Pro-rus­si­sche Partei steht kurz davor zweit­stärkste Kraft zu werden

Die pro-rus­si­schen Kräfte sind gespal­ten, waren aber lange Zeit nicht so stark wie zurzeit. Die „Oppo­si­ti­ons­platt­form – Für das Leben“ steht kurz davor mit bis zu 15 Prozent der Stimmen die zweit­stärkste Kraft in der nächs­ten Wer­chowna Rada zu werden. Wie kommt es, dass eine putin­freund­li­che Partei in der kriegs­ge­plag­ten Ukraine so erfolg­reich ist? Von Sébas­tien Gobert

Sie sind gespal­ten, waren aber lange Zeit nicht so stark wie zurzeit. Einige der Par­teien, die bei der vor­ge­zo­ge­nen Neuwahl am 21. Juli in der Ukraine antre­ten, stehen der auto­ri­tä­ren Regie­rung von Viktor Janu­ko­wytsch und den soge­nann­ten pro­rus­si­schen Ideen nahe. Die „Oppo­si­ti­ons­platt­form – Für das Leben“ steht kurz davor, mit 15 % der Stimmen die zweit­stärkste Kraft in der nächs­ten Wer­chowna Rada zu werden. Neben dem „Oppo­si­ti­ons­block“, der an Bedeu­tung ver­lo­ren hat, Kan­di­da­ten, die unab­hän­gig in Mehr­heits­wahl­krei­sen antre­ten und dem merk­wür­den Phä­no­men der Partei des pro­vo­ka­ti­ven Blog­gers Ana­to­lij Scharij sorgen russ­land­freund­li­che Kräfte auf der poli­ti­schen Bühne der Ukraine für Aufsehen.

Portrait von Gobert

Sébas­tien Gobert ist Buch­au­tor und freier Jour­na­list in Kyjiw. Er schreibt vor allem für fran­zö­sisch­spra­chige Medien.

Das steht in starkem Kon­trast zum offi­zi­el­len Diskurs der Post-Maidan- und Poro­schenko-Ära. Obwohl der ehe­ma­lige Prä­si­dent einige frag­wür­dige Ver­bin­dun­gen mit umstrit­te­nen Per­so­nen ein­ge­gan­gen ist, ging es in seinen Reden haupt­säch­lich darum, die Ukraine von Russ­land unab­hän­gig zu machen, sämt­li­che Handels- und Wirt­schafts­be­zie­hun­gen abzu­bre­chen, um sich Rich­tung Westen zu ori­en­tie­ren und Russ­land ins­ge­samt als Aggres­sor-Staat zurück­zu­drän­gen, der für die Anne­xion der Krim und den Krieg im Donbass ver­ant­wort­lich ist. In dem Kon­flikt sind 13.000 Men­schen ums Leben gekommen.

Umso bemer­kens­wer­ter ist es, dass ein großer Teil der Wahl­be­rech­tig­ten bereit ist, russ­land­freund­li­che Poli­ti­ker zu unter­stüt­zen, die unter­ein­an­der sehr gespal­ten sind. Ein wei­te­rer Faktor der schein­bar post­so­wje­ti­schen, rus­sisch­spra­chi­gen und an Russ­land ori­en­tier­ten poli­ti­schen Iden­ti­tät sind starke Inter­es­sen von Olig­ar­chen, die mit­ein­an­der in Kon­kur­renz stehen, um ihre wirt­schaft­li­chen Mono­pole und kor­rup­ten Systeme zu erhal­ten. Die Spal­tung zwi­schen dem Oppo­si­ti­ons­block und der Oppo­si­ti­ons­platt­form (die sich später mit Für das Leben von Wadym Rabi­no­wytsch zusam­men­ge­schlos­sen hat) ging haupt­säch­lich auf per­sön­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den „Gas-Ver­fech­tern“, nament­lich Viktor Med­vet­schuk, Serhij Lio­wotsch­kin und Juri Bojko, und den „Indus­trie-Ver­fech­tern“, Rinat Ach­me­tow, Olek­sandr Wilkul und Vadym Novyn­skyj, zurück. Diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen zeigen deut­lich, dass es bei pro­rus­si­schen Poli­ti­kern nur wenig um Ideo­lo­gie geht. Wären sie bei der Prä­si­dent­schafts­wahl im März gemein­sam ange­tre­ten, wäre Juri Bojko wahr­schein­lich in die zweite Runde eingezogen.

