in Kraft trat. Der neugewählte Präsident Petro Poroschenko holte ein georgisches Reformteam in die Ukraine: Eka Zguladze, die die neue Straßenpolizei einführte und Khatia Dekanoidze, die in der Folgezeit an der Spitze der Nationalpolizei stand.
Kollision zweier Systeme
Die neuen Streifenpolizisten mit ihren stilvollen Uniformen und modernen Fahrzeugen erschienen zuerst auf den Kiewer Straßen, danach in Lwiw und Odessa und patrouillieren inzwischen in 34 Städten im gesamten Land. Zuvor hatte es eine offene Ausschreibung gegeben, auf die sich alle, die Polizist werden wollten, bewerben konnten. Das Auswahlverfahren wurde von Polizeikommissionen, die aus Vertretern der breiten Öffentlichkeit bestanden, durchgeführt. Es wurden neue Polizisten mit einer anderen, „nicht sowjetischen“ Denkweise ausgewählt und ausgebildet. Darunter waren auch erfreulich viele Polizistinnen: Die Frauenquote bei der Polizei stieg von etwa 5% vor dem Majdan in nur drei Jahren auf durchschnittlich 17% an und liegt bei der Streifenpolizei gar bei etwa 22%. Die Ausbildung der künftigen Polizisten dauerte drei Monate und insgesamt wurden 12.000 neue Polizisten eingestelltt. Auch die Bezeichnung wurde geändert: An die Stelle der „Miliz“ trat die „Polizei“ und mit ihr das Versprechen, Ordnung und die Ruhe der einfachen Bürger zu schützen.
Die Milizionäre der alten Kohorte standen den neuen Polizisten ihrerseits neidisch und misstrauisch gegenüber
Die Ukrainer begegneten den neuen Streifenpolizisten mit großem Wohlwollen. Die Präsenz von Polizeiautos mit eingeschaltetem Blaulicht auf den Straßen vermittelte den Bewohnern der Städte ein Gefühl von Sicherheit. In den sozialen Netzwerken waren Selfies mit Polizisten beliebt, die sich ihrerseits gern mit Passanten fotografieren ließen. Die neue Polizei war in aller Munde – auf der Straße, in den Fernsehnachrichten, auf dem Markt und Zuhause…
Unterdessen waren die Spannungen zwischen dem alten und dem neuen System sowohl auf der höchsten Leitungsebene als auch unter den einfachen Einsatzkräften zu spüren. Von einigen der neuen Polizisten war zu hören, dass sie gekommen seien, um die alten Milizionäre und das alte System zu bestrafen. Die Milizionäre der alten Kohorte standen den neuen Polizisten ihrerseits neidisch und misstrauisch gegenüber. Diese Konfrontation wurde durch die Prozedur der Neuattestierung, die die alten Kader durchlaufen mussten, noch verstärkt. Dies war ein Plan der damaligen Leiterin der Nationalpolizei Khatia Dekanoidze, der, wie sich zeigen sollte, jedoch nicht von Erfolg gekrönt ist.
Gesetzeslücken konterkarieren die Entlassung korrupter Beamter
Die Einführung der Streifenpolizei wird von vielen Experten als positive Veränderung im Rahmen der Reformen bewertet. Sie gilt als neue, progressive strukturelle Veränderung im ukrainischen Rechtssystem unter Einbeziehung neuer Kader. Geplant war, die anderen Struktureinheiten in gleicher Geschwindigkeit und gleichem Umfang zu reformieren – von den Ermittlern bis hin zu den Inspektoren für Jugendstrafprävention. Von den alten Kadern wollte man sich nicht vollständig trennen, sondern eine Attestierung durchführen, um die integren, nicht in Korruptionsfälle verwickelten, zu behalten. Die Milizionäre selbst hatten zu den Vorgängen unterschiedliche Einstellungen. Die einen fürchteten, ihre Arbeit zu verlieren und wussten nicht, was sie tun sollten. Die anderen verkündeten selbstsicher, dass sie die Attestierung mit Leichtigkeit durchlaufen werden, da sie nichts zu befürchten hätten. Die Attestierung oblag eigens dafür geschaffenen Kommissionen, denen Vertreter der breiten Öffentlichkeit angehörten: Aktivisten, Journalisten, Menschenrechtler, gemeinnützige Organisationen. Eine derartige Bildung von Kommissionen unter Hinzuziehung der Öffentlichkeit war im Kontext der Reformen neu und progressiv.
