Frieden durch Referendum? Die gefährliche Unberechenbarkeit von Selenskyj
Kurz nach der Amtseinführung Selenskyjs brachte der neue Chef der Präsidialadministration Andrij Bohdan die Idee ins Spiel, über Frieden mit Russland in einem Referendum abzustimmen. Für seinen Vorschlag erntete Bohdan sowie Selenskyj scharfe Kritik. Von Sébastien Gobert
Während seiner Kampagne bezog Wolodomyr Selenskyj klar Position: „Ich finde Volksabstimmungen wirklich gut“, sagte er in einem Interview auf der Internetplattform gordon.ua. Beratungen zu landesweiten Reformen in der Justiz, der Gesundheitsvorsorge, der Privatisierung von Staatsvermögen, wozu auch immer, folgten. Die 73-Prozent-Mehrheit, die er in der Abstimmung am 21. April für sich verzeichnen konnte, verlieh ihm scheinbar die Autorität, seine Initiativen zu einem breiten Themenspektrum umzusetzen. Dennoch bewahrte es ihn nicht vor einem Skandal, als der neue Leiter der Präsidialverwaltung, Andrij Bohdan, die Idee formulierte, über Frieden mit Russland in einem Referendum abzustimmen.
Eine derartige Perspektive führt zu vielen Unsicherheiten. Was wäre die Frage, die in einem solchen Referendum gestellt würde? Würden die Wähler aufgerufen, über die prinzipielle Idee eines Friedensabkommens zu befinden, oder über den genauen Inhalt? Und wenn ja, wie könnte man die Frage über ein komplexes Friedensabkommen in einer Abstimmung mit den Antworten „ja“ und „nein“ beantworten? Präsident Wolodomyr Selenskyj hat seine Position zu einer derartigen Volksabstimmung klar dargestellt, er würde den Ausgang eines solchen Referendums eher als Empfehlung denn als bindende Entscheidung betrachten. „Ich möchte die Meinung jedes Einzelnen hören,“ sagte er. Trotzdem: Was passiert, wenn die Wähler seinen Vorschlag ablehnen? Der politische Mehrwert einer potenziell explosiven Kampagne ist unklar.
Ich möchte in diesem Artikel erklären, warum die Idee eines Friedensreferendums, wie schon in anderen Fällen weltweit, auch hier eine gefährliche Gradwanderung ist. Doch im Fall der Ukraine ist es vor allem das Spiegelbild einer laufenden Wahlkampagne. Es könnte nie vollständig umgesetzt werden. Zu Andrij Bohdans Erklärung erhob sich unmittelbarer Widerstand. Die Politiker Julija Tymoschenko und Swjatoslaw Wakartschuk verdammten sie als „gefährlich und verantwortungslos“. Der ehemalige Präsident Petro Poroschenko forderte seinen Nachfolger eindringlich auf, Russland gegenüber auf keinen Fall nach „Kapitulation“ zu suchen. Das ukrainische Parlament Werchowna Rada empfahl dem Staatschef, „seine Geschichtslektionen besser zu lernen“. Man ging davon aus, dass ein Referendum in dieser heiklen Frage die Ukraine letztlich in unsägliche Zugeständnisse gegenüber Russland zwingen würde. „Die Soldaten, die bei der Verteidigung der Ukraine ums Leben gekommen sind, haben bereits ihre Stimme abgegeben“, schrieb Evhen Dikiy, der ehemalige Kommandeur des Freiwilligenbatallions Ajdar, in einem Kommentar. „Wir planen, die Ergebnisse dieses Referendums umzusetzen“ und die Souveränität der Ukraine zu schützen, wie er unterstrich.
Das breite Spektrum an Reaktionen deutet bereits an, auf welch harte Opposition Wolodomyr Selenskyj bei der Durchführung einer Volksabstimmung stoßen könnte. Eines der größten Hindernisse ist noch immer die Gesetzeslage. Laut dem Leiter des parlamentarischen Ausschusses zur Rechts- und Gerichtspolitik, Ruslan Knjasewitsch, fällt das Abhalten eines Referendums in ein „gesetzliches Vakuum“, da das Gesetz über Volksabstimmungen im Jahr 2018 seine Gültigkeit verlor. Außerdem sollte man bedenken, dass die Ukraine nicht besonders viel Erfahrung in der Durchführung von Volksabstimmungen hat, abgesehen von einem noch unter sowjetischer Regierung durchgeführten Referendum unter dem autoritären Präsidenten Leonid Kutschma. Der Einsatz von manipulierten Volksabstimmungen auf der Halbinsel Krim sowie in Donezk und Luhansk hat die Ablehnung der Bevölkerung diesen Verfahren gegenüber noch weiter verstärkt.