Dabei muss her­vor­ge­ho­ben werden, dass sein Erfolg in den Mei­nungs­um­fra­gen zu einem Zeit­punkt zustande kam, als Wolo­dymyr Selen­skyj den Wählern eine Alter­na­tive bot. Der ehe­ma­lige Komiker ver­tritt den sowje­ti­schen Humor. Er will die Kämpfe im Donbass beenden und die Gas­preise für Haus­halte senken. Obwohl seine Mut­ter­spra­che Rus­sisch ist, spricht er seit seiner Wahl Ukrai­nisch. Der Vor­sit­zende seiner Partei „Diener des Volkes“, Dmytro Raz­um­kov, dagegen legt Wert darauf, Rus­sisch zu spre­chen, „um alle Men­schen der beset­zen Gebiete zu errei­chen“. Die Unter­stüt­zung für russ­land­freund­li­che Par­teien ist in diesem Zusam­men­hang noch verblüffender.

Der ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­ana­lyst Brian Mefford schreibt in The Atlan­tic Council, dass die 15 pro­zen­tige Unter­stüt­zung für die „Oppo­si­ti­ons­platt­form – Für das Leben” „fast genau dem Anteil der rus­sisch­stäm­mi­gen Bevöl­ke­rung in der Ukraine ent­spricht“. Das sollte man durch­aus im Hin­ter­kopf behal­ten, auch wenn das nicht der wich­tigste Aspekt meiner Analyse ist, da dies die Vor­stel­lung einer „fünften Kolonne“ unter­mau­ern würde, die sich gegen die Inter­es­sen der Ukraine ein­setzt. Das­selbe gilt für Berichte, die sich auf die Ein­fluss­name Russ­lands und des selbst­er­rich­te­ten Medi­en­im­pe­ri­ums von Viktor Med­vet­schuk (Fern­seh­sen­der 112, NewsOne, ZIK und wahr­schein­lich Inter, die Inter­net­sei­ten strana.ua und korrespondent.net) kon­zen­trie­ren und damit nahe­le­gen, dass alle Wähler russ­land­freund­li­cher Par­teien zur Masse ver­arm­ter und mani­pu­lier­ter Men­schen zählen. Auch wenn es im aktu­el­len Kontext öffent­lich nur schwer ein­zu­schät­zen ist, könnten Teile dieser Wähler tat­säch­lich glauben, dass die Revo­lu­tion der Würde ein gewalt­sa­mer Putsch war, dass die Krim zu Russ­land gehört und der Krieg im Donbass ein Bür­ger­krieg ist. Dennoch greift die Annahme, dass alle russ­land­freund­li­chen Wähler der rus­si­schen Pro­pa­ganda und Des­in­for­ma­tion zum Opfer gefal­len sind, in vielen Berei­chen zu kurz.

In einem auf der Website von Ukrainska Pravda ver­öf­fent­lich­tem Podcast erläu­tert der Jour­na­list Roman Kravets ein his­to­ri­sches Phä­no­men: „Rund 20 % der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung ver­misst die UdSSR und befür­wor­tet die Idee eines Zusam­men­schlus­ses mit Russ­land.“ Sozio­lo­gi­sche Studien zeigen deut­lich, dass bestimmte Gruppen der Bevöl­ke­rung im Alter von über 50, zumeist Frauen, aus dem Süd­os­ten eine emo­tio­nale Ver­bin­dung zu rus­si­scher Lite­ra­tur, rus­si­schem Kino und rus­si­schen Pro­duk­ten haben. In west­li­chen Ländern herrscht hier eine größere Distanz, die auch durch die geo­gra­phi­sche Lage bedingt ist. In einem im April 2014 geführ­ten Inter­view betonte der umstrit­tene Bür­ger­meis­ter von Charkiw, Hen­na­dij Kernes, dass die rus­si­sche Grenze nur 30 Kilo­me­ter ent­fernt von seinem Büro ver­laufe, wohin­ge­gen eine Reise nach Polen eine teure Tages­reise auf schlech­ten Straßen sei. Das vom Pre­mier­mi­nis­ter Arsenij Jazen­juk initi­ierte Projekt, eine Mauer entlang der Grenze zu errich­ten, kam in der Stadt und den öst­li­chen Regio­nen nicht gut an. Jeder, der zu einer Ver­bes­se­rung des Ver­hält­nis­ses mit Russ­land aufruft, würde Unter­stüt­zer finden.

