„Russland wieder integrieren“
Spätestens seit dem Treffen zwischen Präsident Wladimir Putin und Emmanuel Macron kurz vorm G7 Gipfel ist eine neue Diskussion um die Ukraine und Russlands mögliche Rückkehr in die G8 entbrannt. Was bezweckt Macron mit dieser Debatte? Von Sébastien Gobert
„Das einzige Problem ist die Ukraine“. Der französische Präsident Emmanuel Macron erwähnte im Zusammenhang mit einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland unter Putin weder Russlands Syrien-Politik, noch die Einmischung des Kremls in Wahlen in westlichen Staaten, oder die aktuellen, brutalen Repressionen von oppositionellen Demonstranten in Moskau. „Die Lösung dieses Konflikts (in der Ukraine, Anm.) ist wie eine Zauberformel, die Russland das Tor zurück in den Club der G7 öffnen würde, die damit wieder die G8 wäre“, sagte Macron während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Putin am 19. August. Kurz darauf nutzte Donald Trump die Gelegenheit, um zu betonen, dass er der Idee einer Wiederaufnahme Russlands in die G7 „sehr positiv“ gegenüberstehe. Im Unterschied zu seinem französischen Gegenüber stellte der US-Präsident keinerlei Bedingungen für diesen Schritt.
Aus seiner Stellungnahme ist nur schwer abzuleiten, ob Macron an der prinzipiellen Position festhalten wird, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine gegen die Aggressionen Russlands zu verteidigen, entsprechend der überwiegenden Haltung der westlichen und auch der französischen Diplomatie seit der Annexion der Krim im März 2014 und der Intervention Russlands im Donbas. Es ist gut möglich, dass Macron signalisiert, dass er versuchen wird, das Problem auf die eine oder andere Art aus dem Weg zu räumen, um wieder Beziehungen einer konstruktiveren Art mit Russland aufzunehmen. In derselben Fragestellung wird die Äußerung, Russland sei „zutiefst europäisch“, intensiv diskutiert. Indem er von „zutiefst“ spricht, versucht er, Putin zu schmeicheln und Russland eine Zukunft in Europa anzubieten, oder geht es nur um die Andeutung, dass das Land andere Werte hat als sein Staatsoberhaupt?
Von diesen Fragen zu Macrons Strategie mit Russland und der Vision einer „Lösung“ für die Ukraine sind zwei Dinge klar: Erstens dient die Tatsache, dass Macron Putin in seiner Sommerresidenz in Brégançon empfängt, in der Ukraine als Anlass zu großer Sorge, wo es als „Verrat“ betrachtet wird, dass über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg der Versuch einer Einigung unternommen werden könnte. Zweitens zeigt das Treffen, dass Frankreich die Führung übernommen hat, um die Beziehungen der Europäischen Union mit Russland neu zu definieren – in einer Zeit, in der Merkel aufgrund der innenpolitischen Lage außer Gefecht gesetzt ist, putinfreundliche, populistische und illiberale Regierungen ihren Machtanspruch in mehreren Mitgliedsstaaten stärken und sich der Brexit schier endlos hinzieht. Einige westliche Mächte versuchen tatsächlich, Russland aus der Ausgrenzung zu holen, in der sich das Land seit 2014 befindet. Frankreich ist scheinbar das Land, das Fakten schafft.
Das Treffen in Brégançon ist nicht das erste Anzeichen dafür. Am 25. März 2019 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates der Rückkehr der Delegation der Russischen Föderation zugestimmt. Damit wurde eine Ausgrenzung beendet, die durch die Annexion der Halbinsel Krim veranlasst wurde. Alle Vertreterinnen und Vertreter Frankreichs unterstützten diese Entwicklung. Einige westliche Justizbehörden und Finanzeinrichtungen wurden für die schlechte Kooperation mit den ukrainischen Partnern in einigen hochkarätigen Untersuchungen und Gerichtsverhandlungen kritisiert, zum Beispiel für das Einfrieren des Gasprom-Vermögens in der EU als Zahlung für seine Schulden gegenüber Naftogaz. Der Bau der Pipeline Nordstream 2 von Russland nach Deutschland gibt in der Ukraine Anlass zu großer Sorge über einen „Vertrag“ des Westens. Dies wurden durch die jüngsten Kommentare von US-Präsident Trump für eine bedingungslose Erweiterung der G7 weiter verstärkt.
Diese Schritte zu einer Beschwichtigung der Beziehungen zu Russland werden in den westlichen Hauptstädten durch das symbolische Ausmaß einiger dieser Entscheidungen begründet. Der Europarat hat keine Entscheidungsmacht außer in Menschenrechtsfragen. Die G7 ist vorrangig ein Diskussionsforum, dass die heutige Realität der Weltwirtschaft nicht abbildet. In der aktuellen Lage haben Länder wie Italien nicht mehr politische und wirtschaftliche Ambition, der G7 anzugehören, als Russland. Kurzum: eine neuerliche Integration Russlands würde der Welt kein anderes Gesicht verleihen. Es würde die westliche Solidarität mit der Ukraine nicht behindern, es würde auch nicht jegliche Unzufriedenheit mit Putin beilegen.