Olha Ajwasowska, Leiterin der Wahlbeobachtungsorganisation OPORA, ergänzt in ihren Kommentaren gegenüber BBC Ukraine, dass die Verabschiedung des neuen Gesetzes durch die Situation im Parlament eine „Geisel“ sei. Obwohl Andrij Bohdan mit seiner Stellungnahme eine der ersten konkreten politischen Erklärungen der neuen Regierungsriege lieferte, wird Wolodomyr Selenskyj zumindest die Resultate der vorgezogenen Parlamentswahlen am 21. Juli abwarten müssen, um ein neues Gesetz zu Volksabstimmungen verabschieden zu können. Tatsächlich wird es sich sogar noch länger hinziehen, bis er den Wählerinnen und Wählern einen Vorschlag machen kann. Das schließt auch das Abhalten konstruktiver Friedensverhandlungen mit Russland aus. Angesichts der erst jüngst verabschiedeten Reihe neuer Sanktionen gegen die Ukraine sind sie jenseits realistischer Möglichkeiten.
Der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow lehnte die Aussicht auf bilaterale Friedensgespräche ab. Trotz der unstrittigen Beweise russischer Aggressionen gegenüber der Krim, im Donbass und vor kurzem auch im Schwarzen und Asowschen Meer ist Dmitri Peskow der Meinung, dass „zwischen der Ukraine und Russland kein Krieg herrscht, lediglich ein Bürgerkrieg in der Ukraine.“ Er hat die Aussicht auf ein Referendum damit abgetan, dass es sich hier eindeutig um eine „innere Angelegenheit“ handle. Selbst unter der Voraussetzung, dass Wolodomyr Selenskyj in der Lage wäre, ein Friedensabkommen mit Russland aufzusetzen, so bleibt die Aussicht, dieses durch ein Referendum bestätigen zu lassen, auf gefährliche Weise unvorhersehbar.
Eine derartige Vorgangsweise hat 1998 in Nordirland mit dem Referendum über die Karfreitagsabkommen gut funktioniert. Im Referendum von Kolumbien im Jahr 2016 wurden die Ergebnisse von vier Jahren Friedensverhandlungen allerdings durch eine winzige Mehrheit von Wählern einfach zunichte gemacht. Außerdem hat Wolodomyr Selenskyj vor, internationale Partner wie die Vereinigten Staaten an den Verhandlungen teilhaben zu lassen. Es ist alles andere als sicher, dass Washington bereit ist, diplomatisches Kapital in komplexe Verhandlungen zu investieren, damit danach möglicherweise die ukrainischen Wählerinnen und Wähler das daraus resultierende Ergebnis ablehnen.
Aktuell lässt sich Wolodomyr Selenskyjs Standpunkt durch zwei Hauptfaktoren erklären. Erstens wurden in den letzten Jahren mehrere Schritte in der Gesetzgebung zur Umsetzung der Minsker Verträge in der Werchowna Rada blockiert. Die Friedensverhandlungen befinden sich teilweise aufgrund des Widerstands der Gesetzgeber in einer Sackgasse. Zweitens befindet sich der Präsident vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 21. Juli noch immer im Wahlkampfmodus. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich seine Position zu Fragen dieser Art nach einer Neuformierung des Parlaments ändern kann, insbesondere, wenn Verhandlungen mit Russland sich nicht so entwickeln, wie er geplant hätte. Wolodomyr Selenskyj ist stolz darauf, die Bevölkerung der Ukraine in der Wahlkabine vereint zu haben. Aber es ist nur ein vorübergehender, ein zerbrechlicher Sieg. Unter den derzeitigen komplexen geopolitischen Gegebenheiten ist es möglicherweise am besten, weitere Spaltungen innerhalb der ukrainischen Gesellschaft zu vermeiden.
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