Alles ruhig an der Ostfront?
Ist der Rückzug von ukrainischen Truppen und Kämpfern der selbsternannten Volksrepublik Luhansk aus der Umgebung der Stadt Stanyzia Luhanska ein erster Schritt, um Frieden in der Ostukraine wiederherzustellen? Sébastien Gobert mit einer Analyse:
Unter der Statue einer Taube, die über den Erdball fliegt, steht geschrieben: „Stanyzja Luhanska – Herz des Friedens der Ukraine!“ Dieser Wunsch ist in den letzten Wochen sogar ziemlich wahr geworden. Der koordinierte Rückzug sowohl ukrainischer Truppen als auch der von russischer Seite unterstützten Kämpfer der selbsternannten Volksrepublik Luhansk (LNR) aus der Umgebung der Stadt ist eine historische Entwicklung. Seit dem 19. Juni herrscht Waffenstillstand. OSZE-Beobachter bestätigen, dass es sich um den längsten lokalen Waffenstillstand seit dem Ausbruch des Konflikts im Frühling 2014 handelt. Nach Aussagen des neuen ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj ist es eine einzigartige Möglichkeit, „die aktive Phase des Krieges zu beenden“. Derzeit ist es eine Erleichterung für die rund 10.000 Menschen, die täglich den Kontrollpunkt überqueren.
Derzeit entspannt sich die Situation im Osten der Ukraine etwas, weil die vereinbarte „Ruhe“ zur Erntezeit zuletzt zumindest kurzfristig eingehalten wurde, auch wenn sich jüngst die Meldungen, dass die vereinbarte Waffenruhe verletzt wurde, wieder häufen. Bewaffnete Auseinandesetzungen hat es in den letzten Wochen entlang der 400 Kilometer langen Kontaktlinie (wie die Frontlinie offiziell genannt wird) jedoch immer wieder gegeben. Mindestens fünf ukrainische Soldaten und ein Zivilist sind seit dem 1. Juli gestorben. Verluste auf Seiten der von Russland unterstützten Truppen sind nicht bestätigt. Präsident Selenskyj hält sich derzeit auch mit Versprechungen zurück, dass man „morgen Frieden schließen könne“.
Diese asymmetrische Situation zwischen dem Rückzug in Stanyzja Luhanska und verschärften Auseinandersetzungen an anderen Orten könnte potenziell in eine koordinierte Strategie zur Beendigung der Kämpfe entwickelt werden. Dennoch muss sie zunächst vor allem als Test für die neue ukrainische Führung verstanden werden. Der Versuch, eine Entspannung zu erreichen, entspricht auch der andauernden politischen Kampagne im Vorfeld der Wahlen am 21. Juli.
Die Entspannung der Lage ist ein direktes Resultat der Wahl Selenksyjs zum Präsidenten
Der Waffenstillstand der Stanyzja Luhanska wurde sehr lange verhandelt, nachdem der erste Versuch 2016 zu erhöhten Spannungen geführt hatte. Der aktuelle Rückzug ist ein direktes Resultat der Wahl von Wolodmyr Selenskyj zum Präsidenten. Es ist ein Teil seiner Erklärung, „die Kämpfe zu beenden“ sowie „die humanitären Bedingungen für die einheimische Bevölkerung zu verbessern“. Jede Verbesserung der Transitbedingungen in Stanyzja Luhanska ist tatsächlich willkommen. Die Brücke über den Siwerskyj Donez wurde bereits 2015 zerstört. Die Zivilbevölkerung muss über einige instabile Holzstufen auf- und abklettern. Die ukrainischen Behörden und die humanitären Organisationen haben Bänke und Rastplätze, Trinkwasserbrunnen sowie Räumlichkeiten für medizinische Versorgung und Toiletten gebaut. Dennoch ist der Übergang für die meisten Reisenden gefährlich: unterwegs sind Familien mit Kindern, Rentner und Menschen mit Behinderungen, die aus familiären Gründen reisen oder um in den von der Ukraine-kontrollierten Gebieten ihre Rente zu erhalten.