Obwohl die Neuattestierung ursprünglich eine positive Grundidee beinhaltete – integre Fachkräfte zu behalten und „korrupte Milizionäre“ loszuwerden – erfolgte sie mit erheblichen Beeinträchtigungen. Aufgrund einer aus juristischer Sicht wackeligen gesetzlichen Grundlage wurden nur 5.000 der 70.000 alten Kader entlassen und selbst diese erreichten anschließend per Gericht ihre Wiedereinstellung und erhielten vom Staat gar noch eine Kompensation für den erzwungenen Arbeitsausfall. Nach Jewhen Krapywin von der ukrainischen Monitoring-Assoziation für die Einhaltung der Menschenrechte durch Rechtsorgane führte das Gericht keine speziellen Prüfungen durch, ob der entlassene Mitarbeiter gut oder schlecht gearbeitet hatte, ob er in Korruptionsfälle verwickelt war oder nicht. Die Gesetzesgrundlage, die das Innenministerium zu Beginn der Reformen ausgearbeitet hatte, war so verfasst, dass das Gericht gar keine andere Wahl hatte, als die entlassenen Polizisten wiedereinzusetzen.
Faktisch wurde die Miliz als Institution aufgelöst, die alten Mitarbeiter jedoch übernommen.
Nach offiziellen Angaben des ukrainischen Innenministeriums absolvierten 92,3% der ehemaligen Milizionäre die Neuattestierung erfolgreich und arbeiten jetzt als Polizisten. Faktisch wurde die Miliz als Institution also aufgelöst, die alten Mitarbeiter jedoch übernommen.
Entpolitisierung der Polizei?
Positiv hervorzuheben ist der begonnene Prozess der Entpolitisierung: die Trennung der Nationalpolizei vom Innenministerium. Früher war die Miliz strukturell dem Innenministerium und direkt dem Minister unterstellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalpolizei vor: Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalpolizei konkret für die Polizei. „Dies ist das europäische Modell, das den Einfluss des Ministers auf die operative Leitung der Polizei verringern sollte. Allerdings beeinflusst der Minister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei und das Ganze ist eher noch ein Reformziel als eine erreichte Tatsache“, sagt dazu Jewhen Krapywin.
Die im November 2016 entlassene Polizeichefin Khatia Dekanoidze bzw. ihr Nachfolger Polizeichef Serhij Knjasjew, der sein Amt im Februar 2017 antrat, sind nur die offiziellen Gesichter der Nationalpolizei, tatsächlich haben sie keinen Einfluss auf Entscheidungen – die Geschäfte werden nach wie vor von Minister Arsen Awakow geleitet. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Auflösung einer Protestkundgebung zur Unterstützung Saakaschwilis, wo die Polizei auf Anweisung Awakows handelte, der in diesem Fall seine Macht missbrauchte. Awakow benutzt die Polizei auch im persönlichen Interesse. Sein Sohn ist in einen Korruptionsskandal wegen des Kaufs von Rucksäcken für die ATO-Kämpfer verwickelt. Als das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) im Oktober 2017 eine Wohnungsdurchsuchung bei ihm beschloss, ließ Awakow, um dies zu verhindern, das Gebäude von Polizisten umstellen und evakuieren, da es angeblich vermint gewesen sei.