Unab­hän­gig davon, ob die ver­schie­de­nen Bevöl­ke­rungs­grup­pen die Motive der Revo­lu­tion der Würde teilen oder nicht, war die Post-Maidan-Ära für die meisten eine schwie­rige Zeit. Die Finanz­krise, die Abwer­tung der Hrywnja, der Anstieg der Ener­gie­kos­ten oder die libe­rale Gesund­heits­re­form haben bei vielen Ukrai­nern eine gewisse Sehn­sucht nach den Zeiten Janu­ko­wytsch her­vor­ge­ru­fen. Eine bessere Bezie­hung zu Russ­land wird als Mög­lich­keit gesehen, die Preise zu senken und den finan­zi­el­len Druck durch den IWF und west­li­che Geld­ge­ber zu senken. Für viele Wähler scheint das auch der beste Weg, um Frieden im Osten zu erzie­len, da die Lösung des Don­bass­kon­flikts im Kreml zu finden ist. Die per­sön­li­che Bezie­hung zwi­schen Viktor Med­vet­schuk und dem Paten­on­kel seiner Tochter, Vla­di­mir Putin, macht ihn „zu einer Art Super­held“, behaup­tet der Jour­na­list Roman Kravets. Juri Bojko hat den rus­si­schen Pre­mier­mi­nis­ter Dmitrij Med­we­dew in den letzten drei Monaten zwei Mal getroffen.

Ihre Fähig­keit, direkt mit dem Kreml zu ver­han­deln, wird von manchen Wäh­ler­grup­pen mehr geschätzt als der ehe­ma­lige Komiker Wolo­dymyr Selen­skyj oder der Rock­star Swja­to­s­law Wakart­schuk. Letz­te­rer nannte diese hoch­ran­gin­gen Treffen zuletzt „eigene Ver­hand­lun­gen und Wahl­ma­nö­ver auf Kosten der natio­na­len Sicher­heit der Ukraine“. Er möchte ein Gesetz unter­stüt­zen, um Med­we­dew und Bojko vor Gericht zu bringen. Aller­dings bietet Wakart­schuk keine Alter­na­tive zu Frie­dens­ver­hand­lun­gen. Seine Partei „Die Stimme“ stellt in vielen Wahl­krei­sen im Süd­os­ten noch nicht mal Kan­di­da­ten auf. Auch weil „Die Stimme“ und andere west­lich ori­en­tierte Par­teien ganze Regio­nen der Ukraine ver­nach­läs­sigt haben, sind Wähler bereit, russ­land­freund­li­che Par­teien zu unterstützen.

Nicht zuletzt muss auch die Bedeu­tung von Bevor­mun­dung und lokalen Zuge­hö­rig­kei­ten bei der Ent­schei­dung der Wähler berück­sich­tigt werden. Olig­ar­chen und Magna­ten haben bekann­ter­ma­ßen großen Ein­fluss auf Bezirks­äm­ter und Unter­neh­men vor Ort. Sie zu wählen ist für viele Wähler einfach nur ein Fort­schrei­ben lokaler Gege­ben­hei­ten. Der ehe­ma­lige Minis­ter für Infra­struk­tur und umstrit­tene Poli­ti­ker Borys Koles­ni­kow prahlte in einem Video vom 14. Juli damit, dass er neue Aufzüge für einige Gebäude in Kost­jan­ty­niwka im Oblast Donezk gekauft habe. Die ihn umge­bende Menge jubelte dankbar und ver­sprach, für ihn zu stimmen. Ich erin­nere mich an einige Gesprä­che, die ich 2012/​13 im Donbass führte. Die Ein­woh­ner beschwer­ten sich über den Miss­brauch durch die Regie­rung Janu­ko­wytschs, gleich­zei­tig beton­ten sie alle, dass sie keinen anderen Prä­si­den­ten wollen. „Janu­ko­wytsch ist ein Betrü­ger – aber er ist unser Betrü­ger“, hörte ich mehrmals.

Die Unter­stüt­zung russ­land­freund­li­cher Par­teien lässt sich also mit ver­schie­de­nen Fak­to­ren erklä­ren. Ich glaube, dass die his­to­ri­sche Unter­stüt­zung mit der Prä­si­dent­schaft von Selen­skyj vor einer großen Her­aus­for­de­rung steht. Sollte es ihm gelin­gen, die Ener­gie­kos­ten zu senken, die wirt­schaft­li­che Lage zu ver­bes­sern und Ergeb­nisse in den Frie­dens­ver­hand­lun­gen zu erzie­hen und das abzu­schwä­chen, was viele als aggres­sive Sprach­po­li­zei emp­fin­den, müssten die tra­di­tio­nell russ­land­freund­li­chen Par­teien ihren Diskurs und ihre Posi­tio­nen ändern. Aller­dings hängen diese mög­li­chen Ent­wick­lun­gen in der Ukraine auch von Ent­wick­lun­gen im Kreml selbst ab.

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