Der militärische Rückzug bietet eine einzigartige Chance für die Behörden vor Ort und internationale Partner-NGOs, um mit der Planung für den Wiederaufbau der Brücke zu beginnen. Die regionale Verwaltung der Ukraine hat außerdem die Idee geäußert, eine Buslinie zwischen den Kontrollpunkten einzurichten. Trotzdem ist der Waffenstillstand zerbrechlich. Jede der beiden Seiten fürchtet, dass der Feind voranschreiten könnte, um verlassene Positionen einzunehmen. Der Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung der Stanyzja Luhanska, Jurij Solkin, hat den Rückzug wiederholt als Sicherheitsrisiko für seine Stadt kritisiert. Diese Kritik äußern in Kyjiw auch Selenskyjs politische Gegner, die befürchten, dass die Ukraine ihre Stellungen aufgeben könnte. Die angespannte Situation entlang der Kontaktlinie beweist, dass keine der kriegsführenden Parteien bereit ist, ihre Waffen niederzulegen.
Russland erhöht den Druck auf die Ukraine seit den Präsidentschaftswahlen noch einmal
Unterdessen übt der Kreml seit der Wahl Wolodomyr Selenskyjs mehr Druck auf die Ukraine aus. Wladimir Putin hat neue Handels- und Energiesanktionen verhängt. Außerdem hat er ein vereinfachtes Einbürgerungsverfahren für die Bewohner der von Separatisten kontrollierten Gebiete zur Erlangung der russischen Staatsangehörigkeit eingeführt. Moskau verweigert die Freilassung der 24 ukrainischen Matrosen, die im November 2018 festgenommen wurden, obwohl der Internationale Seegerichtshof mit Sitz in Hamburg am 25. Mai anders entschieden hat. Obwohl die Tendenz für sich gesehen als positive Entwicklung in Richtung Frieden erscheint, dürfte es sich bei dem Rückzug in der Stanyzja Luhanska um ein sehr isoliertes Phänomen handeln.
Die Art und Weise, wie die neue ukrainische Führung auf diesen russischen Druck reagiert, während sie ihr Ziel von der Ausweitung des Waffenstillstands auf die gesamte, vom Krieg zerrüttete Region des Donbas verfolgt, wird den Kurs der Präsidentschaft Selenskyjs bestimmen. Da der Präsident einen neuerlichen Gipfel im „Normandie-Format“ einberufen möchte, muss er zu Wladimir Putins neuen Sanktionen und Forderungen Stellung beziehen. Andere Fälle sogenannter „eingefrorener Konflikte“ in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie etwa Transnistrien und Moldova, Abchasien und Südossetien in Georgien zeigen, dass der Kreml von sich aus kein Interesse an der vollständigen Beilegung dieser Konflikte hat. Vielmehr werden sie als Instrumente zur Beeinflussung der ehemaligen Satellitenstaaten Moskaus eingesetzt. Westliche Mächte konnten bisher in Moskau keine festen Zusagen für den Frieden erhalten. Im Fall des Donbas verlangt der russische Präsident, dass sich Wolodomyr Selenskyj direkt mit den selbsternannten Behörden in Donezk und Luhansk auseinandersetzt, was einer Verleugnung von Russlands Beteiligung am Krieg gleichzusetzen ist. Dennoch, wenn der ukrainische Präsident diesen Forderungen nicht nachkommt, hält der Waffenstillstand der Stanyzja Luhansk möglicherweise nicht mehr besonders lang.
Es ist offensichtlich, dass man sich nach den Wahlen am 21. Juli mit diesen Fragen auseinandersetzen muss. Die Zustimmung für Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ an den Wahlurnen wird zeigen, wie die Wähler das Friedenskonzept für den Donbas einschätzen. Deshalb muss man die Ergebnisse der vorgezogenen Neuwahlen und die Bildung einer neuen Regierung abwarten, um beurteilen zu können, ob Wolodomyr Selenskyj ausreichenden Rückhalt in der Bevölkerung für seine Ambitionen zum Frieden haben wird. Solange kann er nur einige örtlich beschränkte Experimente durchführen und einige Änderungen in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten umsetzen. Es wird mehr von Russlands Verhalten abhängen, denn von politischen Entwicklungen in Kyjiw, ob Friedensverhandlungen in Zukunft Erfolg haben werden.
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