Die Reform ist noch nicht abgeschlossen
Experten versichern, dass die Reform nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, solange die Kriminalpolizei und die Untersuchungsorgane nicht reformiert wurden. Ohne deren Reformierung ist eine effektive Aufklärung von Straftaten unmöglich, selbst von kleinkriminellen Delikten, die in der Ukraine praktisch nie aufgedeckt werden. Auf solche kleineren Straftaten reagiert die ukrainische Polizei nach wie vor nicht. „Rufen Sie im Mordfall an.“ wurde zum Standardspruch. Wenn also die Identität eines potenziellen Straftäters schwer festzustellen ist, verzichtet die Polizei lieber auf weitere Untersuchungen. Ändern kann dies nur eine öffentliche Resonanz in den Medien oder ein Bestechungsgeld für den Ermittler.
Neue Ermittler und mehr Verantwortung
Der Krieg im Osten der Ukraine, der illegale Umschlag von Waffen aus den Kriegsgebieten und die sozialen und wirtschaftlichen Probleme haben zu einem Anwachsen von Straßenbanden und einem höheren Maß an Gewaltanwendung bei Straftaten geführt. Deshalb ist eine Reform der Ermittlungsorgane mehr als dringend geboten.
In diesem Zusammenhang ist ein Experiment im Rahmen der Reformen zur Schaffung polizeilicher Ermittler interessant, das die Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften vorsieht. Solche polizeilichen Ermittler gibt es zum Beispiel in Deutschland, den USA oder den skandinavischen Staaten, wo ein- und derselbe Ermittler für die Untersuchung einer Straftat, die Beweisaufnahme und die Übergabe an die Gerichte zuständig ist, weshalb er an einer gründlichen Bearbeitung interessiert ist. In der Ukraine ist immer noch wie zu Sowjetzeiten die operative Einsatzkraft für die Beweisaufnahme und ein Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig.
Im Mai 2017 startete die Nationalpolizei einen Testlauf zur Einführung von Ermittlern in acht Regionen der Ukraine, der im April 2018 auf alle Regionalzentren des Landes ausgeweitet wurde. Noch ist jedoch nicht absehbar, wie effektiv und erfolgreich diese Maßnahme ist und wie lange sie laufen wird.
Ein weiterer positiver Schritt ist nach Meinung von Experten auch die Verabschiedung des Gesetzes „Über die Disziplinarordnung der Nationalpolizei“, das im Juli 2018 in Kraft treten wird. Es handelt sich dabei um die Schaffung eines neuen Systems, nach dem Polizisten zur Verantwortung gezogen werden können. Früher waren nur die Vorgesetzten berechtigt, einen Polizisten zur Verantwortung zu ziehen, was hinreichend Möglichkeit zum Machtmissbrauch bot. Jetzt wird diese Befugnis einer Disziplinarkommission übertragen. Einer solchen Kommission können auch Vertreter der breiten Öffentlichkeit angehören. Zudem räumt das neue Gesetz einem Polizisten, der zur Verantwortung gezogen wird, das Recht ein, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen und ein Plädoyer zu halten.
Die Konfrontation von Alt und Neu dauert an
Die Reform der Rechtsorgane in der Ukraine ist ein komplizierter und ambivalenter Prozess. Die positiven und progressiven Aspekte dieser Reform (die Einführung der Streifenpolizei, die Entpolitisierung, die Einführung von Ermittlern) werden vor dem Hintergrund eines allgemeinen Widerstandes des Systems gegen eine vollständige Reformierung auf allen Ebenen konterkariert. Ein Anfang ist aber gemacht, was bereits zur Aufdeckung zahlreicher interner Probleme und Widersprüche des Systems geführt hat, die ohne den politischen Willen der Staatsführung jedoch nicht so leicht gelöst werden können.
Schließlich würden wirkliche Veränderungen zum Zusammenbruch zahlreicher Korruptionsmodelle führen und auch einen Machtmissbrauch, insbesondere durch den Innenminister und andere einflussreiche Beamte, unmöglich machen. Daran hat die Regierung bisher kein Interesse. Andererseits spürt die Regierung den ständigen Druck seitens ukrainischer Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtler sowie internationaler Organisationen, die mit vereinten Kräften Veränderungen initiieren. Die Konfrontation von Alt und Neu dauert an.
Aus dem Russischen von Lydia Nagel
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