Aber die zu Grunde liegende Idee ist offensichtlich: Frankreich sowie einige andere Länder sind an einer Verbesserung der Kooperation mit Russland interessiert. Es würde Fragen von Wirtschaft und Energie dienen. Es würde den Prozess unterstützen, einen diplomatischen Konsens zu Iran aufzubauen. Einige Länder sind auch an einer Partnerschaft gegen den islamischen Fundamentalismus interessiert. Dennoch geht es vorrangig darum, die Realpolitik zu verstehen. „Selbst wenn westliche demokratische Länder an einer Isolation Russlands festhalten, bleibt es ein mächtiger internationaler Partner. Deshalb sollte man besser den Dialog aufnehmen“, schreibt Laurent Joffrin, Chefredakteur der stark putinkritischen französischen Tageszeitung „Libération“. Die westliche Kooperation mit Russland wird wieder aufgenommen werden, früher oder später.
Diese Einstellung macht vielen Ukrainerinnen und Ukrainern Angst – und das auch ganz zu Recht. „Seit März 2014, seit Russland aus der G8 ausgeschlossen wurde, ist nichts passiert. Die ukrainische Halbinsel Krim ist immer noch besetzt, der ukrainische Donbas leidet immer noch unter dem Krieg“, twitterte Wolodomyr Selenskyj, ein scheinbar wütender ukrainischer Präsident. Eine weit verbreitete Annahme in Kyjiw ist, dass die Ukraine geopfert werden könnte, um Putin zufrieden zu stellen. Deshalb verfolgt Selenskyj den richtigen Weg, Russlands Rückkehr „an seinen Platz am Ehrentisch der weltweiten Diplomatie“ an strenge Bedingungen zu knüpfen: die „Rückgabe der besetzten Krim, die Einstellung kämpferischer Handlungen im Donbas & die Freilassung von mehr als 100 politischen Gefangenen & ukrainischen Matrosen, die sich derzeit in Gewahrsam des Kremls befinden.“ Vorausgesetzt, dass die Solidarität des Westens mit der Ukraine so stark bleibt wie im Jahr 2014, kann Selenskyj nur hoffen, dass er solche absoluten Ergebnisse erzielen kann.
Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass der westliche Zugang zu Russland sich aber verändert hat. Man erinnert sich, dass die westlichen Mächte des Kalten Krieges die Annexion der Baltischen Staaten durch die UdSSR im Jahr 1939 nie anerkannten. Das hielt die so genannte „Freie Welt“ aber nicht davon ab, mit der Sowjetunion bis zu ihrem Zusammenbruch 1991 zu interagieren. Prinzipielle Solidarität ist eine Sache, Realpolitik eine andere. In diesem Sinn kann man Macrons Standpunkt, eine „Lösung“ für den Krieg in der Ukraine zu finden, als Chance begriffen werden, die lange festgefahrenen Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen. Estland, Lettland und Litauen konnten sich nie über eine derartige Überlegung freuen.
Natürlich kann man sich fragen, wie diese „Lösung“ aussehen könnte. Die Ergebnisse der Verhandlungen könnten eine Linie zwischen Frieden und Kapitulation, zwischen Solidarität und Verrat ziehen, obwohl die Ukraine keinen vollständigen und absoluten Sieg erwarten kann. Es gilt seit 2014 als gegeben, dass sich der Schlüssel zu einer politischen Lösung in Moskau verbirgt. So genannte „gefrorene Konflikte“ in Transnistrien, Abchasien und Südossetien zeigen, dass ohne Zustimmung des Kremls gar nichts passiert. Macron lobt Selenskyj für seine „mutigen Schritte und Handlungen in diesem Konflikt“. Der französische Präsident mag in seinen Bestrebungen ehrlich sein, eine für alle Beteiligten, allen voran der Ukraine gegenüber, friedliche Lösung des Konflikts zu suchen. Aber der Schlüssel dazu liegt in Moskau.
Die Ukraine hat diese Situation schon lange verstanden. Je länger sie manche westliche Länder beobachtet, die hart daran arbeiten, ihre Beziehungen zu Russland zu erneuern, desto mehr mag es sich so anfühlen, als ob die Ukraine mehr Beobachter als Meister seines eigenen Schicksals ist. Trotzdem ist das 40-Millionen-Land bei weitem nicht machtlos. Kyjiws westliche Integration ist in den letzten Jahren durch die Umsetzung des Assoziierungsabkommens zu einer institutionellen Realität geworden. Intensive Zusammenarbeit mit sowohl der Europäischen Union als auch den Vereinigten Staaten sowie dem Internationalen Währungsfonds sorgen für eine engere Bindung an den Westen, als Russland jemals haben wird. Das ist jedoch nichts, was durch eine Rückkehr Russlands zur G7 gefährdet würde.
Müsste Selenskyj zu seinen Versprechen zu einer effektiven Korruptionsbekämpfung, der Einrichtung einer transparenten und gerechten Gerichtsbarkeit sowie zur Umsetzung anderer struktureller Reformen, an denen Petro Poroschenko scheiterte, konkrete Maßnahmen liefern, würde das die Position der Ukraine in der Region stärken und eine starke Botschaft aussenden. Es würde den Ukrainerinnen und Ukrainern im Donbas und auf der Krim zeigen, dass die Ukraine ihnen Perspektiven zu bieten hat. Es würde die Ukraine zu einem verlässlichen Partner für den Westen machen und eine Alternative zu Russland darstellen. Es würde jene überzeugen, die noch überzeugt werden müssen, dass es sich lohnt, um die Ukraine zu kämpfen – selbst wenn das Putin nicht gefällt.
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